Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 32
Max Frisch: »Wilhelm Tell für die Schule« (1971)

Genf, 24. August 2012, 15:27 | von Baumanski

Dass die meisten Schweizer ihre Kenntnisse über die (Früh-)Geschichte ihres Landes hauptsächlich aus Legenden und aus Schillers gut zitier­barem Freiheitsdrama beziehen, daran hat sich auch im 21. Jahrhun­dert kaum etwas geändert. Verschiedene Historiker haben es aber durchaus unternommen, den Tellmythos zu demontieren, schon im Jahr 1760 etwa der Berner Pfarrer Uriel Freudenberger, und 1971 eben auch Max Frisch mit seinem »Wilhelm Tell für die Schule«.

Held des knappen Hundertseiters ist der Reichsvogt Gessler, der bei Frisch »Ritter Konrad oder Grisler, immer wahrscheinlicher aber Ritter Konrad von Tillendorf« heisst: ein kopfwehgeplagter Gesandter »ohne Sinn für Landschaft«, der es kaum erwarten kann, die enge und rückständige Urschweiz wieder zu verlassen. »Obschon man sich ein Ende dieses Mittelalters nicht vorstellen« kann, versucht Ritter Konrad, die sturen Urner vom Fortschritt zu überzeugen, doch es ist zwecklos. Der Apfelschuss kommt gar nicht erst zustande und der schweigsame Jäger Tell wird am Ende zum üblen Meuchelmörder.

Den Frisch gegenüber bis heute gehegten Verdacht der Humorlosigkeit kann dieses Büchlein widerlegen, nicht ganz aber – wen wundert’s bei diesem Titel – die ihm oft zugeschriebene Oberlehrerhaftigkeit. Die Erzählung ist mit 74 unterschiedlich ernsthaften Anmerkungen ver­sehen: eine kleine historische Lektion hier, etwas Zeitkritik dort, aber in Notiz 69 immerhin auch ein Hinweis auf Zuger Fischspezialitäten!

Länge des Buches: ca. 102.000 Zeichen. – Ausgaben:

Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971. S. 5–96. (= 92 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 31
Sun Tsu: »Die Kunst des Krieges« (um 500 BC)

Hamburg, 1. August 2012, 21:23 | von Dique

Das Buch ist für Leseökonomen der beste Shortcut vorbei am tausendseitigen Ziegelstein von Clausewitz, ob zu Recht oder Unrecht, soll hier nicht das Thema sein. Der kurze Klassiker von Sun Tsu ist 2.500 Jahre alt und liegt seit ca. 100 Jahren auf Deutsch vor. Das Buch gilt als zeitlos und zu jeder Lebensphase passend, ungefähr so wie der »Fürst« von Machiavelli.

Ich hörte das erste Mal von dem schönen kleinen Büchlein in Oliver Stones »Wall Street«, in dem er Gordon Gekko daraus zitieren lässt. Es handelt sich dabei natürlich nicht um die beiden Gekko-Klassiker »If you need a friend, get a dog« oder »Lunch is for wimps«. Sondern eher hierum: »I don’t throw darts at a board. I bet on sure things. Read Sun-tzu, The Art of War. Every battle is won before it is ever fought.« Der aufstrebende Bud Fox folgt natürlich dem Rat von Gekko und zitiert später im Film selbst noch Sun Tsu.

Das Buch ist in seiner Kürze schnörkellos, pragmatisch und kompakt. Theoretisch könnte das auf viele Titel dieser Serie über 100-Seiten-Bücher zutreffen. Im Vergleich zur fließenden Lektüre der »Kunst des Krieges« gleicht aber zum Beispiel das Lesen von Handkes »Angst des Tormanns beim Elfmeter« einer endlosen Woche in der Dante-Hölle.

Wie üblich bei urheberrechtsfreien Titeln gibt es jede Menge Ausgaben in schrecklicher Aufmachung oder PDF-Versionen direkt aus dem Internet. Die gängigste deutsche Version hat ein Vorwort von James Clavell, das mit den versöhnlichen Worten endet: »… das wahre Ziel des Krieges ist der Frieden.«

Länge des Buches: ca. 117.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Sunzi: Das Buch vom Kriege. Der Militär-Klassiker der Chinesen. Mit Bildern nach chinesischen Originalen. Verdeutscht von Bruno Navarra. Berlin: Boll u. Pickardt 1910.

Sunzi: Die Kunst des Krieges. Hrsg. u. mit e. Vorw. von James Clavell. Aus d. Amerikan. von Jürgen Langowsky. München: Droemer Knaur 1988.

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100-Seiten-Bücher – Teil 30
Wallace D. Wattles: »The Science of Getting Rich« (1910)

Hamburg, 21. Juli 2012, 14:24 | von Dique

Hundert Jahre alt und hundert Seiten lang. Reichwerden mit Ansage. Seit seinem ersten Erscheinen ist dieses Buch natürlich ein Dauer­brenner. Der irgendwie wissenschaftliche Ansatz entpuppt sich dabei gleich als ziemlich esoterische Kante.

Wattles geht davon aus, dass es eine Kraft gibt, die frei verfügbar ist und von jedem Individuum abgerufen werden kann. Mit Hilfe dieser Kraft kann man alles erreichen. Es geht ihm dabei nicht unbedingt um monetären Reichtum, sondern Erfolg im Allgemeinen. Diesen Erfolg muss man wollen, man muss ihn planen und man muss sich diesem opfern. Man muss sich bereits in der Position sehen, in die man strebt, man muss von seinem Ziel ein mentales Bild formen (das Traumhaus mental planen, einrichten und bewohnen), damit sich das angestrebte Ziel einstellen kann und schlussendlich Realität wird, werden muss.

»Every man or woman who does this will certainly get rich; for the science herein applied is an exact science, and failure is impossible.«

Das Buch ist hochgradig repetitiv. Das Buch ist hochgradig repetitiv. Das Buch ist hochgradig repetitiv.

Ich habe es vor Jahren trotzdem ganz zu Ende gelesen, danach gleich noch »Think and Grow Rich« (1937) von Napoleon Hill und »Secrets of the Millionaire Mind« (2005) von T. Harv Eker. Und was soll ich sagen, ich bin sehr, sehr reich geworden.

Länge des Buches: ca. 123.000 Zeichen (engl.), ca. 141.000 Zeichen (dt. Übersetzung von Helmut Linde, 2007). – Ausgaben:

Wallace D. Wattles: The Science of Getting Rich. Rockville: Arc Manor 2007. S. 5–107. (103 Textseiten) (online)

Wallace D. Wattles: Die Wissenschaft des Reichwerdens. Aus dem Engl. von Johanna Ellsworth. Hamburg: Nikol 2009.

Wallace D. Wattles: The science of getting rich. Die Kunst des Reichwerdens. Aus dem Engl. von Katrin Ingrisch. München: Knaur-Taschenbuch 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 29
Johann Gottfried Herder: »Journal meiner Reise im Jahr 1769« (1846)

Berlin, 18. Juli 2012, 16:40 | von Josik

Laut Arno Schmidt und einigen anderen steht das Original auf »72 enggeschriebenen Quartseiten«. Gedruckt sind das rund hundert Seiten, die als ›Reisejournal‹ allerdings ziemlich irreführend gelabelt sind: Über die Reise selbst, die Herder von Riga nach Paris und von dort wiederum ins sogenannte Weimar des Nordens, nach Eutin, führte, erfährt man hier fast gar nichts, vielmehr hat man bei der Lektüre über weite Strecken den Eindruck, die Notate eines über­eifrigen jungen bayerischen Kultusministeriumsbeamten vor sich zu haben, der auch im Urlaub noch die bestmöglichen Schullehrpläne auszuarbeiten versucht.

Wie sehr sich der sturmunddrängende Mittzwanziger vor lauter Begeisterung über seine Ideen – hier für die zweite Klasse – über­schlägt, sieht man an den inflationär gebrauchten Ausrufezeichen: »Welch Gymnasium! Welche schöne Morgenröte in einer antiken Welt! Welch ein römischer Jüngling wird das werden! Hier also kommt antike Historiographie, Epistolographie, Rhetorik, Grammatik! Man sieht, wie übel, daß man […] überhaupt Grammatik einer antiken Sprache nicht von der modernen unterscheidet! Hier wird alles unterschieden, lebendig gekostet, nachgeeifert! In dieser Klasse muß sich der lateinische Stil bilden!« (S. 55)

Na ja, und so geht’s halt weiter. Immerhin, ursprünglich war das Journal gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Was Herder an den Franzosen schließlich überhaupt nicht fassen kann, ist folgendes: »Alles spricht hier Französisch, sogar Piloten und Kinder!« (S. 77) Kurz darauf notiert er noch einmal für sich als Gedächtnisstütze: »Ja, aber daß ich nirgends die Frage vergesse: in Frankreich reden auch die Kinder französisch?« (S. 80; vgl. YouTube)

Länge des Buches: ca. 182.000 Zeichen. – Ausgaben:

Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag 1999. S. 3–113. (111 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 28
Joseph Brodsky: »Erinnerungen an Leningrad« (1986)

Berlin, 9. Juli 2012, 08:15 | von Josik

Der Hanser Verlag hat aus Joseph Brodskys 500-seitigem Essayband »Less Than One« (1986) für das deutsche Publikum zunächst einen kompakten Hundertseiter herausgeschält. Dieser Auswahlband »Erinnerungen an Leningrad« erschien 1987 und lässt sich qua Titel auch heute noch gut als Tourismusartikel verkaufen, jedenfalls wird er weiterhin in allen St.-Petersburg-Reiseführern empfohlen. Er besteht aus zwei Essays, dem ziemlich faden »Weniger als man« und dem fulminanten »In eineinhalb Zimmern«.

Seine Übersetzer hat Brodsky auf jeden Fall mit folgendem Satz, in dem es um das Wort ›Jude‹ geht, vor Probleme gestellt: »In printed Russian, ›yevrei‹ appears nearly as seldom as, say, ›mediastinum‹ or ›gennel‹ in American English.« Die Deutschen übersetzen noch recht brav: »Im gedruckten Russisch kommt ›Jewrej‹ fast so selten vor wie etwa ›Mediastinum‹ oder ›Lichthaube« im Deutschen.« (S. 13) Die Russen hingegen lassen richtig die übersetzerische »Freiheits-Sau« raus: »В печатном русском языке слово ›еврей‹ встречалось так же редко, как ›пресуществление‹ или ›агорафобия‹.«

›Transsubstantiation‹ und ›Agoraphobie‹ sollen also im gedruckten Russisch selten vorkommen! Das ist mit Google Books heute leicht widerlegbar, es ist aber noch harmlos gegen die folgende Stelle – den entsetzlichsten Druckfehler, der mir jemals begegnet ist: Auf S. 62 der deutschen Ausgabe ist von der »Frontanka« die Rede.

Gut, dafür kann Brodsky nichts; in seinem zweiten Essay schreibt er allerdings höchstpersönlich: »Ein normaler Mensch erinnert sich nicht daran, was er zum Frühstück gegessen hat.« (S. 108) Das ist nun wirklich völliger Blödsinn, denn jeder normale Mensch erinnert sich in der Regel jeden Tag daran, was er zum Frühstück gegessen hat, aus dem einfachen Grund, weil man normalerweise jeden Tag das Gleiche zum Frühstück isst. Ich zum Beispiel trinke seit mehreren Jahrzehnten jeden Tag zum Frühstück eine heiße Schokolade und esse dazu eine Stulle, und mir ist es sogar gelungen, diese Frühstücksangewohnheit auch auf Reisen beizubehalten, egal wo ich gerade auf Urlaub war, ob in Schottland oder auf der Krim, ob in La Réunion oder wie neulich mit Marcuccio und Paco in Chemnitz.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Joseph Brodsky: Erinnerungen an Leningrad. Aus d. Amerikan. von Sylvia List u. Marianne Frisch. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1990. S. 3–119. (= 117 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 27
Lion Feuchtwanger: »Moskau 1937« (1937)

Berlin, 29. Juni 2012, 08:06 | von Josik

Als Lion Feuchtwanger diesen Text im Jahr 1937 veröffentlichte, löste er damit einen der größten Skandale in der Geschichte der Weltlitera­tur aus. Er berichtet davon, wie er auf seiner Reise in die Sowjetunion sich mehrere Stunden mit Stalin persönlich unterhalten hat. Stalin selbst scheint von seinem Gesprächspartner allerdings ziemlich ge­langweilt gewesen zu sein, wie Feuchtwanger offen zugibt: »Stalin […] malt, während er seine bedachten Sätze formt, mit blau und rotem Bleistift Arabesken und Figuren auf ein Blatt Papier.« (S. 82)

Manchmal verwickelt Feuchtwanger sich in Widersprüche, einmal sagt er: »Stalin also redet laut und deutlich« (S. 60), dann sagt er wieder: »Stalin […] spricht mit leiser […] Stimme«. (S. 82). Da soll man sich auskennen! Interessant aber, wie sehr Feuchtwanger zufolge die Sowjetmenschen sich gegenüber ausländischen Ministern als Spaß­bremsen gaben: »Der akkreditierte Minister eines ausländischen Staates erzählte mir, und es war nur halb im Scherz, wie er an Feier­tagen sehnsüchtig vor den Swimming-pools der Arbeiter stehe; er habe nirgends Zutritt.« (S. 15)

Im Westen hingegen sieht es nicht nur an Feiertagen düster aus: »Die meisten Briefe«, berichtet Feuchtwanger, »die junge Menschen außer­halb der Sowjet-Union an mich schreiben, sind SOS-Rufe. Zahllose junge Menschen im Westen […] haben nicht nur keine Aussicht, die Arbeit zu bekommen, die ihnen Freude macht, sondern überhaupt keine Aussicht auf Arbeit.« (S. 19f.) Es ist zwar nicht bekannt, ob Feuchtwanger diesen SOS-Rufern dann den Rat erteilt hat, in die Sowjetunion rüberzumachen, aber offensichtlich gab es eben schon damals Schriftsteller, die nachgrübelten, wie man junge Menschen wieder in Arbeit bringt und welche Maßnahmen für einen Standort überlebensnotwendig sind. Unter den Literaten machen sowas heutzutage ja nur noch Günter Grass und sein Biograf Michael Jürgs.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Amsterdam: Querido Verlag 1937.

Lion Feuchtwanger: Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag, 2. Auflage, 1993. S. 3–111. (= 109 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 26
Peter Handke: »Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien« (1996)

Berlin, 27. Juni 2012, 13:43 | von Josik

Als Peter Handke diesen Text im Januar 1996 in der S-Zeitung veröffentlichte, löste er damit einen der größten Skandale in der Geschichte der Weltliteratur aus. Noch fast zehn Jahre später hat Elfriede Jelinek vermutet, dass Handke den Nobelpreis wohl nur deshalb nicht kriegt, weil er immer »wieder irgendwelche Blödheiten über Serbien äussert«.

Andere hingegen loben Handke für seinen unbestechlichen Blick aufs Detail, aufs Unscheinbare, dem sich dann umso tiefere Erkenntnisse verdanken würden, und tatsächlich: Man staunt nicht schlecht, wenn Handke während seiner Winterreise einen Supermarkt neben »dem einheimischen Delo, der Tageszeitung aus Ljubljana, das deutsche Bild« (S. 110) vorrätig haben lässt, im Neutrum!: das deutsche Bild, obwohl doch ausnahmslos jeder andere Mensch sonst sagt: die Bild. Handke aber besteht da erfreulicherweise auf dem korrekten Genus, und man kann sicher sein, dass er grammatikalisch präzise auch ›der König der Biere‹ sagen würde.

Andererseits, so weit kann’s mit dem Blick aufs Detail bei Handke dann auch wieder nicht her sein, der Hitler-Attentäter Georg Elser wird von Handke furchtbarerweise und auch in der 3. Auflage des Buches noch unkorrigiert »Georg Elsner« (S. 38) genannt, und in einem Satz, der so beginnt: »Was war das etwa für ein Journalismus, wie etwa« (S. 123), hätte Handke ruhig ein ›etwa‹ weglassen können.

Auf Seite 42 übrigens stößt Handke in einer Zeitung auf ein »Folge­photo«, das erinnerte mich daran, dass ich neulich in irgendeinem Museumsbericht das Wort »Folgesaal« gelesen und mich gleich maßlos über diesen vermeintlichen Quatsch-Neologismus aufgeregt habe, aber wenn selbst der von Jelinek als »lebender Klassiker« titulierte Handke das Wort »Folgephoto« benutzt, dann ist natürlich auch das Wort »Folgesaal« völlig o.k.

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. 3. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996. S. 3–135 (= 133 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 25
Wolfgang Hilbig: »Abriß der Kritik« (1995)

Berlin, 25. Mai 2012, 08:55 | von Josik

Vier während einer Poetikdozentur im Sommersemester 1995 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gehaltene Vorlesungen ergeben abgedruckt einen schönen Hundertseiter. Von Wolfgang Hilbig erfährt man in diesen Vorlesungen, obwohl es ja eigentlich um den Zusammenhang zwischen Literatur und Literaturkritik gehen soll, ungemein viel über seinen glühenden Hass auf Automobile: »Ich halte die Werbung für den Verkauf von Automobilen für Anstiftung zum Mord«, lautet so ein krasser und sicherlich zum Nachdenken anregender Satz.

In der zweiten Poetikvorlesung geht es um eine Talkshow »über den derzeit bekanntesten deutschen Literaturkritiker«. Die Ausstrahlung dieser Talkshow liegt zum Zeitpunkt der Poetikdozentur zwar schon einige Jahre zurück, Hilbig glaubt sich aber daran erinnern zu können, dass sie aus Anlass eines Jubiläums, womöglich eines runden Geburtstags des derzeit bekanntesten deutschen Literaturkritikers, gesendet worden sei. Auch Gisela Elsner habe dort in der Runde gesessen und den derzeit bekanntesten deutschen Literaturkritiker scharf und rücksichtslos attackiert.

Natürlich bestellte ich mir unverzüglich beim Südwestrundfunk einen Mitschnitt dieser Talkshow: Die Archivnummer lautet 340075 (SWR) bzw. 21059 (BAD). Wie sich dann herausstellte, handelte es sich aber gar nicht um eine Jubiläumssendung für den derzeit bekanntesten deutschen Literaturkritiker, sondern bloß um eine Talkshow im Rahmen der 10. Internationalen Funkausstellung. Auch Thomas Hettche hat dort einen Auftritt, er sitzt aber nicht in der Runde der eigentlichen Talkshowgäste, sondern steht etwas abseits an der Bar und sagt einige sehr interessante Sachen.

Länge des Buches: ca. 184.000 Zeichen. – Ausgaben:

Wolfgang Hilbig: Abriß der Kritik. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995. S. 3–110 (= 108 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 24
Cesare Pavese: »Am Strand« (1942)

Düsseldorf, 19. Mai 2012, 09:59 | von Luisa

Abends ruft Giulio an. Er baut ein Haus.

– Und du, was tust du?
– Ich lese einen Hundertseiter von Cesare Pavese.
– Und?
– Wollte ich schon vor Jahren in den Container schmeißen.
– Und?
– Die Leute sind Ende zwanzig und haben ein Stubenmädchen.
– Hätt ich auch gern. Von wann ist das Buch?
– 1942.
– Gottogott.
– Lauter Hohlköpfe, Villa am Meer und liegen am Strand und tun gar nichts.
– Ich hab den ultimativen Bäderladen aufgetan.
– Erzählt wird das von einem Studienrat, stell dir vor.
– Es gibt ja so geile Fliesen heute. Sag mal, war da nicht Krieg?
– Nicht im Buch.
– Willst du nicht vorbeikommen und aussuchen helfen?
– Pavese hat sich umgebracht.
– Ach komm.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen (ital. 112.500). – Ausgaben:

Cesare Pavese: Am Strand. Roman. Aus dem Ital. von Arianna Giachi. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1983.

Cesare Pavese: Am Strand. Roman. Aus dem Ital. von Arianna Giachi. München: Ullstein-Taschenbuchverlag 2001.

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100-Seiten-Bücher – Teil 23
Robert Louis Stevenson: »Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde« (1886)

Genf, 14. Mai 2012, 21:15 | von Baumanski

Robert Louis Stevensons »Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde« ist geradezu ideal für die gut vierstündige Fahrt von Edinburgh nach London, von der Geburtsstadt des Autors zum Handlungsort. Ich nehme das Buch zwar erst in Newcastle zur Hand, aber das dürfte immer noch locker reichen.

»Jekyll und Hyde« ist natürlich ein Überklassiker, den Inhalt kennen selbst Leute, die ein Buch nicht richtig herum aufschlagen können. Unzählige Male wurde die Geschichte adaptiert, kopiert, verfilmt oder im »Lustigen Taschenbuch« mit Enten neu besetzt. Wenn ich sie für eine Verlagsbroschüre betexten müsste, dann so: »Stevensons Novelle verbindet den wohligen Grusel der klassischen Gothic Fiction mit dem angenehmen Fluss viktorianischer Prosa und der Übersichtlichkeit eines Hundertseiters. Dieser Text hat das Klischeebild von Londons dunklen und nebligen Strassen geprägt wie sonst höchstens noch die Werke von Arthur Conan Doyle.« Und wirklich, der Nebel liegt, rollt, schläft über der Stadt, hebt sich und senkt sich und bildet auch mal eine »foggy cupola«.

Das Ganze wird allenfalls dadurch ein bisschen getrübt, dass man, wie gesagt, die Auflösung schon kennt, bevor der völlig verwirrte Utterson endlich die beiden Briefe öffnen darf. Wie dem auch sei: Eine halbe Stunde vor London ist das Buch durchgelesen und am Bahnhofs­ausgang bin ich schon fast ein bisschen enttäuscht von der klaren und nebelfreien Nacht.

Länge des Buches: ca. 164.000 Zeichen (Thesing-Übersetzung), ca. 138.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Erzählung. Aus dem Engl. von Marguerite und Curt Thesing. Zürich: Diogenes 1996.

Robert L. Stevenson: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Erzählung. Aus dem Engl. übers. von Hermann Wilhelm Draber. Leipzig: Reclam 2001.

Robert Louis Stevenson: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Aus dem Engl. von Grete Rambach. Frankfurt am Main; Leipzig: Insel-Verlag 2004.

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