Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 72
Alain de Botton: »Airport« (2009)

Berlin, 10. Juli 2013, 12:20 | von Josik

Nachdem der berühmte Twitterer Alain de Botton auf Einladung des Flughafenbetreibers eine Woche auf dem Flughafen Heathrow verbracht hat, um darüber ein hübsches Buch zu schreiben, hat er darüber dieses hübsche Buch geschrieben. Ich habe es neulich im IC 2151 gelesen und danach im ICE 1720 weitergelesen und war so vertieft in die Lektüre, dass ich beim Umsteigen versehentlich meine Schiebermütze liegengelassen habe. Aber es reißt einen eben unvermittelt in den Sog dieses Textes hinein, zumal de Botton in so einem potenziert poetischen Gumbrecht-Style schreibt. Man findet einfach alles, was er sagt, wunderschön, aber würde man hinterher gefragt werden, worum es in dem Buch denn eigentlich ging, wüsste man darauf natürlich keine Antwort. Alain de Bottons »Airport« enthält über 90 Fotografien vom Flughafen Heathrow, tatsächlich findet sich fast auf jeder einzelnen Seite ein prächtiges Foto. Diese Fotos sind wirklich sehr schön, und wer das Buch liest, dem kann ich nur empfehlen, auch den Anblick der sehr, sehr schönen Fotos zu genießen.

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Alain de Botton: Airport. Eine Woche in Heathrow. Aus dem Engl. von Bernhard Robben. Fotogr. von Richard Baker. Frankfurt/M.: S. Fischer 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 71
Heimito von Doderer: »Das letzte Abenteuer« (1953)

Paris, 10. Juni 2013, 20:21 | von Niwoabyl

Bei Fremdsprachen erinnert man sich immer gern, in welchem Buch man dieses oder jenes nicht so häufige Wort mal gelernt hat. Mir wären zum Beispiel ›Molch‹ und ›Lurch‹ ohne Heimito von Doderer sicher nicht so geläufig. Auch wäre ich nicht von der manischen Laune befallen, diese allerschönsten Wortschatzeroberungen möglichst oft im Gespräch unterzubringen, was sicherlich nicht gescheit aussieht. In Doderers Frühwerk »Ein Mord, den jeder begeht« ist nämlich Conrad, die Hauptfigur, seit der Kindheit von Molchen derart fasziniert, dass sie ihm zur Chiffre geheimer, unwiderstehlicher Leidenschaften werden und er, immer um sein seelisches Gleichgewicht besorgt, sich ständig davor fürchten muss, irgendwas würde ihm zum ›Molch‹ geraten.

Auch im Spätwerk »Die Wasserfälle von Slunj« kommen kleine bis winzige Wassertiere zum Vorschein, eine der Hauptfiguren lässt nach nur wenigen Seiten seine junge Ehefrau ungalanterweise stehen und kriecht auf allen Vieren, um Flusskrebse besser beobachten zu können. Im übrigen wird auch sonst in diesem Roman viel auf allen Vieren gekrochen, in einer der unfassbarsten Szenen vor einer kleinen elektrischen Modelleisenbahn. Darüber hinaus sind bei Doderer gottlob noch große, ganz normale Züge dabei, sowohl in den »Wasserfällen« als auch im »Mord«, wo Wagenabteil und Bahntunnel beinahe strudlhofstiegenmäßig zum Dreh- und Angelpunkt der ganzen Handlung werden.

Also hat es auch seine Richtigkeit, wenn Doderer neben dem immer wiederkehrenden Gewimmel wenigstens einen Erzähltext hinterlassen hat, in dem ein richtig dickes Tier vorkommt, und amüsanterweise geht es um eine Novelle von – für Doderer’sche Verhältnisse – geradezu mickrigen Ausmaßen. Allerdings macht er dann keine halben Sachen und entschädigt den an Wuchtigeres gewöhnten Leser durch eine wahnhaft gigantische Bestie, einen Drachen so groß wie ein Berg. Die Beschreibung liest sich auch wirklich schön, und es ist fast ein bisschen schade, dass dieser Höhepunkt schon so früh im Text erreicht wird.

Läuft ein solches Prachtexemplar frei umher, können Ritter, von der Âventiure gelockt, nicht lange auf sich warten lassen. Allerdings sind die Recken, wenn sie zum ersten Mal den Kopf des Monsters erblicken (mehr als der Kopf des Drachen passt bei Doderer beschreibungsmäßig natürlich nicht auf eine Buchseite), doch etwas verunsichert. Zum eigentlichen Kampf kann es unter diesen Umständen kaum noch kommen, und den Drachen lassen schwertzuckende Däumlinge eh kalt, wenn man so etwas bei einem Reptil sagen kann: »Vielleicht war er auch schon satt.«

Überhaupt zeigt Doderer wenig Interesse am Actionpotenzial eines Ritterromans, und auch das mit der Brautwerbung geht bei allzu empfindsamen Rittern nicht mehr so ruckzuck wie in heldenhafteren Zeiten. Dafür findet man im Text eine ganze Menge wunderschöne synästhetische Vergleiche, an denen sich die höfische Gesellschaft selbst mit großem Vergnügen beteiligt. Diskutiert wird zum Beispiel über die richtige Beschreibung für den eigentümlichen Geruch, den ein vom Drachenhaupt abgeschlagenes, bläulich schimmerndes Stück Horn verströmt, und das ist schließlich auch nicht schlecht.

Länge des Buches: ca. 137.000 Zeichen. – Ausgaben:

Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Erzählung. Mit einem autobiographischen Nachwort. Stuttgart: Reclam 1953.

Heimito von Doderer: Das letzte Abenteuer. Mit einem Nachwort von Martin Mosebach. München: C. H. Beck 2013. S. 7–97 (= 91 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 70
Fleur Jaeggy: »Die seligen Jahre der Züchtigung« (1989)

Berlin, 29. Mai 2013, 17:55 | von Josik

Direkt aufs Cover der Taschenbuchausgabe hat der Verlag folgenden Blurb von Joseph Brodsky gedruckt: »Dauer der Lektüre: etwa vier Stunden. Dauer der Erinnerung: der Rest des Lebens.« Was ersteres angeht, wollte ich mich einfach mal mit Brodsky messen, stellte also die Stoppuhr und fing ganz gemächlich an zu lesen, ohne Hast und ohne Eile. Natürlich traf mich fast der Schlag, als ich in dem »Momentum« (Ro­ger Willemsen), in dem ich das Buch zuklappte, sah, dass meine Lektüre bloß eine Stunde, dreiundfünfzig Minuten und vierunddreißig Sekunden gedauert hatte!

Brodsky scheint demnach ein sehr langsamer Leser gewesen zu sein. Doch wer weiß, womöglich las er, der ja bekanntlich unter Frühstücks­amnesie litt, diese wunderbare Schweizer Internatsgeschichte auch in ganz normalem Tempo, delektierte sich aber noch stundenlang an Formulierungen wie: »beim Frühstück nahm ich mir zwei oder drei Scheiben Brot mit Butter und Marmelade« (S. 24) und »das Frühstück war immer köstlich« (S. 16). Gegen Ende des Buches wird es dann eher nihilistisch, ein paar Jahre nach Schulabschluss besucht die Ich-Erzählerin ihre ehemalige Mitinternatsschülerin Frédérique in deren neuer Behausung und stellt fest: »Dieses Zimmer ist ein Konzept. Man weiß nicht wovon.« (S. 107)

Ein anderer schöner Schauplatz in dieser Novelle ist »die Konditorei von Teufen« (S. 27 und 28), wobei die Konditorei als solche hier erheblich besser wegkommt als z. B. in Rosa Luxemburgs Hundertseiter »Die Krise der Sozialdemokratie«, wo es gleich auf der ersten Seite heißt: »Vorbei ist […] das wogende Menschengedränge in den Konditoreien, wo ohrenbetäubende Musik und patriotische Gesänge die höchsten Wellen schlugen.« Die Fassung eines Satzes aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch der Schweiz, wie die Ich-Erzählerin in den »Seligen Jahren der Züchtigung« ihn zitiert, klingt hingegen ebenfalls makellos marxistisch: »›Der Besitzer einer Sache ist derjenige, der die tatsächliche Herrschaft über sie ausübt.‹« (S. 50)

Länge des Buches: ca. 136.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin: Berlin Verlag, 3. Auflage 1996. S. 3–120 (= 118 Textseiten).

Fleur Jaeggy: Die seligen Jahre der Züchtigung. Novelle. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Schaden. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2004.

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100-Seiten-Bücher – Teil 69
Alfred Andersch: »Der Vater eines Mörders« (1980)

Berlin, 25. Mai 2013, 15:58 | von Josik

»Eine Schulgeschichte« verspricht der Untertitel, und trotz dieses furchtbaren Themas geht’s ulkig los: Gleich auf den ersten Seiten taucht nämlich der Klassenbeste auf und man fragt sich, ob Alfred Andersch sich hier einen grotesken Scherz erlaubt hat, denn dieser Primus heißt doch tatsächlich Werner Schröter. Der Name dieses Werner Schröter klingt wirklich haargenau so wie der Name des berühmten Regisseurs Werner Schroeter. Andersch und Schroeter waren ja halbe Zeitgenossen, und als Schriftsteller benennt man seine Figuren doch wohl nicht ohne Grund nach einem Promi? Das gleiche kann man sich übrigens auch bei Vladimir Nabokov fragen, der in »Ada« an zwei Stellen eine Figur namens Norbert von Miller herumgeistern lässt – hier ist der Name also ebenfalls so gut wie gar nicht verfremdet, denn womöglich ist diese Figur nach Norbert Miller benannt. Norbert Miller selbst wiederum publizierte auch unter diversen Pseudonymen, etwa unter dem Namen Roderich Fuëß. Ein prominenter Namensvetter ist Roderich Reifenrath, der ehemalige Chefredakteur der »Frankfurter Rundschau«, also just jener Zeitung, die den größten Feuilletonskandal des Jahres 1976 entfachte. Damals nämlich ließ Alfred Andersch dort sein Gedicht »artikel 3 (3)« abdrucken, mit den berühmten Versen: »dem geht der / arsch mit grundeis«.

Länge des Buches: ca. 134.000 Zeichen. – Ausgaben:

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. Berlin; Weimar: Aufbau-Verlag 1981. S. 3–93 (= 91 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 68
Thomas De Quincey: »Die letzten Tage des Immanuel Kant« (1827/1854)

Berlin, 17. Mai 2013, 00:50 | von Josik

Thomas De Quincey ist ja vor allem durch seine Opiumbeichte bekannt, aber eigentlich noch besser ist dieses Büchlein über die letzten Tage des Immanuel Kant. Man muss natürlich nicht alles glauben, was hier behauptet wird, aber es liest sich eben sehr angenehm. Zum Beispiel: »Kant schwitzte niemals«. Oder auch: »Wenn immer jemand vorzeitig starb, pflegte Kant zu sagen: ›Er hat vermutlich Bier getrunken.‹ Oder wenn ein anderer unpäßlich war, fragte er mit Sicherheit: ›Trinkt er etwa Bier?‹«

Warum Kant hier ein derart extremer Bierhass untergeschoben wird, ist nicht recht ersichtlich. Der deutschen Ausgabe dieses Buches ist im Anhang noch eine kleine Abhandlung »Über den Schädel Kants« beigefügt, mit sehr interessanten Aufnahmen von Kants Totenkopfschädel – von vorne, von hinten und im Profil. Von hinten sieht Kants Totenkopfschädel ein wenig aus wie eine unförmige Kartoffel. Aber heute ist es ja sowieso wissenschaftlich erwiesen, dass diese ganze Schädelforschung oder Totenkopfschädelforschung, in die das 19. Jahrhundert so vernarrt war, völliger Quatsch ist.

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Thomas De Quincey: Die letzten Tage des Immanuel Kant. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Cornelia Langendorf. Mit Beiträgen von Fleur Jaeggy, Giorgio Manganelli und Albert Caraco sowie einem Anhang. München: Matthes & Seitz 1984.

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100-Seiten-Bücher – Teil 67
Carl Zuckmayer: »Henndorfer Pastorale« (1972)

Konstanz, 11. Mai 2013, 23:38 | von Mynaral

Was haben Frank Schirrmacher und Carl Zuckmayer gemeinsam? Richtig, den ausufernden Gebrauch von Gedankenstrichen. Während sie jedoch Schirrmacher in die Tiefen des Internets und der Finanzindustrie geleiten, folgen wir Zuckmayer nur in das Salzburger Hinterland, nach Henndorf am Wallersee. Es ist irgendwann Anfang der Siebzigerjahre und sehr, sehr heiß, »der heißeste Tag eines heißen Sommers«.

Vom Bürgermeister und anderen Honoratioren empfangen kommen Zuckmayer, seine Frau und eine gelöste Dorfgesellschaft an der Wiesmühl an, dem Wohnhaus, das die Familie 1938 Richtung Exil verlassen musste. Es folgen Spuk, Hochsommergewitter, Festlichkeit, Versöhnung und Erinnerung und damit das obligatorische Namedropping: Reinhardt, Werner Krauß, Jannings, Bruno Walter, Hauptmann, Zweig und Horváth gaben sich hier früher die Klinke in die Hand.

In dieser Zeit half Zuckmayer auch dem in Henndorf geborenen Schriftsteller Johannes Freumbichler dabei, mit seinem Bauernroman »Philomena Ellenhub« bei einem Wiener Verlag unterzukommen. Prompt gewann Freumbichler 1937 den Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreis und kaufte sich vom Preisgeld »einen Winterüberzieher vom Schneidermeister Janka und ein menschenwürdiges Geschirr«, wie sein größter Bewunderer und Enkel später berichtet, der damals allerdings noch sechsjährige Thomas Bernhard.

Während sich in der Wiesmühl die oben genannten berühmten Besucher einfanden, hatte der kleine Thomas noch beseelt mit den beiden Töchtern des Hauses gespielt und bekam »als Höhepunkt, neben allem anderen«, heiße Schokolade mit Schlagobers zu trinken. Eines Tages trat dann der so weißhaarige wie »berühmteste Schriftsteller seiner Zeit« ins Vorhaus und fragte: »Wo kann man denn hier Toilette machen?« Den kleinen Thomas hat das »ungemein beeindruckt«.

Länge des Buches: ca. 104.000 Zeichen. – Ausgaben:

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. Zeichnungen von Clemens Holzmeister. Salzburg: Residenz Verlag 1972. S. 3–119 (= 117 Text­seiten, davon 10 Seiten mit Zeichnungen und 10 Leerseiten).

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. In: Carl Zuckmayer. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer. Band: Die Fastnachtsbeichte. Erzählungen 1938–1972. Frankfurt/M.: S. Fischer 1996. S. 311–362 (= 52 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 66
Pearl S. Buck: »Die Frau, die sich wandelt« (1937)

Berlin, 8. Mai 2013, 12:29 | von Josik

Als Doris Lessing im Jahr 2007 der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, sagte sie: »I’m 88 years old and they can’t give the Nobel to someone who’s dead, so I think they were probably thinking they’d probably better give it to me now before I’ve popped off.« Als im Jahr 1938 beratschlagt wurde, wer mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden soll, war Hermann Hesse zum zweiten Mal nominiert. Abgesahnt hat ihn dann aber, im jugendlichen Alter von 46 Jahren, Pearl Sydenstricker Buck, die kein einziger Buchmacher überhaupt auf dem Zettel hatte und von der im Nobelpreiskomitee noch nie zuvor die Rede war. Dies führte dort zur Lex Pearl S. Buck, wonach fortan nie wieder jemand sofort bereits bei der Erstnominierung literaturnobelausgepreist werden darf.

Pearl S. Buck jedenfalls musste nun niemandem mehr etwas beweisen und konnte nach 1938 machen, was sie wollte. Deshalb hat sie dann auch den Hundertseiter »The Woman who was changed« geschrieben, ein Buch, das sämtliche Ingredienzien für einen Bestseller, Topseller und Longseller enthält und das unbedingt wieder neu aufgelegt werden sollte. Es muss ja nicht unbedingt unter dem ambitionierten Titel »Die Frau, die sich wandelt« sein. Die aus dem Fernsehen bekannte Schriftstellerin Christine Westermann gab einem ihrer Romane den etwas eingängigeren Titel: »Baby, wann heiratest du mich?« Lustigerweise ist dieser Christine-Westermann-Titel auch schon die komplette Inhaltsangabe des beliebten Buckbuchs.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Pearl S. Buck: Die Frau, die sich wandelt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anke Schmidt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989. S. 5–107 (= 103 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 65
Peter Bichsel: »Cherubin Hammer und Cherubin Hammer« (1999)

Berlin, 4. Mai 2013, 18:08 | von Josik

In Peter Bichsels »Cherubin Hammer und Cherubin Hammer« geht es (wie der Name schon sagt oder wie die Namen schon sagen) um die Geschichte von Cherubin Hammer und um die Geschichte von Cherubin Hammer. Obwohl es sich um einen erzählerischen Text handelt (»den zweitlängsten Erzähltext des Autors«), ist er mit insgesamt 54 Fuß­noten durchsetzt, die aber nicht weiter stören.

In Fußnote 2, in Fußnote 41 und in Fußnote 53 ist vom Zürcher »Tages Anzeiger« die Rede, im Volksmund auch ›Tagi‹ genannt. In Fußnote 2 und in Fußnote 53 ist sogar, noch präziser, von der Seite 14 des »Tages Anzeiger« die Rede. Wäre darüber hinaus auch noch in Fußnote 41 von der Seite 14 des »Tages Anzeiger« die Rede, so könnte man glatt sagen, dass in diesem Buch nicht nur der »Tages Anzeiger« als solcher, sondern eben die Seite 14 des »Tages Anzeiger« ein Leitmotiv ist.

Als Cherubin Hammer dann gefragt wird, wie er denn dazu gekommen sei, zu sagen, dass auf Seite 14 des »Tages Anzeigers« etwas stehe, das unbedingt gelesen werden solle, antwortet er (in Fußnote 2): »Ich habe es nicht verstanden, da habe ich mir gedacht, es könnte etwas für dich sein.«

Irgendwie kam mir das alles sehr wunderlich vor, deshalb bin ich neulich, am Karfreitag, extra zum Hauptbahnhof gefahren in der Absicht, den »Tages Anzeiger« käuflich zu erwerben und dann mal nachzukucken, ob die Seite 14 denn wirklich so schwer verständlich ist? Dummerweise war der »Tages Anzeiger« aber schon ausverkauft bzw. an der Kasse konnten sie mir auch gar nicht sagen, ob er denn an normalen Tagen (Nichtfeiertagen) erhältlich ist.

Ersatzhalber bin ich jetzt wenigstens auf die Homepage des »Tages Anzeiger« gegangen und habe mir die Startseite komplett durchgelesen und, ja!, tatsächlich!, es gibt dort ein (1) Wort, das nicht auf Anhieb verständlich ist: »Schnitzelbank-Opfer«.

Länge des Buches: ca. 138.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. S. 5–109 (= 105 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 64
Paul Watzlawick: »Anleitung zum Unglücklichsein« (1983)

Leipzig, 3. Mai 2013, 00:20 | von Paco

Mein Exemplar kommt aus dem Antiquariat und schon auf Seite 7 ist ein Wort angestrichen: »altruistischen«. Neben der Zeile steht dann ein krakeliges Fragezeichen. Auf den nächsten Seiten geht das so weiter, per Bleistiftstrich und Fragezeichen sind folgende weitere Einzelwörter angemarkert: »Upanischaden«, »Aphorismus«, »sublimes«, »eminent«, »Insinuation«. Das letztgenannte Wort steht auf Seite 25. Offenbar war der unbekannte Vorbesitzer des Buches dann so unglücklich über Watzlawicks abundierenden Fremdwortgebrauch, dass er gar nicht weitergelesen hat.

Das Ganze erinnerte mich an Adornos berühmten Aufsatz »Wörter aus der Fremde«, der so beginnt: »Zum ersten Male seit meiner Jugend haben mich Protestbriefe wegen des angeblich übertriebenen Gebrauchs von Fremdwörtern nach der Radiosendung der Kleinen Proust-Kommentare erreicht. Ich sah das Gesprochene daraufhin durch und fand gar keinen besonderen Aufwand an Fremdwörtern darin«. Im Folgenden verteidigt Adorno dann seine Benutzung der Fremdwörter »suspendiert«, »Disparatheit«, »designiert«, »ratifizieren«, »imagines«, »Soirée«, »Sexus«, »society-Leute«, »kontingent«, »Spontaneität« und »Authentizität«.

Von Watzlawick gibt es keine solche Rechtfertigung, er hat sich an keiner Stelle dafür entschuldigt, dass er statt »Sinnspruch« »Aphorismus«, statt »fein« »sublim« oder statt »herausragend« »eminent« geschrieben hat. Ein Best- und Longseller ist sein Buch trotzdem geworden, zuletzt wurde es sogar noch verfilmt. Adornos »Kleine Proust-Kommentare« und sein Fremdwörter-Essay wurden hingegen nur im Radio übertragen.

Länge des Buches: ca. 118.000 Zeichen. – Ausgaben:

Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper, 31. Auflage 1990. S. 9–128 (= 120 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 63
Stefan Zweig: »Schachnovelle« (1942)

Solingen, 30. April 2013, 19:23 | von Bonaventura

Besonders unter jenen, die den Springer gewöhnlich Pferd nennen, hält sich anscheinend hartnäckig das Gerücht, es handele sich bei Stefan Zweigs »Die Schachnovelle« um eine überzeugende literarische Gestaltung des leidenschaftlichen Schachspielers und seiner Psychologie. Geadelt wird dieses vorgebliche psychologische Kabinettstückchen durch die politische Kulisse, vor der es vorgeführt wird und dessen Opfer nicht nur jener geheimnisvolle Dr. B., sondern auch der Autor selbst war, der über der Veröffentlichung des Stücks im Exil verstorben ist.

Schaut man sich diese Kulisse auch nur für einen Moment kritisch an, so wird man sich kaum dem Urteil entziehen können, dass es sich bei diesem Hundertseiter um eine der am schlechtesten erfundenen Fabeln der sogenannten Weltliteratur handelt. Statt Dr. B. in einen Kerker zu werfen, ihn physischer Folter auszusetzen und ihn schließlich in einem KZ verkommen zu lassen, quartieren ihn die Nazis in einem Hotelzimmer ein, erlauben ihm den Diebstahl und die Lektüre einer Sammlung von Schachpartien, um ihn schließlich als Zeugen ihrer grausamen Praktiken ins Ausland reisen zu lassen.

Viel schlimmer aber ist die Küchenpsychologie des Schachspielers: Nicht nur beweist Stefan Zweig bei der Darstellung Dr. B.s, dass er keinen Schimmer hat, welche Leistung tatsächlich hinter dem Konkurrieren mit der schachlichen Weltspitze steckt, sondern er schreibt dem angeblichen Weltmeister Czentovic auch noch eine Schwäche der Vorstellungskraft zu, die es ihm faktisch unmöglich machen würde, auch nur eine einzige Variante zu berechnen, geschweige denn eine ganze Partie zu spielen.

Aber der ganze Rest ist sicherlich großartig!

(Langfassung dieses Textes hier.)

Länge des Buches: ca. 122.000 Zeichen. – Ausgaben:

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Frankfurt/M.:] S. Fischer 1961. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

Stefan Zweig: Schachnovelle. [Originalfassung Buenos Aires 1942 in der Reihe »Bibliothek der Erstausgaben«.] München: dtv 2013.

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