Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 62
Anna Seghers: »Aufstand der Fischer von St. Barbara« (1928)

Berlin, 23. April 2013, 13:12 | von Josik

Bereits im ersten Satz wird verraten, wie diese Geschichte ausgeht. Wem es reicht, die Auflösung zu erfahren, der kann also das Buch nach dem ersten Satz wieder zuklappen. Wer aber wissen will, wie es zu diesem Ende gekommen ist, der sollte auch den Rest noch lesen – zumal es sich um Anna Seghers’ erstes Buch handelt, für welches ihr, dank Hans Henny Jahnn, auch gleich der Kleist-Preis zuerkannt wurde. Ein paar Jahre später hat Erwin Piscator in der Sowjetunion dieses Büchel sogar verfilmt.

Wenn man nur den Film kuckt, verpasst man aber die ausdrucks­starken literarischen Vergleiche, die Anna Seghers in ihrem Buch abfeuert: »wie die Platten einer ungeheuren hydraulischen Presse« (S. 8), »[w]ie der Zeigefinger einer ausgestreckten Hand« (S. 8), »wie ein Kind, das seine Mutter im Dunkeln wiedererkennt« (S. 8), »wie die geschweiften Schwingen zweier in der Luft ruhenden Vögel« (S. 21), »wie ein Knorz von einer dünnen Wurzel« (S. 22), »wie ein an einem Riemen befestigtes Bleigewicht« (S. 53), »wie ein Kassenschrank« (S. 73). Usw. usw.

Piscator war ja schon in den 20er-Jahren in der »Künstlerhilfe für die Hungernden in Rußland« aktiv und richtete auch einmal eine Anfrage an, wie er ihn nannte, »Herrn Karl Krauss« (Fackel Nr. 759–765, S. 60). Woraufhin Kraus sachlich feststellte, dass Piscator »meinem Namen das zweite s appliziert hat, das dem seinen freilich eher gebührte« (ebd., S. 68).

Länge des Buches: ca. 171.000 Zeichen. – Ausgaben:

Anna Seghers: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Weimar: Kiepenheuer 1947. S. 5–108 (= 104 Textseiten).

Anna Seghers: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Berlin: Aufbau-Verlag 2002 (= Werkausgabe. Das erzählerische Werk I/1.1). S. 3–93 (= 91 Textseiten).

Anna Seghers: Aufstand der Fischer von St. Barbara. Erzählung [laut Stephan Hermlin aber ein »Roman«!]. Mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 4. Auflage 2011. S. 3–109 (= 107 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 61
Adolfo Bioy Casares: »Morels Erfindung« (1940)

Paris, 16. April 2013, 22:22 | von Niwoabyl

Ich wollte das Büchlein schon seit Ewigkeiten lesen, weil ich mal irgendwo gehört hatte, dort hätten sich Resnais und Robbe-Grillet für »L’Année dernière à Marienbad« bedient. Der Film ist ein großartig verkopftes kryptisches Wunder, und als Orgelmusikfanatiker muss ich ihn einfach als einen meiner Lieblingsfilme betrachten. Außerdem hat mal der liebe Deleuze in einer seiner Vorlesungen mit ihm ein ziemlich grandioses theoretisches Spektakel angerichtet, indem er das Zerwürfnis zwischen Autor und Regisseur auf verschiedene Auffassungen von Zeit und Gedächtnis, mithin auf verschiedene interpretatorische Möglichkeiten zurückführte.

Allein die Idee, gerade wenn man sich nicht einig sei, könne man zusammen ein Meisterwerk aushecken, ist faszinierend; das sieht man auch bei Robert Bresson: Ein mystischer Regisseur verfilmt eine grausame Erzählung aus der Feder eines notorischen Freidenkers, arbeitet dafür mit lauter Filmstars zusammen, mit denen er sich extrem schlecht versteht, am Ende sind alle stinksauer, der Autor dreht sich wie wild im Grabe um, und schon hat man den Film der Filme.

Immerhin hat es richtig gefunkt zwischen Borges und Bioy Casares, eigentlich so gut, dass vielen Bioy Casares nur deswegen überhaupt ein Begriff ist. Selbst auf dem Cover meiner libro-de-bolsillo-Ausgabe vom gemeinsamen Buch »Seis problemas para don Isidro Parodi« steht Bioy Casares‘ Name kleiner gedruckt als Borges‘. Frechheit! Und Borges‘ berühmtes Vorwort für »Morels Erfindung« klingt, hat man die Geschichte gelesen, wie üble Vereinnahmung. Was hat diese lahme Polemik gegen psychologische Prosa und für den Abenteuerroman denn hier zu suchen? Wenn das kleine Buch ein Abenteuerroman ist, dann einer von der wirklich beschaulich-lyrischen Sorte. Robinson-Crusoe-Situation, Science-Fiction-Anklänge und HG-Wells-Anspielungen hin oder her: Wer auch nur die wunderbaren ersten und letzten Paar Sätze gelesen hat, weiß schon Bescheid: Die Grundstimmung ist elegisch.

Obwohl die Beziehung zum Marienbad-Film keine unmittelbare ist, hat das Buch sehr viel mit dem Kino zu tun, auf fantasmagorisch-surreale Weise, und ist in dieser Hinsicht wie eine Weiterentwicklung von Jules Vernes »Karpathenschloss«. Deswegen sollte man eben der Versuchung widerstehen, es zu verfilmen. Viel schöner wäre nämlich, Bioy Casares‘ technisch-moderne Schattenwelt dorthin zu überführen, wo er eigentlich hingehört: in die Ästhetik der Barockoper. Morel würde sich in der Gesellschaft von Ariostos Zauberinnen sicher geborgen fühlen, und im Falle nicht verlässlichen Zaubers wäre er ihnen auch nicht der schlechteste Berater.

Länge des Buches: ca. 176.000 Zeichen (Haefs-Übersetzung). – Ausgaben:

Adolfo Bioy-Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus d. Span. übers. von Karl August Horst. Mit e. Nachw. von Jorge Luis Borges. München: Nymphenburger Verl.-Handl. 1965.

Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung. Roman. Aus dem Span. von Gisbert Haefs. Mit einem Nachw. von René Strien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003.

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 6):
»Überlebnis« (2008)

Berlin, 13. April 2013, 09:40 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 60)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Gleich auf der ersten Seite taucht der »Spielspieler« auf, und wer sich hier an eine so wunderbare Wortschöpfung wie den Sat.1-Filmfilm erinnert fühlt, liegt genau richtig. Schon auf der zweiten Seite nämlich sind irgendwelche Leute dann von etwas »überweltigt«, und auch im folgenden zeugt dieses Werk trotz seiner ernsten Thematik von einem derart beseelten Sprachwitz, wie er wohl nicht mal Dieter Nuhr bzw. Hildebrandt zu eigen ist. In das hinreißende Wort »Muttergottesgeil­heit« (S. 132) scheint Ulla Berkéwicz selbst ganz vernarrt zu sein, tauchte die »Muttergottesgeilheit« doch bereits in dem großen Essay »Vielleicht werden wir ja verrückt« auf (2009, S. 18).

Ich habe das Buch in einem Rutsch ausgelesen, nur einmal musste ich kurz innehalten. Da beschreibt die Erzählerin, was sie in ihrer Handtasche hat: »den Lader für das Handy, zwei Päckchen Zigaretten, zwei Tüten Pfefferminzbonbons, Geld, Ausweis, Kamm und Lippenstift« (S. 60). Vielleicht können sich ältere Leser noch erinnern: Sagte man damals, als Handys aufkamen, ›Lader‹? Hoffentlich! Denn es ist ja in der Tat nicht einzusehen, warum das hässliche, kalte, technizistische, umständliche, pfuiteuflische ›Ladegerät‹ oder gar ›Aufladegerät‹ sich überhaupt durchgesetzt hat gegenüber dem zehntausendmal schöneren, farbigeren, sinnvolleren, poetischeren und auch kompakteren ›Lader‹. Nicht zuletzt deshalb ist die Lektüre von »Überlebnis« unbedingt zu empfehlen.

Länge des Buches: ca. 157.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Überlebnis. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008. S. 5–139 (= 135 Textseiten).

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 5):
»Vielleicht werden wir ja verrückt« (2002)

Berlin, 12. April 2013, 08:20 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 59)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Der Essay »Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus«, wohl kurz nach dem 11. September 2001 entstanden, ist ohne jeden Zweifel Ulla Berkéwiczs Meisterwerk. Nicht nur, weil man hier als Leser sein medizinisches Vokabular ungemein erweitern kann (ich hatte z. B. nicht gewusst, was auf S. 101 der 2009er Ausgabe »gangränös« bedeutet, weiß es aber nun, nachdem ich im Duden nachgeschlagen habe: »brandig«), sondern auch weil Ulla Berkéwicz hier zu ihrer mundartlichen Hochform aufläuft: Da »haut der Vadder aufn Tisch, haut die Omma aufn Kopp, haut der Oppa übers Ohr« (S. 100), und an einer anderen Stelle heißt es: »die Schmidtys […] meinen, man könne sich eben nun ma nich dümmer stellen, als man nun ma eben nun ma is« (S. 12).

Einen abendfüllenden Disput wäre sicherlich auch diese Passage wert: »Die Mischung aus Koran und Schießübungen mitsamt dem gemeinsamen Haschischgenuß […] bringen […] jede ›Blutige Braut‹ um den Verstand, und die spirituellen Energien, die durch die Verknüpfung von Moschee und Terror die Glut entfachen, die ihren sozialistischen Vorkämpfern nicht mal in Gedanken an die Eier von Che Guevara in den Sinn gekommen wären, um den freien Willen.« (S. 40f.) In der Tat streitwürdig! Ich selbst halte es nicht für ausgemacht, dass die Mischung aus Koran, Schießübungen und Haschisch spirituelle Energien um deren freien Willen bringt, einfach weil ich bezweifle, dass spirituelle Energien einen freien Willen haben – aber da gibt es sicherlich auch gute und beste Argumente dagegen.

Herausragend dann wieder dieser einprägsame Kinderreim, den Ulla Berkéwicz vielleicht sogar selbst gedichtet hat: »›Gott ist tott und alle fott, / durch die Wüste, tocka hott.‹« (S. 120) Um nun aber wieder zu den Moscheen zurückzukommen: Gegen Ende des Buches schildert Ulla Berkéwicz sehr plastisch die Inneneinrichtung einer Moschee hinterm Frankfurter Hauptbahnhof, und wir erfahren, dass die dortigen Kristalllüster von Woolworth stammen! (S. 108f.)

An einer anderen Stelle kommt sie auf Hitler zu sprechen: »[A]ls er«, heißt es da, »1938 in die Lautsprecher des Reichstags brüllte: ›Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge‹, jubelte eine ganze Nation ihm zu« (S. 21). Man versetze sich einmal in das Jahr 1938 zurück, in den damaligen Reichstag, und man wird tatsächlich vieles für möglich halten – auch dass Hitler den besagten Satz in die Lautsprecher des Reichstags brüllte.

Sätze in einen Lautsprecher brüllen ist eine für Choleriker womöglich charakteristische Verhaltensweise. Aber eine merkwürdige Vorstellung bleibt es doch trotz alledem: Brüllte Hitler diesen Satz wirklich in die Lautsprecher des Reichstags? Hitler stand doch vermutlich eher am Rednerpult und brüllte in das Mikrofon, und die Lautsprecher werden dieses Gebrüll dann übertragen haben. Diese Lautsprecher hingen ja weiß Gott wo, schätzungsweise irgendwo hoch oben an den Wänden. Hitler wird sich doch wohl kaum die Mühe gemacht haben, den Weg zu den Lautsprechern zurückzulegen, im Reichstag die Wände hochzukraxeln und dann in diese Lautsprecher hineinzubrüllen. Zumal das ja auch völlig sinnlos gewesen wäre, denn wenn man in einen Lautsprecher hineinbrüllt, erreicht man mit seinem Gebrüll natürlich viel, viel weniger Leute, als wenn man in ein angeschaltetes Mikrofon hineinbrüllt.

Aber noch einmal: Vorstellbar ist es auf jeden Fall schon, dass Hitler, wie Ulla Berkéwicz schreibt, den Satz »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge« brüllte. Denn natürlich traut man Hitler auch sofort zu, einen solchen grammatikalischen Schmus fabriziert zu haben. Indes: Sprach er, auch wenn er zugegebenermaßen aus Österreich stammte, wirklich so schlecht deutsch? In dem zitierten Satz ist ja nicht klar, worauf das Pronomen seine sich bezieht. Das einzige Wort, auf das es sich in diesem Satz logischerweise beziehen könnte, ist Bestimmung, aber Bestimmung ist ja nun mal weiblich. Folglich dürfte es nicht seine Werkzeuge, sondern müsste ihre Werkzeuge heißen.

Sechs Jahre nach Erscheinen des Buches »Vielleicht werden wir ja verrückt« diente der zitierte Hitler-Satz Ulla Berkéwicz in einer Rede, die sie anlässlich des großen Erfolgs von »Hammerstein oder Der Eigensinn« vor Hans Magnus Enzensberger, 135 Mitgliedern der Familie Hammerstein und weiterem Publikum hielt, als Exordium; nunmehr aber fügte sie dem Zitat eine merkwürdige Frage hinzu. Sie sagte nämlich: »Als Hitler 1938 in die Lautsprecher des Reichstags brüllte: ›Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts als seine Werkzeuge‹, jubelte eine ganze Nation – oder nicht?« Warum dieses nachgeschobene »oder nicht«? Man weiß es nicht. Man weiß eigentlich nur, dass der Satz im Standardwerk von Max Domarus: »Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem deutschen Zeitgenossen«, I. Band: Triumph (1932–1938), Copyright 1962 by Dr. Max Domarus, Würzburg, Gesamtherstellung und Auslieferung: Verlagsdruckerei Schmidt, Neustadt a. d. Aisch, auf S. 849, dort zitiert nach dem ›Völkischen Beobachter‹ Nr. 101 vom 11.4.1938, wie folgt wiedergegeben wird: »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts anderes als ihre Werkzeuge.«

Hitler war schon monströs genug, man muss ihm gar nicht unbedingt noch einen grammatikalischen Lapsus unterjubeln, der ihm womöglich nie unterlaufen ist. Man kann natürlich auch Hans Magnus Enzensberger, dem dieser Hitler-Lapsus aufgefallen sein dürfte, verstehen, dass er nach dieser Rede Ulla Berkéwicz gentleman-like sicherlich nicht korrigiert haben wird. Sowieso gehört es, wie ich bezeugen kann, zu den unangenehmsten Gefühlen überhaupt, die einen im Laufe des Lebens so überkommen, ausgerechnet Hitler gegen Ulla Berkéwicz in Schutz nehmen zu müssen.

Es ist bei alledem ja noch immer nicht ausgeschlossen, dass Ulla Berkéwicz, die in ihrem Buch »Vielleicht werden wir ja verrückt« keine Quelle für ihr Hitler-Zitat angibt, sich auf eine ganz andere Quelle gestützt hat als auf Max Domarus und dass sie nach der von ihr benutzten Quelle durchaus korrekt zitiert. Nach der von mir benutzten Quelle hat sich dann jedenfalls auch das Reichstagsproblem in Wohlgefallen bzw. in Luft aufgelöst, denn wie Domarus auf S. 848 schreibt, hat Hitler den Satz »Es gibt eine höhere Bestimmung, und wir alle sind nichts anderes als ihre Werkzeuge« ohnehin nicht im Reichstag, sondern, am Abend des 9. April 1938, in der Halle des Wiener Nordwestbahnhofs gesprochen. Der Satz stammt, Domarus zufolge, aus der letzten Wahlrede, die Hitler vor der Volksabstimmung über den sogenannten Anschluss Österreichs gehalten hat.

Übrigens darf man dieses eventuelle Fehlzitat natürlich nicht überbewerten, es handelt sich bei den hier konstatierten Abweichungen letztlich ja sowieso bloß um Pipifax. Man sollte auch nicht vergessen, dass Ulla Berkéwicz keine gelernte Historikerin ist, sondern gelernte Schauspielerin, dass immerhin das von ihr angegebene Jahr 1938 stimmt, und dass sie auf der Bühne einen Text, in dem der besagte Satz, ob nun in der Adolf-Hitler-Fassung oder in der Ulla-Berkéwicz-Fassung, vorkommt, sicherlich in einer Weise rezitieren könnte, dass es dem Publikum kalte Schauer über den Rücken jagt.

Länge des Buches: ca. 168.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002.

Ulla Berkéwicz: Vielleicht werden wir ja verrückt. Eine Orientierung in vergleichendem Fanatismus. Frankfurt/M.: Verlag der Weltreligionen 2009. S. 7–122 (= 116 Textseiten).

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 4):
»Zimzum« (1997)

Berlin, 11. April 2013, 09:20 | von Göttke

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 58)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Als ich die Pan Am Lounge am Mittwochabend verließ, sah ich vor dem Europa-Center Philipp Rösler in seinen Mercedes steigen. Mir fiel wie so oft in letzter Zeit ein Satz aus Ulla Berkéwiczs »Zimzum« ein: »Timing ist alles« (S. 18). Den sich daran anschließenden Satz »Ärzte sind musikalisch wie Juristen« (S. 37) schüttelte ich ab und wurde unterdessen beinahe von einem Radfahrer mit Megaphon und Trillerpfeife überfahren.

Er brüllte mir ein megaphones »Tot, tot« »Platt, Platt« (S. 56 und 57) entgegen und schien mein etwas klägliches »Und dann und dann.« (S. 28) gar nicht wahrzunehmen. Perplex blieb ich stehen und begriff, während mir ein Kind ins Bein biss und türmte (vgl. S. 57), dass ich diese Berkéwicz’schen Satzfetzen loswerden müsse, da sie sonst noch meine gesamte Hundertseiterbesprechung viel zu unorthodox »zuerinnern« würden (vgl. S. 118):

»Er (…) hat alle Dinge aus dem Nichts gemacht, und dasselbe Nichts ist Er selber, und wo Er selber nicht mehr ist, weil Er sich von sich selber auf sich selbst zurückgezogen hat, sind wir. Er (…) hat den Zimzum gemacht, Er hat sich in sich selbst verschränkt, um Raum für uns zu machen, Leerraum.« (S. 104)

Mit diesen Worten erklärt die im Sterben liegende Großmutter der Erzählerin Berkéwiczs Buchtitel. Der »Leerraum« und das »Nichts« werden von der Erzählerin mit und an ihren drei Freundinnen (rothaarige Tänzerin, Kopf zuckende Schauspielerin, Journalistin/Lieblingsfreundin) und drei Freunden (Arzt, Regisseur/Lieblingsfreund, Physiker) im Urlaub eingehend erläutert:

»Da ist nichts, sagt die Freundin, sieht einen an und hält sich den Kopf.
Nur Mangel, sagt der Lieblingsfreund, sieht einen an und stöhnt.
Heiße Materie, durch Implosion in Nichts verpufft, sagt der Physikfreund und stöhnt mit.
Quod erat demonstrandum, sagt der Arztfreund und stößt einem in die Weichteile.
Vorsicht, fährt der Physikfreund dazwischen, die Leere ist neutral, ein Fitz zuviel Materie, und sie verzerrt sich, ein Fatz zuviel Antimaterie, und sie bricht zusammen.
Das Vakuum beginnt zu schmelzen, ruft die Lieblingsfreundin von der Stuhlkante.
Schmilzt, stöhnt der Lieblingsfreund.
Und was, um Gotteswillen, bleibt uns noch, fragt die Freundin und hält sich den Kopf.
Ein Sommerloch, sagt die Rothaarige und starrt aufs Meer.« (S. 53f.)

In »Zimzum« geht es um alles und »[t]odsicher ist nur Zyankali mit Mundschuß« (S. 78).

Länge des Buches: ca. 108.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Zimzum. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. S. 5–122 (= 118 Textseiten).

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 3):
»Mordad« (1995)

Berlin, 10. April 2013, 09:30 | von Montúfar

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 57)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Ich musste die Erzählung »Mordad« (1995) von Ulla Berkéwicz im Stehen lesen. Ich hatte den ganzen Tag in der Kippenberger-Ausstellung verbracht und missglückte Kreuze und vieles andere mehr angestaunt. Dabei hatte ich die Unwirtlichkeit des Bodens im Hamburger Bahnhof völlig unterschätzt und mir furchtbare Rückenschmerzen zugezogen. Das tat dem Buch aber keinen Abbruch. Zwar kommt in ihm kein Maler vor, sondern nur ein Bildhauer, aber diese Transferleistung konnte ich als Leser problemlos erbringen.

Dieser Bildhauer nun ist Teil einer schrecklichen Nachbarschaft in einem Hamburger Villenviertel. Die Erzählerin gerät durch Zufall in diese Gegend, eigentlich kommt sie aus Berlin, möchte aber in Hamburg ihre Schreibblockade überwinden. Sie bemerkt schnell, dass ihre Nachbarn sich untereinander nicht ausstehen können, teilweise sogar gegeneinander Prozesse führen, in die die Erzählerin erst als Angeklagte und dann als Zeugin hineingezogen wird. Das, eine widerspenstige Gartentüre und eine Nachbarin, die die ganze Nacht über Liszts »Csárdás Macabre« spielt (ein wirklich nerviges Stück), tragen nicht gerade zur Überwindung der Schreibblockade bei.

Die Erzählerin befürchtet, dass »der Zweifel […] vielleicht Stürmergestalt annehmen und meinen Schreibplan mit einem Freistoß aus dem Feld kicken würde, so daß ich den eigenen dünnen Faden endgültig loslassen und meine leere Spule zurückrollen müßte in den festen Rahmen geliehener Geschichten« (S. 23). Es ist schier atemberaubend, wie die schreibgehemmte Erzählerin hier die Bildlichkeit von Fußball und Nähen ineinanderfließen lässt und so die Trennung der Geschlechterstereotype ins Wanken bringt. Was inzwischen im Literaturbetrieb für knallige Medienaufmerksamkeit herhalten musste, ist hier schon Literatur geworden.

Um sich aus diesem stofflichen Abseits zu befreien, holt sich die Erzählerin – ohne es zuzugeben – Hilfe bei einem anderen großen 100-Seiten-Autor. Wie Peter Handke im »Versuch über die Jukebox« sucht sie sich einen kleinen Schreibtisch an einem Fenster und spitzt ihre Stifte. Während aber Handke sie aus dem Fenster heraus spitzt und den davonfliegenden »Bleistiftgirlanden« hinterherschaut, bleibt der Verbleib der Spitzreste bei Berkéwicz offen. Dafür lagert sie ihre Stifte ordentlich in einem Wasserglas (S. 20), Handke hingegen »benützte seine Bleistifte auch zum Befestigen des Vorhangs in den Fensterritzen«.

Handke beendete seine Schreibblockade bekanntermaßen durch ausführliche Spaziergänge auf der kastilischen Hochebene rund um das Dorf Soria. Das geht Ulla Berkéwicz entschieden zu langsam. Sie schreibt gewissermaßen einen Handke für Eilige und lässt ihre Erzählerin durch den Hamburger Vorort fast ausschließlich rennen oder zumindest gehetzt gehen. Dadurch hat die Erzählerin plötzlich eine Einsicht in die Zeitstruktur des Schreibens, eine Einsicht, »daß da noch mehr läuft«:

»Der Stift in meiner Hand, als wollte er kritzeln, gedankenlos, wie manche das beim Denken tun, Gedankenkritzeleien, Unterkritzelungen von Genauigkeitsgedanken, fing an, über die leere rechte Seite meines Ringbuchs, die neben der linken, auf die ich das Wort Kun geschrieben hatte, eingeheftet war, eine Linie zu ziehen, von rechts nach links, mitten durch die Blattmitte durch, eine Zeitlinie, horizontal, so wie gewohnt, die ohne Knacks und Krümmung pfeilgeradeaus verlief, setzte zu einer zweiten Linie an, Blattmitte oben, zog die, rechtwinklig zu der ersten, als Gegenzeit nach unten Mitte durch, genauso pfeilgerade wie die erste, und eine dritte aus der linken Seitenecke unten, fuhr schräg nach oben in die rechte Ecke ab, und eine vierte schoß von oben links nach unten rechts, und alle vier trafen in der Blattmitte aufeinander, die Zeit, in der ich saß, auf meinem Stuhl, an meinem Brett, vor meinem Fenster, hinter dem es langsam dunkel wurde, mit meinen drei imaginären Zeiten, trafen sich am Blattpunkt, Schreibpunkt, am Punkt, wo man kapiert, daß man mit seiner Schreibzeit nicht auf die Zeit vor seinem Fenster angewiesen ist, daß da noch mehr läuft, noch viel mehr Mehr, am Punkt, wo die drei Aggregatzustände der gewohnten Zeit, in der man sitzt, auf seinem Stuhl, an seinem Brett, vor seinem Fenster, hinter dem es dunkler wird, mutieren in Vergangenwart und Gegenheit, in Zuheitwartkunft, Kunftzuwartheit, wos zündet, kracht, wo das Erzählen losgeht und sich hinwegschreibt über jede Zeit.« (S. 66f.)

Das ist wahrlich Literatur für die »Zuheitwartkunft«, für die »Kunftzuwartheit«, und die Erzählerin ist so berauscht davon, dass sie weiter hastet und sogar nur noch im Stehen isst. Zumindest so lange, bis eine große Julihitze einsetzt, die der Erzählung den Titel gibt, denn Mordad bezeichnet im persischen Kalender die sehr heiße Zeit vom 23. Juli bis zum 22. August. Da kommt es dann nämlich zum großen Showdown mit allen Nachbarn und der Erzählerin im Gartenhaus des Bildhauers.

Bis zum Juli konnte ich mit meinen Rückenschmerzen leider nicht warten, aber ich habe häufiger einmal im Stehen gegessen und bin regelmäßig joggen gegangen, und muss sagen: Für uns gewöhnlich so getriebene und beschleunigte Hamsterradfahrer wirkt diese Erzählung wirkliche Wunder.

Länge des Buches: ca. 125.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Mordad. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. S. 5–119 (= 115 Textseiten).

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 2):
»Michel, sag ich« (1984)

Barcelona, 9. April 2013, 10:25 | von Dique

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 56)

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Zwei Jahre nach ihrem Debuthit »Josef stirbt« folgte 1984 »Michel, sag ich«. Es ist ein kurzes Buch und erzählt in kurzen Sätzen kurze, apokalyptische Traumsplitter. Eine Frau vom Land geht in die Stadt (Frankfurt), um Michel zu suchen. Dort begegnen ihr Leere, Gewalt, Repression und Widerstand. Da es sich um Literatur handelt, erfährt man nie so recht, was die Ursache des ganzen Elends ist. Alles bleibt schemenhaft in Traumsequenzen stecken. Hätte Christa Wolf je eine Endzeit-Liebesgeschichte geschrieben, sie hätte so geklungen wie »Michel, sag ich« von Ulla Berkéwicz.

Aber nicht nur das macht diesen großzügig gesetzten und daher sehr kurzen Hundertseiter so bemerkenswert und so wertvoll. Nicht nur zeitlich muss man diese Dystopie aus den Achtzigern irgendwo zwischen Carl Amerys »Der Untergang der Stadt Passau« (1975) und Cormac McCarthys »The Road« (2006) ansiedeln. Neben dem Inhalt begeistern natürlich auch die Kürze und die Dynamik des Buches, was in einem sehr flotten Lesetempo resultiert. Dadurch lässt sich die Lektüre gut auf ca. zweimal Frühstücken verteilen. Das Frühstück sollte aber einigermaßen karg sein, damit es auch gut zur Stimmung passt.

Länge des Buches: ca. 75.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Michel, sag ich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984. S. 5–100 (= 96 Textseiten).

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Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 1):
»Josef stirbt« (1982)

Berlin, 8. April 2013, 09:55 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 55)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Am 4. September 1982 erscheint Ulla Berkéwiczs Debut »Josef stirbt«. Danach geht es Schlag auf Schlag. Drei Tage nachdem der Bundestag für Helmut Kohl als Bundeskanzler gemisstrauensvotet hat, taucht der Name Ulla Berkéwicz zum ersten Mal im »Spiegel« auf – ihr literarischer Einstand wird über vier riesenlange Spalten hinweg in einer einzigartigen und unvergleichlichen Jubelarie abgefeiert. Natürlich zu Recht, denn wenn man die Erzählung »Josef stirbt« heute noch einmal zur Hand nimmt, ist man einfach baff, wie frisch, wie unverbraucht, wie zeitlos der damalige Jugendslang auch heute noch klingt. So sagt die Ich-Erzählerin einmal: »Ich ziehe mir am Automaten drei Nuts« (S. 20). Sich ganze drei Nuts auf einmal zu ziehen, was ist da los! Darüber hinaus sind dann auch noch zwei kleine literaturhistorische Scherze in den Text eingebaut, es tauchen nämlich »der blonde Sohn, der Egbert« (S. 25) sowie »der blonde Sohn, der Egbert« (S. 114) auf.

Die Titelfigur in »Josef stirbt« war bis ins sehr hohe Alter hinein von recht robuster Konstitution, denn erst »mit 88«, so erfahren wir, »kam der erste Schnupfen« (S. 13). Darüber hätte Friedrich Theodor Vischer, der sogenannte V-Fischer, wahrscheinlich eine Hohnlache aufgeschlagen, hatte er doch seit jeher mit dem Schnupfen zu kämpfen und sich in seiner 600-seitigen Novelle »Auch Einer«, die quasi ausschließlich vom Schnupfen handelt, darüber beschwert, dass, wer Schnupfen hat, trotzdem nicht als berechtigt gilt, krank zu sein. Ein Happy End gibt es in Ulla Berkéwiczs Debut natürlich nicht, und spoilern kann man hier schlechterdings auch nichts, wenn man verrät, worauf’s dann halt doch irgendwann hinausläuft: wenig überraschend, stirbt Josef.

Länge des Buches: ca. 108.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Josef stirbt. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982.

Ulla Berkéwicz: Josef stirbt. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. S. 5–115 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 54
Elfriede Gerstl: »Spielräume« (1977)

Berlin, 6. April 2013, 11:25 | von Josik

Das Buch »Spielräume« wird hie und da als Elfriede Gerstls ›einziger Roman‹ bezeichnet, dabei trägt es in Wirklichkeit gar keine Gattungs­bezeichnung, sondern ist einfach nur eines der wunderbarsten Bücher, die jemals geschrieben wurden. Es ist schwer, sich für ein charakteristisches Zitat aus diesem Buch zu entscheiden, weil man im Grunde jeden einzelnen Satz zitieren müsste, es ist ein Wunderwerk an Lakonie.

Ganz besonders herrlich aber fand ich diesen Satz, den man sich als Lebensmaxime zu eigen machen sollte: »ich halte nichts von Problemen«. Als ich ziemlich genau in der Mitte der Seite 25 diesen tollen Satz gelesen habe: »ich halte nichts von Problemen«, fiel mir wieder eine Stelle aus einem Interview ein, das Peter Scholl-Latour im November 2001 der Zeitschrift KONKRET gegeben hat. Da sagt Scholli: »Wenn ein souveräner palästinensischer Staat gegründet wird, wäre Israel existentiell bedroht.« Darauf fragt ihn die KONKI: »Und wie würden Sie das Problem lösen?« Scholli sagt lakonisch: »Gar nicht.« Die KONKI fragt irritiert: »Warum?« Und Scholli stellt die sehr berechtigte Gegenfrage: »Sie meinen auch, daß man alle Probleme lösen muß?«

Wer sich eingehender mit Elfriede Gerstl beschäftigen möchte, dem sei übrigens noch Herbert J. Wimmers Arbeit »In Schwebe halten – Spielräume von Elfriede Gerstl« nahegebracht. Dort ist in Faksimile z. B. ein Brief abgedruckt, den Walter Hasenclever 1963 an Elfriede Gerstl geschrieben hat, und in diesem Brief heißt es: »Falls Sie am Flughafen Tempelhof ankommen, könnten wir uns am Eingang zum Gepäckabholeplatz treffen; wir würden daran kenntlich sein, daß wir die ›Hundejahre‹ von Günter Grass sichtbar tragen.« Die »Hundejahre« von Grass als Erkennungszeichen – ist das nicht komisch!

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Elfriede Gerstl: Spielräume. Linz: Ed. Neue Texte 1977.

Elfriede Gerstl: Spielräume. Mit einem Nachwort von Heimrad Bäcker. Neuauflage. Graz; Wien: Literaturverlag Droschl 1993.

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100-Seiten-Bücher – Teil 53
Édouard Dujardin: »Geschnittener Lorbeer« (1887)

Paris, 5. April 2013, 01:20 | von Niwoabyl

Das Wagnerjahr wollte ich nicht verstreichen lassen, ohne einmal an Édouard Dujardin erinnert zu haben, den Gründer der französischen »Revue wagnérienne«. Interessanterweise betitelte der vergessene Symbolist seinen epochalen Hundertseiter nicht »Winterstürme wichen dem Wonnemond« oder so, sondern »Les Lauriers sont coupés«, nach dem zweiten Vers des berühmten alten französischen Kreisliedes »Nous n’irons plus au bois«, nicht weniger ohrwurmhaft, dafür aber einen Deut pessimistischer. Über die eigentliche Bedeutung dieses Titels lässt sich prächtig spekulieren, selbst Petrarca wird dazu bemüht, was man ein bisschen weit hergeholt finden darf. Eigentlich soll das Liedlein, heute noch französischer Pausenhofhit, die Gründung der ersten Versailler Bordelle kommemoriert haben, und im Buch geht es ja auch um käufliche Liebe.

Erzählt wird ein Abend im Leben eines »Studenten«, der gleich anfangs gesteht, dass er sich nicht sonderlich um Jura kümmert. Da er im Paris des Fin de siècle lebt, bleiben ihm freilich drei ausgesuchte Betätigungsfelder: die oberflächlichen Gespräche mit Künstlerfreunden, das einsame Essen in deprimierenden Cafés (man fühlt sich an Huysmans‘ großartigen »À vau-l’eau« erinnert) und schließlich das Theater, will sagen: das abendliche Warten auf Schauspielerinnen, mit denen sich eventuell Liebschaften anfangen lassen.

Amüsant ist vor allem die wilde Stilmischung, ein wirkliches Fin-de-siècle-Potpourri, von derben, »authentischen« Ausfällen über komische Szenen zum entfesseltesten symbolistischen Gefasel. Der Auftakt zum Beispiel möchte gern so etwas sein wie ein Prosa gewordenes »Rheingold«-Vorspiel, mit einer Erzählstimme, die aus dem Nichts entsteht und sich allmählich in den Abend hineinmaterialisiert. Und nach nur ein paar Seiten schon will der Besitzer besagter Stimme im Café eine Frau durch gezieltes Billettzustecken anbaggern. Dann freilich verzichtet er darauf und macht sich ihr erst dadurch bemerkbar, dass er sorgfältig sein Billett zu kauen beginnt. So schnell verlässt man hier Bayreuth zugunsten der Vaudeville-Bühne.

Obwohl die Erzählung das erste bekannte Beispiel eines buchlangen inneren Monologs sein soll – so will es die Literaturgeschichte –, fühlte ich mich eben eher an die vielen komischen Monologe erinnert, die damals Furore machten, etwa an Georges Courtelines »Théodore cherche des allumettes«. Darin tappt die beschwipste Hauptfigur eine halbe Stunde auf der Suche nach Streichhölzern im Dunkeln, somit allerhand Kataströphchen verursachend, die er zur Freude des Publikums laut kommentiert. Das ist immer noch sehr lustig, und so was Hochkomisches hätte Dujardin wahrscheinlich auch drauf gehabt. Wäre er nur nicht Mallarmé-Freund gewesen.

Länge des Buches: ca. 146.000 Zeichen (frz.). – Ausgaben:

Édouard Dujardin: Geschnittener Lorbeer. Roman. Aus d. Franz. von Günter Herburger. Köln; Berlin: Kiepenheuer u. Witsch 1966.

Edouard Dujardin: Die Lorbeerbäume sind geschnitten. Dt. von Irene Riesen. Nachwort von Fritz Senn. Zürich: Haffmans 1984.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)