Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 42
Daniel Kehlmann/Sebastian Kleinschmidt: »Requiem für einen Hund. Ein Gespräch« (2008)

Göttingen, 16. November 2012, 14:33 | von Josik

Gleich auf der ersten Seite teilt Daniel Kehlmann dem Interviewer Sebastian Kleinschmidt via E-Mail mit, dass sein Hund Nuschki, bei dem ein fortgeschrittener Lebertumor diagnostiziert worden sei, nun habe eingeschläfert werden müssen. Das erinnerte mich an unseren wun­derbaren alten Kater Robert Schmusil, der zuerst an Niereninsuffizienz litt, später eine Diabetes hatte und schließlich einen Darmtumor, »daher haben wir dann, auf Rat aller Ärzte, der Euthanasie zuge­stimmt« (S. 7).

Seine E-Mail beendet Kehlmann mit den Worten: »Ganz herzliche Grüße / Ihres Daniel Kehlmann«, und das ist doch erstaunlich, dass, wo jeder andere Mensch schreiben würde: »Ganz herzliche Grüße / Ihr Soundso«, Kehlmann hier eben nicht »Ihr« schreibt, sondern »Ihres«, aber, so würde Iris Radisch sagen: »Wozu ist man Dichter.«

Später geht es in dem Buch auch noch um Katzen, zunächst aber eben um Hunde, und dabei brennt Kehlmann ein solches Feuerwerk an Maximen und Reflexionen ab, dass man getrost etwa 85% aller in diesem Buch enthaltenen Sätze noch mal als eigenes Aphorismen­bändchen herausbringen könnte. Zum Beispiel sagt er auf S. 15 über Hund und Mensch: »die beiden Spezies gingen den Weg gemeinsam«, oder dann auf S. 21: »Hund und Mensch sind einen langen Weg gemeinsam gegangen«.

Auch muss ich gestehen, dass ich einiges an der »Vermessung der Welt« überhaupt erst bei der Lektüre des Requiembuchs begriffen habe, etwa wenn Kehlmann erklärt: »Goethe tritt zweimal auf (…), und beide Male sind es komische Stellen« (S. 76). Ansonsten geht es in diesem Gespräch noch um Hegel, Heidegger, Gott usw.

Länge des Buches: ca. 137.000 Zeichen. – Ausgaben:

Daniel Kehlmann/Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch. Berlin: Matthes & Seitz 2008.

Daniel Kehlmann/Sebastian Kleinschmidt: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch. Reinbek: Rowohlt-Taschenbuch-Verlag 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 41
Jenny Erpenbeck: »Geschichte vom alten Kind« (1999)

Düsseldorf, 2. November 2012, 12:20 | von Luisa

Das alte Kind ist zwar schon vierzehn und überhaupt nicht fein. Auf dem Cover der Taschenbuchausgabe sind trotzdem die weiß bestrumpfhosten Beine und schwarz belackschuhten Füße eines kleinen Mädchens zu sehen, das in einem festlichen Kleid auf einem Mahagonistuhl sitzt.

Woher das Kind kommt und wie es heißt, weiß zunächst niemand, es steht eines Tages einfach mit einem leeren Eimer auf der Straße und schweigt zu allen Fragen. Also steckt man es in ein schäbiges Kinderheim, wo es ganz zufrieden lebt, denn im Gegensatz zu den andern will es nicht heraus aus diesem ummauerten Gelände, sondern drin bleiben.

Die meisten Kritiker haben die Geschichte irgendwie auf die DDR bezogen. Die Frage, was es dann mit dem leeren Eimer auf sich habe, wollte bislang niemand beantworten. Dabei wäre der Eimer das richtige Covermotiv. Düster gezeichnet, kohlschwarze Schatten in der Höhlung, so dass man schon halb in Versuchung ist, sich zu bücken und den Kopf reinzustecken.

Die Art, wie das alte Kind und seine Überlebenstaktiken beschrieben werden, hat etwas Bohrendes, Hartnäckiges, Anziehendes. Als käme es auf genaue Erklärungen an, die dann aber ins Vage auslaufen. Oder als gäbe es doch noch etwas zu finden auf dem Eimerboden. Ein Irrtum natürlich, wie auch die Altersangabe des Kindes ein Irrtum war oder vielmehr eine Lüge. Die ganze Geschichte läuft anders, als man gedacht hat, und insofern passt natürlich jedes Cover außer dem richtigen.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind. Frankfurt/M.: Eichborn 1999.

Jenny Erpenbeck: Geschichte vom alten Kind. München: Goldmann 2001.

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100-Seiten-Bücher – Teil 40
Erasmus von Rotterdam: »Lob der Torheit« (1511)

Basel, 19. Oktober 2012, 15:19 | von Baumanski

Die Basler Buchhandlung, in der ich Erasmus’ bekanntestes Werk erstehe, ist keine fünfhundert Meter von seinem Todeshaus an der Bäumleingasse entfernt. Sieben Franken kostet die Reclam-Ausgabe und seltsamerweise ist sie im Regal unter R statt unter E eingeordnet, wobei V ja noch eine weitere Möglichkeit gewesen wäre, hehe.

Sie wisse sehr gut, »in welch schlechtem Ruf die Torheit sogar bei den ärgsten Dummköpfen steht«, sagt die Torheit und beginnt dann ihr Selbstlob. Es folgt exzessives Klassik-Namedropping – Glaukon! Momus! Priap! Chrysippus! – über gut hundert Seiten. Auch (wie hiess er noch mal?) Christus wird zwei, dreimal erwähnt, aber deutlich mehr Platz räumt Erasmus seinen Tiraden gegen Priester und Kirche (und Theologen, und Philosophen, und Kaufleute, und!) ein. Kein Wunder, dass Herder dem trotz allem katholisch Gebliebenen Wankelmut vorgeworfen hat. Unbestritten sind dagegen Erasmus’ rhetorisches Talent, sein Ideenreichtum und seine unglaubliche Detailkenntnis der antiken Literatur.

Geschrieben hat Erasmus seine Satire während eines Besuchs bei seinem englischen Freund Thomas Morus, dem er das Werk auch gewidmet hat. Überhaupt ist Erasmus viel herumgekommen, war in Paris, war in Turin, war in Venedig, und gestorben ist er wie gesagt in Basel, aber immerhin an der hübschen Bäumleingasse, ziemlich weit weg vom heutigen Erasmusplatz, der damals wohl gerade noch ausserhalb der Stadtmauern gewesen wäre, heute aber gleich neben den wenigen Bars liegt, die erst um sechs Uhr morgens schliessen.

Länge des Buches: ca. 177.000 Zeichen (lat.), ca. 239.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Erasmus von Rotterdam: Lob der Narrheit. In der Übers. von Lothar Schmidt und mit Federzeichn. von Gabriele Mucchi. Leipzig: Faber & Faber 2005.

Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit. Übers. von Anton J. Gail. Ditzingen: Reclam 2012.

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100-Seiten-Bücher – Teil 39
Werner Herzog: »Vom Gehen im Eis« (1978)

Düsseldorf, 4. Oktober 2012, 13:05 | von Luisa

Im kalten November/Dezember 1974 ging Werner Herzog von München nach Paris, um die kranke Lotte Eisner vor dem Tod zu retten. Keine Wanderung war das, keine Landeserkundung, sondern Magie: Gehe ich, lebt sie. Kompass, Karte, Matchsack, feste Schuhe: knappste Ausrüstung, direkter Weg.

Die Wolken hängen niedrig, tagelang Regen, auch Schnee. Kahle Wälder, aufgebrochene Äcker, kümmerliche Dörfer. Dem Gehenden begegnen Armut und Angst. Das reiche Süddeutschland, das mäßig reiche Ostfrankreich scheinen bettelarm.

Abends, im Heu oder in irgendjemandes Ferienhaus (Scheibe einge­schlagen, genächtigt auf der Küchenbank), füllt er sein Notizheft. Er schreibt wie er geht: weiter, nur weiter, wie der Wanderer der »Winterreise«. Die Sätze sind kurz und brauchen keinen Zusammen­hang, sind Widerhall des Sehens und Denkens. Für die Schöpfung und den Sündenfall genügen zwei Bemerkungen: »Eine Glückseligkeit breitet sich aus und aus der Glückseligkeit erwächst jetzt ein Unding. Das ist die Lage.«

Fast vierzig Jahre ist das her, das Gehen als Beschwörung wurde keine Mode. Abenteuer hat Herzog nicht erlebt, aber vieles wahrgenommen. Durchnässt, die Füße voller Blasen, die Sehnen angeschwollen, ist er hügelauf, hügelab nach Paris gegangen, misstrauisch beäugt, in der Kälte der Einsamkeit. Er brauchte genau drei Wochen. Lotte Eisner lebte noch bis 1983.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München; Wien: Hanser 1978.

Werner Herzog: Vom Gehen im Eis. München–Paris, 23.11. bis 14.12.1974. München: Hanser 2012.

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100-Seiten-Bücher – Teil 38
Immanuel Kant: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785)

Berlin, 25. September 2012, 08:05 | von Josik

Als Ahnherr des Hundertseiterprojekts darf Arthur Schopenhauer gelten, heißt es doch wörtlichstens in seinem Buch »Über die Grund­lage der Moral« (übrigens dem besten philosophischen Werk, das jemals geschrieben wurde): »Dem Verständniß gegenwärtiger, die Kantische Ethik im tiefsten Grunde unterwühlenden Kritik wird es überaus förderlich seyn, wenn der Leser jene ›Grundlegung‹ Kants, auf die sie sich zunächst bezieht, zumal da diese nur 128 und XIV Seiten (bei Rosenkranz in Allem nur 100 Seiten) füllt, zuvor mit Aufmerksamkeit nochmals durchlesen will, um sich den Inhalt derselben wieder ganz zu vergegenwärtigen.«

Und genau diese Stelle nahm ich dann zum Anlass, die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« mit Aufmerksamkeit nochmals durch­zulesen, um mir den Inhalt der Kantischen Ethik wieder ganz zu vergegenwärtigen. Kurioserweise liest sich Kants Büchlein aber in Teilen wie ein Werk aus Hugendubels Ratgeberliteratur-Regal, denn was soll man etwan von einer Stelle wie dieser halten: »Man kann […] nicht nach bestimmten Prinzipien handeln, um glücklich zu sein, son­dern nach empirischen Ratschlägen, z. B. der Diät, der Sparsamkeit, der Höflichkeit, der Zurückhaltung usw., von welchen die Erfahrung lehrt, daß sie das Wohlbefinden im Durchschnitt am meisten befördern.«

Wenn nun jemand ganz grundsätzlich fragte, ob hier dem Alleszermal­mer oder aber ob dessen Unterwühler beizustimmen sei, so müsste man auf folgende Stelle in jenem Dialog verweisen (hier zwischen 10’05“ und 10’15“ anzukucken), der vor ein paar Tagen zwischen dem derzeitigen Juniorprofessor für Theoretische Philosophie an der Universität Stuttgart Philipp Hübl (dessen Bruder, ein glücklicher FAS-Abonnent, auf eine entsprechende Frage der FAS soeben das FAS-Feuilleton an erster Stelle seiner drei FAS-Lieblingsressorts nannte) einerseits und Stefan Raab andererseits statthatte. Raab: »Das Schöne an Philosophie ist: Philosophie ist nie richtig und nie falsch.« – Hübl: »Das stimmt nicht, sorry, nee.« – Raab: »Das stimmt nicht? Das ist aber meine Philosophie.«

Länge des Buches: ca. 176.000 Zeichen. – Ausgaben:

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Immanuel Kant’s sämmtliche Werke. Herausgegeben von Karl Rosenkranz und Friedr. Wilh. Schubert. Achter Theil. Leipzig: Voss 1838. S. 1–100 (= 100 Text­seiten) (online)

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben von Karl Vorländer. Unveränderter Neudruck der 3. Auflage. Leipzig: Meiner 1947. S. 1–95 (= 95 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 37
Gottfried Keller: »Romeo und Julia auf dem Dorfe« (1856)

Oxford, 23. September 2012, 17:37 | von Baumanski

Gottfried Kellers Seldwyler Novellen gehören zweifelsfrei bis heute zum Besten, was die Deutschschweiz an Literatur hervorgebracht hat. Genauso natürlich der »Grüne Heinrich«, aber der hat halt in beiden Fassungen an die tausend Seiten, und erst neulich traf ich wieder jemanden, der weder die eine noch die andere Fassung zu Ende gelesen hatte!

Die Handlung von »Romeo und Julia auf dem Dorfe« ist im Titel eigentlich schon ganz gut zusammengefasst. Man könnte höchstens noch hinzufügen, dass sich die Bauern Manz und Marti, die Väter von Sali und Vrenchen, wegen eines kaum brauchbaren Ackers zerstreiten und ruinieren. Der eine Wink mit dem Shakespeare-Zaunpfahl war übrigens nicht genug für Keller, sondern er bringt noch weitere Anspielungen unter, etwa wenn die Liebenden den Flug der Lerchen beobachten und Vrenchen lacht wie eine Nachtigall.

Die leicht archaische Sprache wirkt dennoch äusserst lebendig, was sich unter anderem den bäurischen Flüchen (»beim ewigen Hagel« etc.) sowie einigen ansprechend beschriebenen Details verdankt: Einen »schlimmen weissen Halskragen« darf sich zum Beispiel jeder Leser seinem eigenen Modegeschmack entsprechend vorstellen. Schliesslich findet eine garstige Serviertochter, Sali sei »schön petschiert mit seiner jungen Gungeline«, woraufhin die Wirtin sie völlig zu Recht als »Essighafen« bezeichnet.

Länge des Buches: ca. 161.000 Zeichen. – Ausgaben:

Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Mit einem Kommentar und einem Nachwort von Klaus Jeziorkowski. Frankfurt/M.: Insel-Verlag 1984. S. 7–102 (= 96 Textseiten).

Gottfried Keller: Romeo und Julia auf dem Dorfe. Novelle. Durchges. Ausg. Stuttgart: Reclam 2002.

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100-Seiten-Bücher – Teil 36
Alan Bennett: »Die souveräne Leserin« (2007)

Solingen, 22. September 2012, 10:13 | von Bonaventura

Mit diesem Büchlein hatte der auf Kurzprosa spezialisierte englische Erfolgsautor, Schauspieler und Regisseur im Jahr 2008 seinen Durchbruch in Deutschland. Der Originaltitel »The Uncommon Reader« ist eine ironische Anspielung auf Virginia Woolfs in England sehr bekannte Essaysammlungen »The Common Reader«, deren Titel wiederum auf eine Wendung Dr. Johnsons zurückgehen.

Erzählt wird die Geschichte, wie Elizabeth II., Queen of England, eines Tages bei der Suche nach ihren Corgis auf der Rückseite von Buckingham Palace den Bücherbus der öffentlichen Bibliothek vorfindet, der dort die Bediensteten des Palastes versorgt. Volksnah, wie sie ist, betritt sie den Bus, trifft dort auf einen ihrer Küchenjungen und entleiht, weil sie sich an den Namen der Autorin erinnert, die sie in den Adelsstand erhoben hat, ein Buch von Ivy Compton-Burnett.

Das ist der Beginn ihrer Karriere als souveräne Leserin, die sich immer weniger für ihre repräsentativen Pflichten und dafür zunehmend für Bücher interessiert. Der Küchenjunge Hutchings wird königlicher Literaturreferent und die ganze Geschichte gipfelt in einer hübschen Pointe, die hier natürlich nicht verraten werden soll.

Was das Buch reizvoll macht, ist nicht nur das ironische und dennoch genaue Porträt der in sich abgeschlossenen Welt, in der die Königin mit ihrem Ehemann lebt, sondern auch, dass es ein Buch eines Lesers für Leser ist, das das Lesen als den Königsweg zur Freiheit weist.

Länge des Buches: ca. 175.000 Zeichen (engl. 144.000). – Ausgaben:

Alan Bennett: Die souveräne Leserin. Aus dem Engl. von Ingo Herzke. Berlin: Wagenbach 2008.

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100-Seiten-Bücher – Teil 35
Johann Gottfried Seume: »Mein Leben« (1813)

Berlin, 18. September 2012, 15:26 | von Josik

Der letzte Satz in Seumes Autobiografie lautet: »Und nun –«. Natürlich würden sich diese Worte samt dem Gedankenstrich auch ganz hervor­ragend als Grabinschrift eignen und dergestalt den Pragmatismus solcher berühmten Grabsprüche wie: »Es liegt begraben die ehrsame Jungfrau Nothburg Nindl / gestorben ist sie im siebzehnten Jahr / just als sie zu brauchen war« ausstechen. Allerdings war dieser Schluss so nicht beabsichtigt, vielmehr ist Seume zwischendurch gestorben, und seine Autobiografie kann nunmehr nur deshalb den Hundertseitern zugeschlagen werden, weil sie Fragment geblieben ist.

Sehr schön finde ich, dass Seume mehrmals das Wörtchen Hm ver­wendet, einmal auf S. 20 der Reclam-Ausgabe: »Mein Vater, der den Vorfall hörte, sagte weiter nichts als sein bedenkliches Hm, und ich habe nie seine Meinung über den streitigen Punkt erfahren«, und dann auf S. 27: »[E]in Hm hm mit Kopfschütteln oder ein ›du kommst jetzt nicht vorwärts, mein Sohn!‹ waren hinlänglich, mich in den Gang zu bringen.« Das Grimm’sche Wörterbuch fährt in den Belegstellen zum Lemma HM einen Rattenschwanz an Großautoritäten auf, den Maler Müller, Jean Paul, Schiller, Göthe, Klinger, Immermann usw. usw., irrerweise auch einen dort so genannten Kotzebuk – doch Seume fehlt.

Einen seiner Lehrer schließlich zitiert der dort Fehlende mit dem Wortwitz: »Lumina mundi wollt ihr werden; ja, ihr Halunken, lumpenhundi werdet ihr sein.« (S. 35) Im Grimm’schen Wörterbuch ist sogar das Wort lumpenhündlein verzeichnet! Übrigens kann man dumme Menschen, die abgeschmackte chinesenfeindliche Witze über den Verzehr von Hunden und Katzen reißen, jederzeit mit diesem Zitat aus Seumes Autobiografie beschämen: »Wenn […] ich den schwarzstriefigen Kommisspeck und auch den Rauchlachs zum Überdruß gegessen hatte, schoß uns Serre in den Außengegenden auch wohl einen fetten Hund oder einen feisten Kater, deren frisches Fleisch und Fett uns nicht selten leckere Mahlzeiten gaben.« (S. 95f.)

Länge des Buches: ca. 181.000 Zeichen. – Ausgaben:

J. G. Seume: Mein Leben. Leipzig: Göschen 1813. S. 1–183 (= 183 Textseiten) (online)

Johann Gottfried Seume: Mein Leben. Nebst Fortsetzung von C. A. H. Clodius. Mit einem Nachwort von Günther Birkenfeld. Stuttgart: Reclam 1977. S. 3–98 (= 96 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 34
Hans Blumenberg: »Schiffbruch mit Zuschauer« (1979)

Solingen, 11. September 2012, 21:18 | von Bonaventura

Seit Ende der 50er-Jahre hat Hans Blumenberg, wohl unter direktem Einfluss von Ernst Robert Curtius’ Topos-Konzept, seine Metaphoro­logie sowohl durch systematische Sammlung von Paradigmen als auch theoretisch entwickelt. Allerdings muss ihm bald vor dem sich abzeich­nenden Umfang des Projektes gegraut haben, denn Ende der 70er-Jahre plant er zusammen mit dem Suhrkamp Verlag, die Metaphoro­logie zuerst peu à peu in einzelnen Taschenbüchern erscheinen zu lassen und diese Teile erst nachträglich zusammenzuführen.

So erschien 1979 als erster Teil dieses Projekts das Bändchen »Schiffbruch mit Zuschauer«, das die von Lukrez geprägte Metapher von dem am sicheren Land stehenden stoischen Betrachter des Schiffbruchs der anderen im Meer der Welt durch diverse Wandlungen hindurch bis ins 20. Jahrhundert hinein verfolgt. Ergänzt wird der historische Gang um einen Essay, der so etwas wie die Grundlegung einer Metaphorologie als Theorie der Unbegrifflichkeit liefert. Allein die verständige Lektüre dieser knapp 20 Seiten erspart einem die ganzer Kompendien.

»Schiffbruch mit Zuschauer« war kein Erfolg, weswegen Blumenberg den Plan einer systematischen Fortsetzung aufatmend fallen lassen konnte. Er hat dann den gesammelten Stoff zu zahlreichen Zeitungsbeiträgen verarbeitet, die Suhrkamp wiederum zu ganz wundervollen Bändchen zusammengestellt hat. Und auf diese Weise wurde Hans Blumenberg zu einem Meister des 100-Seiten-Buchs.

Länge des Buches: ca. 222.500 Zeichen. – Ausgaben:

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.

Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997.

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100-Seiten-Bücher – Teil 33
Lewis Carroll: »Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867« (1928/1935)

Berlin, 7. September 2012, 14:45 | von Josik

Günter Grass, der nach Angaben von Sibylle Berg »ungefähr 119« Jahre alt ist, hat vor ein paar Monaten, von der Öffentlichkeit fast gänzlich unbeachtet, ein einzelnes Kapitel aus dem »Butt« neu ausgekoppelt und als Hundertseiter herausgebracht. Das den Tagebüchern von Charles Lutwidge Dodgson entnommene »Russian Journal« ist da freilich eine Auskopplung ganz anderen Kalibers. Auf der Reise nach Russland stellt Carroll fest: »Gewisse Teile von Berlin sehen aus wie ein Schlachthaus für Fossile«, eine Beobachtung, die ja heute noch genauso zutrifft.

Ich lese dieses Buch, weil es so unbeschreiblich toll und voller allerliebster Zeichnungen ist, jedes Jahr etwa zwei Mal, hierin dem Beispiel Christiane Frohmanns folgend, die über Kafkas »Proceß«, eines ihrer Lieblingsbücher, neulich sagte: »Dieses Buch lese ich mindestens einmal im Jahr«.

Felix Philipp Ingold lobt im Nachwort zur deutschen Ausgabe: »Bezüg­lich der Zahlen fällt auf, daß Carroll/Dogdson […] Daten, Termine, Größen oder Distanzen präzis anzugeben pflegt, daß er […] mit genauen Zahlenangaben aufwartet« (S. 126). Dies trifft aber auf folgende, für einen Mathematiker doch recht ungewöhnliche Stelle nicht zu: Am 24. August notiert Carroll, er habe »ein bis zwei Kirchen« (im Original: »one or two churches«) besucht.

Solche Ungenauigkeiten finden sich aber etwa auch in »Dichtung und Wahrheit«, z. B. dort, wo Goethe berichtet, wie er einmal auf den Gedanken verfallen sei, einen Roman »von sechs bis sieben Geschwistern« zu erfinden, und dann zählt er sie allesamt auf: eine Schwester und sechs Brüder. Macht sieben. Aber womöglich zählt der jüngste Bruder gar nicht, einfach aus dem Grund, weil er eben der jüngste ist, oder wie Goethe ihn nennt: das »Nestquackelchen«.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (?). – Ausgaben:

Lewis Carroll: Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867. Aus dem Engl. von Eleonore Frey. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Ostfildern: Edition Tertium 1997. S. 3–115 (= 113 Textseiten, einige davon mit hübschen Bildchen vollgepflastert)

Lewis Carroll: Tagebuch einer Reise nach Rußland im Jahr 1867. Aus dem Engl. von Eleonore Frey. Hrsg. von Felix Philipp Ingold. Frankfurt/M; Leipzig: Insel-Verlag 2000.

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