Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 52
Joseph Brodsky: »Ufer der Verlorenen« (1989)

Leipzig, 31. März 2013, 16:05 | von Paco

Brodsky war seit 1972 jeden Winter für ein paar Tage oder Wochen in Venedig und hat deshalb 17 Jahre später dieses schöne kleine Pamphlet darüber veröffentlicht. Es erschien 1989 zunächst in italienischer Übersetzung unter dem ursprünglichen Titel »Fondamenta degli incurabili«, das englische Original dann in erweiterter Form als »Watermark«. Es liegt nun die Vermutung nahe, dass Brodsky dieses Buch geschrieben hat, um weitere Touristen davon abzuhalten, in seine Winterresidenzstadt zu reisen. Immerhin war er damals schon Nobelpreisträger, seinen Worten wird also einiges Gewicht beigemessen worden sein.

Brodsky selbst ist jedenfalls der beste aller Touris, was er auch unumwunden zugibt. Angewidert ereifert er sich über andere und vor allem deutsche Pauschalreisende und macht seine Leser ebenfalls zu Touristen, die sich wiederum über Brodsky aufregen sollen. Denn er mag zum Beispiel Wagner und Tschaikowski nicht, was provozierend unoriginell ist, und außerdem rechnet er auf wohlfeile Weise mit Ezra Pound ab. Zusammen mit Susan Sontag besucht er dessen Witwe, die ihnen den Gefallen tut, die Machenschaften ihres verstorbenen Mannes unaufgefordert mit einer elend langen Rechtfertigungsrede zu verteidigen. Brodskys Bericht von diesem Besuch wirkt so unangenehm gerecht wie damals Michael Moores Visite beim armen NRA-Maskottchen Charlton Heston, aber wie gesagt, das ist sicher genau so auch beabsichtigt.

Insgesamt hat der Venedigveteran für den Band 48 Kurztexte versammelt, lose verbundene Impressionen mit poetischem Mehrwert, wobei das jetzt unbedingt positiv gemeint ist. Denn wer literarische Beschreibungen des Geruchs von gefrorenem Seetang liebt, muss dieses Buch unbedingt lesen.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. München; Wien: Hanser 1991.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Mit Photographien von Peter-Andreas Hassiepen. München; Wien: Hanser 2001.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002. S. 5–94 (= 90 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 51
Eduard Mörike: »Mozart auf der Reise nach Prag« (1855)

Berlin, 28. März 2013, 15:53 | von Josik

Diese gewitzte und raffiniert gebaute Novelle gehört zu Mörikes Knüllern. Wer den originellen Wolfgang Amadeus Mozart und seine bezaubernde Gattin Constanze noch nicht ins Herz geschlossen hat, wird dies spätestens nach der Lektüre dieses herzerfrischenden Werkes tun. Was man einem Schwaben wie Mörike vielleicht nicht vorwerfen kann, was man ihm letztlich dann aber vielleicht doch vorwerfen muss, ist allerdings, dass er Wolfgangs bzw. Constanzes Dialekt nicht authentisch wiedergegeben hat, sondern eben nur so, wie ein Schwabe sich vorstellt, dass Österreicher reden.

Da ist dann statt von einem ›Backhendl‹ absurderweise von einem »Backhähnl« (S. 11) die Rede, später in anderem Zusammenhang noch von einem »Wäldel« (S. 13), und man sagt sogar: »Ja, gelten S‘, Freundin«. In diesem niedlichen Tonfall geht es immer weiter. Mit einem Wort: Mörike lässt die Mozarts wie Volldeppen klingen. Zum Beispiel das Personal bei Ludwig Ganghofer drückt sich ganz ähnlich aus: »Ja, Fräuln! Aber den Vater muß ich verentschuldigen, daß er heut nix anders hat als bloß a Bröserl Butter und a Töpferl Milli. Morgen bring ich schon werden was. Gelten S‘, ich därf morgen wiederkommen?«

Saukomisch aber ist es dann, wie Mörike im Text das Liedchen »Giovinette, che fatte all’amore« zitiert und in einer Fußnote die Stelle »La la la!« wie folgt ins Deutsche übersetzt: »Tra la la!« (S. 53) Als Vea Kaiser übrigens neulich ihren Roman »Blasmusikpop« publiziert hat, ist es auch Sigrid Löffler sauer aufgestoßen, dass der dort dargebotene »Kunst-Dialekt […] für Kenner des Österreichischen […] eher nach Wiener Unterschicht-Jargon als nach alpenländischer Mundart klingt«, und Frau Löffler verweist auch noch mal eindringlich auf das Faktum, dass man in Österreich nicht ›Hackfleisch‹ sagt, sondern ›Faschiertes‹.

Länge des Buches: ca. 128.000 Zeichen. – Ausgaben:

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Eine Novelle. Mit Illustrationen von Hugo Steiner-Prag und einem Nachwort von Traude Dienel. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1979. S. 7–107 (= 101 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. Mit 12 Illustrationen von Karin Rauhut. Rudolstadt: Greifenverlag, 4. Auflage 1984. S. 3–88 (= 86 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. Stuttgart: Reclam 1987. S. 1–75 (= 75 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. [Originalfassung Stuttgart und Augsburg 1856 in der Reihe »Bibliothek der Erstausgaben«.] Hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre. München: dtv 1997. S. 5–88 (= 84 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Mit einem Nachwort von Hugo Rokyta. Prag: Vitalis Verlag, 2. Auflage 2003. S. 5–101 (= 97 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 50
Peter Handke: »Versuch über den Stillen Ort« (2012)

Berlin, 18. März 2013, 12:45 | von Josik

Leider kommt Der Umblätterer nicht umhin, einen philologischen Skandal riesenhaften Ausmaßes aufzudecken. Auf dem Cover dieses epochemachenden ›Versuchs‹ ist nämlich der größte Teil der ersten Manuskriptseite abgebildet. Man sieht dort Handkes wunderschöne, gestochen scharfe Handschrift; wie üblich hat er alles mit Bleistift geschrieben.

Einzelne Wörter auf dieser Manuskriptseite sind durchgestrichen. Wenn man die Manuskriptseite auf dem Cover nun mit dem Beginn des gedruckten Fließtextes, im Buch ab Seite 7, kollationiert, stellt man fest: Die Worte, die im Manuskript gestrichen sind, kommen auch im gedruckten Text nicht vor. So weit hat also alles seine Richtigkeit. Im ersten Satz des ›Versuchs‹ berichtet Handke, dass er vor langer Zeit einmal einen Roman des englischen Schriftstellers A. J. Cronin gelesen habe, und er löst in einer Parenthese die Initialen dieses Autornamens wie folgt auf: »›Archibald Joseph‹, wenn ich mich nicht irre«. Haargenau so ist es auch auf dem Cover zu sehen – großartig!

Im dritten Satz gibt Handke eine knappe Inhaltsangabe des Cronin’schen Romans, so wie er sich an ihn erinnert. Liest man den gedruckten Text, so steht da: »Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (›wenn ich mich nicht irre‹).« Kuckt man nun aber den Text auf dem Cover an, die Manuskriptseite, das Original – so steht da etwas völlig anderes, nämlich: »Eine englische Bergwerksgegend und die Chronik einer darbenden Bergleutefamilie, abwechselnd mit jener von betuchten Besitzern (wiederum: ›wenn ich mich nicht irre‹)«. Das wiederum und der darauffolgende Doppelpunkt sind hier eindeutig nicht gestrichen, sondern Bestandteil der Handkehandschrift!

Warum sind im gedruckten Text dieses wiederum und der darauffolgende Doppelpunkt verschwunden? Steht hier Handke’sche Beschreibungspotenz gegen Suhrkamp’sche Editionsimpotenz? Dass ein Handkebuch erhaben ist, auch und gerade dann wenn es sich um ein poetologisches Scheißhaustraktat handelt, leuchtet ja unmittelbar ein. Umso unverantwortlicher sind also derartige Streichungsorgien, wie sie hier zelebriert wurden. Vielleicht wird Herr Dr. Fellinger oder wer auch immer einmal dazu Stellung nehmen müssen, wie es zu solchen Inkohärenzen kommen konnte.

Eine Erklärung dahingehend, dass die Streichung des Wortes wiederum und des hierauf folgenden Doppelpunkts in Absprache mit Handke erfolgt sei, wäre natürlich allzu billig und auch völlig unglaubwürdig, abstrus und aberwitzig, schließlich präsentiert uns hier ein und dasselbe Buch je verschiedene Seiten des gleichen Textes, von denen man mit Fug und Recht der abgebildeten Manuskriptseite eine höhere, werktreuere Autorität wird zubilligen müssen. Suhrkamp müsste gewarnt sein: Das unmögliche Schachbrettcover eines anderen Verlags wurde bereits zum ikonischen Zeichen für den »ahnungslosen Dilettantismus« Peer Steinbrücks.

Länge des Buches: ca. 90.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Handke: Versuch über den stillen Ort. Berlin: Suhrkamp 2012. S. 5–109 (= 105 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 49
Niccolò Machiavelli: »Der Fürst« (1513/1532)

Leipzig, 4. März 2013, 21:10 | von Marcuccio

»Werkchen« hat Machiavelli seinen Hundertseiter genannt, was er im Vergleich zu seinem Vierhundertseiter »Discorsi« definitiv ist. Werkchen klingt halt trotzdem arg wie Knoppers, das Frühstückchen. Man weiß, dass Hitler und Mussolini das Werkchen gefrühstückt haben, und überhaupt hat sich von der Diktatur bis zur Demokratie, von den Jesuiten bis zu den Kommunisten und von Shakespeare bis Nietzsche wohl so ziemlich jede Staatsform, Geistesbewegung und Persönlichkeit an diesem Hundertseiter vergriffen. Was nicht weiter wundert, denn Machiavelli bringt seine Sache ganz fantastisch auf den Punkt. Man sollte das Buch mal für eine Nacherzählung in Power Point ausschreiben.

Besonders eindringlich wird Machiavelli immer da, wo er den Coach macht: »Entweder bist du schon Fürst oder bist noch auf dem Weg, es zu werden.« So sieht’s aus. Und wer die Ansprache als Alphatier bevorzugt, kann sich im Role Model »Fuchs« oder »Löwe« wiederfinden. Die wenigsten können beides in sich vereinen, und auch deswegen sieht man Macht so oft scheitern.

Die Kunst des Machterwerbs und Machterhalts war ursprünglich mal Arkanwissen für Staatsführer (eben: Fürsten). Heute ist Machiavellis­mus vom Schlage ›Der Zweck heiligt die Mittel‹ längst Breitensport, beliebt von der Staatsräson bis zur ausgestellten Skrupellosigkeit leitender Angestellter in der Schadensregulierung M–Z: »Büro ist Krieg«. Das Problem der Strombergs dieser Welt: Sie lesen womöglich Werkchen wie »Der kleine Machiavelli. Handbuch der Macht für den alltäglichen Gebrauch«. Das Original ist aber wahrscheinlich nicht nur besser, sondern vor allem auch kürzer!

Länge des Buches: ca. 164.000 Zeichen (ital.), ca. 177.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Niccolò Machiavelli: Il principe. Der Fürst. Italienisch/deutsch. Übers. und hrsg. von Philipp Rippel. [Nachdr.] Stuttgart: Reclam 1995.

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100-Seiten-Bücher – Teil 48
André Gide: »Die Pastoralsymphonie« (1919)

Oxford, 19. Februar 2013, 10:00 | von Baumanski

Eigentlich muss ich ganz andere Sachen lesen, anstrengende Bücher, dicke Bücher, Fussnoten. Aber dann stehe ich einmal mehr bei Blackwell’s und kaufe was von André Gide, und zwar den »Immoralist«, den mir mein Nachbar neulich empfohlen hat:

–Gutes Buch, musst du unbedingt lesen.
–Was ist gut daran?
–Alles.

Bei Blackwell’s läuft auch gerade eine Signierstunde ab. Der nach wie vor äusserst sympathische Michael Palin unterschreibt, und da schaue ich noch eine Weile zu, kaufe aber keines seiner Bücher, weil ich ja ganz andere Sachen lesen muss.

»Der Immoralist« ist wirklich ein gutes Buch. Schöne schlichte Sprache, so poetisch wie natürlich, aber in dem späteren und noch etwas kürzeren Hundertseiter »Die Pastoralsymphonie« ist sie vielleicht fast noch vollkommener. Auch darin behandelt Gide die grooossen Fragen anhand einer einfachen Geschichte: Der Protagonist, ein Pastor, verliebt sich in seine blinde Adoptivtochter, sein Sohn aber leider auch, und das Ganze führt unweigerlich zur Katastrophe.

Diese »Symphonie pastorale« habe ich vor ein paar Monaten während einer Zugfahrt von Genf nach Basel gelesen. Warmer Sommerabend, linkerhand zog zufälligerweise der gesamte Schweizer Jura vorbei, in dem das Buch ja spielt. Auch damals musste ich theoretisch eigentlich ganz andere Sachen lesen.

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen (französ.). – Ausgaben:

André Gide: Die Pastoral-Symphonie. Übers. von Bernard Guillemin. Nachw. von Kurt Wais. [Nachdr.] Stuttgart: Reclam 1995.

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100-Seiten-Bücher – Teil 47
Ernest Hemingway: »Der alte Mann und das Meer« (1952)

Leipzig, 5. Februar 2013, 11:45 | von Paco

Das bekannte Kinder- und Jugendbuch von Hemingway ist natürlich nicht »das berühmteste dünne Buch der Weltliteratur«, wie Wolf Wondratschek es so schön ausgedrückt hat. Es ist aber sicher das einzige Diätbuch, das einen Nobelpreis spendiert bekommen hat. Der alte Mann, der übergroße Fisch am Haken, die geschilderte Unbill beim Fischen usw., das alles bedeutet sicher irgendwas. Aber vor allem macht die Spritztour des alten Santiago Lust auf eine Hemingway-Diät. Sie dauert knapp drei Tage, so lange, wie der alte Mann im Golf von Mexiko verbringt.

Tagsüber wird erst mal nichts gegessen, nur etwas Wasser getrunken. In der ersten Nacht gibt es dann aber endlich einen kleinen Thunfisch, roh und ungesalzen: »Er hob ein Stück in die Höhe und steckte es in den Mund und kaute es langsam. Es schmeckte nicht schlecht.« Dann tagsüber wieder nur Wasser, erst in der zweiten Nacht folgen eine Goldmakrele und zwei fliegende Fische, die sich zufällig im Makrelen­magen angefunden haben. Wieder wird das Ganze roh verspeist und schmeckt diesmal nicht so ganz gut: »Ich werde niemals wieder ohne Salz oder Limonen in einem Boot hinausfahren.«

Am dritten und letzten Tag gibt es dann schon bei Tageslicht einen kleinen Snack, und zwar eine Handvoll Garnelen, die sich beim Schütteln eines Bündels Seetang ergeben haben: »Sie waren sehr winzig, aber er wußte, daß sie nahrhaft waren, und sie schmeckten gut.« Wenig später gibt es dann als Krönung noch ein Stück von dem großen Marlin, den der Alte im Schlepptau hat und der da bereits von Haien angefressen ist: »Er kaute es und bemerkte die Qualität und den feinen Geschmack.« So. Und zwischendurch immer mal wieder einen Schluck Wasser und das war es dann auch schon. Das ist die Hemingway-Diät.

Länge des Buches: ca. 155.000 Zeichen (Übersetzung von Horschitz-Horst), ca. 133.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer. [Einzig autorisierte Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst.] Reinbek: Rowohlt 1995. S. 3–124 (= 122 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 46
César Aira: »Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo« (2002)

Leipzig, 24. Januar 2013, 17:45 | von Paco

Spätabends wird der langweilige Ministeriumsschreiber Varamo in einem panamaischen Kaffeehaus von drei windigen Verlegern dazu angehalten, über Nacht einfach mal ein Buch zu schreiben. Thema egal, mach einfach, so 80 bis 100 Seiten, mindestens jedoch 74, »denn die waren nötig, damit es ›für einen Rücken reicht‹«. Der gerade verlebte Tag war für Varamo misslich verlaufen, denn ihm wurde als Monats­gehalt Falschgeld ausbezahlt, glücklicherweise genau so viel, wie dann die Verleger dem Eintagsdichter für seine literarische Nachtarbeit geben wollen, 200 Pesos.

Also okay, überredet, der Stand-up-Literat Varamo setzt sich zu Hause hin und schreibt einfach alle Papiere ab, die sich bei ihm den Tag über angesammelt haben und mischt diese Abschriften mit den Schlüssel­wörtern eines hanebüchenen Codebuchs, das ihm eine Bekannte zugesteckt hat. Ergebnis ist dann »das berühmte Meisterwerk der modernen mittelamerikanischen Lyrik«, das so avantgardistische wie in Wirklichkeit gar nicht existierende und im Buch auch nicht zitierte Gedicht »Der Gesang des jungfräulichen Kindes«!

Der minutiös geschilderte Entstehungsprozess erinnert natürlich umstandslos an die »Simpsons«-Folge »Moe’N’a Lisa« aus der 18. Staffel: Lisa nimmt in der Wohnung des notorischen Kneipenwirts Moe ein paar Notizzettel von den Wänden und arrangiert sie auf dem Tisch per Klebestreifen zum epic poem »Howling at a Concrete Moon«, das ja ebenfalls ein sensationeller Erfolg wird.

Ansonsten ist »Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo« mal wieder ein Musterbeispiel für den von Aira perfektionierten Texttyp: um die hundert Seiten lang, von einem leicht verrückten Erzähler exzellent gefüllt, bevorzugt mit abgebrochenen Neben­geschichten ohne relevante Folgen. So geht es beiläufig um die berühmten Gleichmäßigkeitsstraßenrennen und um das Einbalsamieren von Fischen aus dem heimischen Aquarium, und dann wird auch noch seitenweise über eines der bravourösesten Stilmittel überhaupt schwadroniert, die erlebte Rede nämlich, den estilo indirecto libre!

Länge des Buches: ca. 174.000 Zeichen. – Ausgaben:

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo. Novelle. Aus dem Span. von Matthias Strobel. München; Wien: Nagel und Kimche 2006.

César Aira: Die nächtliche Erleuchtung des Staatsdieners Varamo. Novelle. Aus dem argentin. Span. von Matthias Strobel. Berlin: Wagenbach 2010. S. 3–91 (= 89 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 45
Peter Hacks: »Zur Romantik« (2001)

Berlin, 28. Dezember 2012, 09:03 | von Josik

Ganz nebenbei erfährt, wer im Biologieunterricht nicht aufgepasst hat, in diesem Buch Erstaunliches über das Sexualleben von See-Elefanten (S. 37f.). Gleich auf der ersten Seite aber legt Peter Hacks los mit einem Zitat aus dem »Spiegel« vom 5. April 1999, also jener Ausgabe, die das berühmte Interview enthielt, in welchem Sandra Bullock sagte: »Ich habe das Surfen aufgegeben. Die Entwicklung der virtuellen Welt hat mich wirklich erschreckt. Da draußen geht es zu wie im Wilden Westen.«

Mein Lieblingssatz in Hacks‘ Romantikbuch ist allerdings der mittlere der folgenden drei Sätze: »Aber auch Johnston hatte Vorgänger in der Kleistforschung. Ich erwähne die Namen. Es sind Reinhold Steig und August Fournier.« (S. 55) Natürlich hätte der Satz »Ich erwähne die Namen« ebensogut weggelassen werden können. Aber gerade das ist ja wahrscheinlich das Tolle an Hacks: dass er diesen Satz nicht weglässt, sondern uns seiner Offenbarungen teilhaftig werden lässt. Eine mir völlig unverständliche Aversion hegt Hacks jedoch gegen den schönen Namen Leberecht und verhunzt ihn sowohl im Falle Karl Immermanns (S. 40) als auch im Falle des Generalfeldmar­schalls von Blücher (S. 69) auf eine ganz entsetzliche Weise.

Das formvollendete Deutsch, das Peter Hacks zu schreiben pflegte, wurde schon oft gelobt. Ein Hacks indes bedarf des Lobes nicht, deshalb wäre es falsch, ihn mit noch mehr Lob zu überhäufen. Vielmehr ist es nun an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun und Peter-Hacks-Sätze als Musterbeispiele in Stilfibeln aufzunehmen. Da man aus Platzgründen leider nicht alle Peter-Hacks-Sätze wird nehmen können, wird man auswählen müssen. Ich rate zu diesen beiden: »Später wird es so hergehn, daß […] Hardenberg einen hohen Rang bei den Illuminaten bekleiden wird, während vom Freiherrn vom Stein zu sagen sein wird, daß sein Assistent Carl Wilhelm Koppe […] den Tugendbund […] formen wird.« (S. 64) Und: »Das Buch ist ein sowohl schwul als sadistischer Porno.« (S. 13)

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Hacks: Zur Romantik. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 2001.

Peter Hacks: Zur Romantik. In: Ders.: Die Massgaben der Kunst III. Hacks Werke, Band 15. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2003. S. 5–107 (= 103 Text­seiten).

Peter Hacks: Zur Romantik. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2008. (Zitatgrundlage für oben. Diese Ausgabe erschien zeitlich parallel und seitengleich auch im Konkret Literatur Verlag.)

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100-Seiten-Bücher – Teil 44
Christian Reuter: »Schelmuffsky«
(Erste Fassung 1696)

Berlin, 22. Dezember 2012, 12:44 | von Josik

Schelmuffskys Curiose und Sehr gefährliche Reißebeschreibung zu Wasser und Land führt ihn von seinem Geburtsort Schelmerode über Hamburg, Altona, Stockholm, Amsterdam, Indien, England, die spanische See und St. Malo wieder zurück über London und die Hamburger Vorstadt nach Schelmerode. Schelmerode ist zwar laut Wikipedia zusammen mit Hunrode, Rumerode, Mackenrode, Auf dem Rode, Schwickschwende und Thunrichsberg eine der Wüstungen, aus denen die Gemeinde Birkenfelde hervorging, mit Schelmuffskys Schelmerode hat das aber eigentlich nichts zu tun.

Es ging auch schon gut los mit Schelmuffsky, dem braven Kerl, denn bei seiner Geburt spielte eine Ratte die Hauptrolle. Dass Oskar Matzeraths Geburt, die ja auch irgendwie seltsam war, mit Schelmuffsky zu tun hat, das hat Grass selber oft erklärt. Allerdings scheint diese Erklärung ein bloßes Vertuschungsmanöver zu sein, wenn es nach der vor ein paar Monaten im Meinungsmedium der Freitag geäußerten Meinung geht, dass der Anfang der Blechtrommel nicht etwa, wie Grass vorgibt, vom ewigen Studenten Christian Reuter inspiriert sei, sondern vielmehr das Plagiat einer Geschichte der später im Kino von Hannelore Elsner verkörperten Gisela Elsner darstelle. »Müssen wir nun mit einer neuen Plagiats-Affaire rechnen?«, heißt es in besagtem Artikel. Gemessen am bisherigen öffentlichen Echo auf die Enthüllung: eher nicht.

Doch wie dem auch sei, ich jedenfalls habe aus meiner etwas zu umfangreich geratenen Privatbibliothek inzwischen über 1.200 Bände verkauft, den hinreißenden Schelmuffsky aber behalte ich natürlich!

Länge des Buches: um die 115.000 Zeichen (?) (erste Fassung, nur 1. Teil erhalten), 259.000 Zeichen (zweite Fassung 1696/97, inkl. dem 2. Teil). – Ausgaben:

Christian Reuter: Schelmuffsky Curiose und Sehr gefährliche Reiße­beschreibung zu Wasser und Land. Gedruckt zu St. Malo. Anno 1696. (120 Textseiten laut Zarnckes Christian-Reuter-Monografie, Leipzig: Hirzel 1884, S. 591. Das einzige erhaltene Exemplar der ersten Fassung liegt in Gotha.)

Christian Reuter: Schelmuffsky. Abdruck der ersten Fassung 1696. Halle/S.: Niemeyer 1885. S. 1–57 (= 57 Textseiten).

Christian Reuter: Schelmuffsky Curiose und Sehr gefährliche Reißebeschreibung zu Wasser und Land. Gedruckt zu St. Malo. Anno 1696. In: Christian Reuter: Schelmuffsky. Abdruck der Erstausgaben 1696[A/B]. 1697. Zweite, verbesserte Auflage hrsg. von Peter von Polenz. Tübingen: Niemeyer 1956. S. 121–174 (= 54 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 43
Elfriede Jelinek: »bukolit« (1979)

Göttingen, 7. Dezember 2012, 00:30 | von Josik

Elfriede Jelinek hat das Sekundärdrama erfunden, sie hat das Parasitärdrama erfunden, sie hat den Privatroman erfunden und sie hat schon in sehr jungen Jahren den Hörroman erfunden. So nämlich nennt sich »bukolit« im Untertitel, jenes Buch, das noch mit ca. einem Dutzend seitenfüllender Illustrationen von Robert Zeppel-Sperl versehen ist.

Im Klappentext der im Berlin Verlag erschienenen Ausgabe wird »bukolit« Jelineks »erster« Roman genannt – das ist wohl als Rant gegen den Rowohlt Verlag zu verstehen, dem Jelinek dieses Buch schon Ende der Sechziger zur Veröffentlichung angeboten hatte. Rowohlt hat dann vorher aber doch lieber »wir sind lockvögel baby!« gedruckt.

So kam es zu der kuriosen Situation, dass »bukolit« erst mit etwa einer Dekade Verspätung erschien, als Jelinek die dort praktizierte Schreibweise schon längst aufgegeben hatte: »bukolit wieder jetzt wickenkühles eigelb setzte pumpend bukolita an die lippen glaubte doch nicht wie jeder würde dasz sie flasche sei oder wuszte dies lange schon & wollte bukolita gewaltsam verändern aus lebens stellungen reißen nun.« (S. 34) Das ist nun wirklich kein besonders toller Satz, aber so schrieb man eben damals.

In ihrem Buch »Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk« erklärt die renommierte Jelinek-Exegetin Bärbel Lücke (bekannt geworden durch drei YouTube-Videos, in denen sie von einem Computer interviewt wird: 123): »bukolit [kann] auch Hitler sein und Lumumba.« (S. 21) Und das stimmt dann wahrscheinlich sogar!

Länge des Buches: ca. 114.000 Zeichen. – Ausgaben:

Elfriede Jelinek: bukolit. Hörroman. Mit Bildern von Robert Zeppel-Sperl. Hrsg. von Vintilă Ivănceanu. Wien: Rhombus-Verlag 1979. S. 1–90 (= 90 Textseiten).

Elfriede Jelinek: bukolit. Hörroman. Mit Bildern von Robert Zeppel-Sperl. Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2005. S. 3–90 (= 88 Textseiten).

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