Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 22
C. F. Lhomond: »De viris illustribus« (1779)

Paris, 1. März 2012, 00:35 | von Niwoabyl

Wir waren heute in der Rue Lhomond verabredet, die unweit des Panthéon die tourismusaffine Rue Mouffetard mit der filmreifen Idylle des Place de l’Estrapade verbindet. Weit spannender als unser Ge­spräch über Pariser Altertümer – die Stadtmauer des Philipp Augustus lag ja mal ganz in der Nähe – wäre jedoch die Frage gewesen, wer denn der Namensgeber der Lhomond-Straße nun gewesen ist.

»Grammairien« steht da auf den Straßenschildern geschrieben. Hinter der bescheidenen Bezeichnung versteckt sich aber einer der vielleicht einflussreichsten Männer der französischen Literaturgeschichte. Bis in die Fünfzigerjahre hinein haben alle sein Buch gelesen: »De viris illustribus urbis Romæ, a Romulo ad Augustum«, ein süffiger neulatei­nischer Hundertseiter, der die Geschichte Roms in Anekdoten möglichst einfach nacherzählt.

Die längst vergriffene kleinformatige Ausgabe der Reihe Classiques Hachette war schon lange zum Kultbuch geworden, als der Text in den Neunzigern endlich neu aufgelegt wurde. Man kann ihn durchaus als kluge Stilübung lesen, in der die Sprache ganz allmählich und parallel zum Lauf der Geschichte, also mimetisch, komplizierter wird. Und wann immer die écrivains et penseurs mal wieder mit ihrem Wissen über die römische Geschichte geprotzt haben, darf man fast sicher sein, dass sie das nicht aus dem Livius oder dem Cornelius Nepos hatten, sondern aus dem kleinen, feinen Lhomond.

Länge des Buches: ca. 202.000 Zeichen (lat.). – Ausgaben:

C. Lhomond: De viris illustribus urbis Romæ, a Romulo ad Augustum. Lyon: Savy 1805. S. 1–224. (= 224 Textseiten) (online)

C. F. L’Homond: Viri illustres urbis Romæ, a Romulo ad Augustum. New York: George Long 1835. S. 1–134. (= 134 Textseiten) (online)

Lhomond: De viris illustribus urbis Romæ a Romulo ad Augustum. Paris: Hachette 1857. S. 1–104. (= 104 Textseiten) (online)

Lhomond: Urbis Romae viri illustres a Romulo ad Augustum. Überarb. und mit einem Wörterbuch versehen von C. Holzer. Stuttgart: Neff 1856. (14. Auflage 1923)

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100-Seiten-Bücher – Teil 21
Heinrich v. Kleist: »Michael Kohlhaas« (1808/10)

Leipzig, 22. Januar 2012, 23:29 | von Paco

Mit 221.000 Zeichen handelt es sich um ein ziemlich langes 100-Seiten-Buch (unsere angenommene Obergrenze für das 100-Seiten-Projekt ist 230.000), und bei Kleist muss man ja sowieso auch noch die Kommas mitlesen, und das dauert eben eine Weile.

Und wofür der berühmte Pferdehändler Michael Kohlhaas eigentlich berühmt ist, seine infernalische Selbstjustiz, das findet auf höchstens 10 Seiten statt. Zunächst wird Kohlhaas ja vom selbstherrlichen Junker Wenzel von Tronka zum Besten gehalten, denn dieser hat sich einen Passagierschein ausgedacht, der gar nicht nötig ist. Kohlhaas will das bei der zuständigen Stelle in Dresden klären und lässt als Pfand zwei seiner Rappen zurück, die bei seiner Rückkehr aber arg runterge­kommen und damit wertlos geworden sind.

Sein Kampf um Gehör bei Gericht schlägt überall fehl, überdies kommt seine Frau dabei um. Er beerdigt sie noch schnell und »übernahm so­dann das Geschäft der Rache«, auf Seite 28 der Reclam-Ausgabe. Er brennt die Tronkenburg nieder und ermordet ein paar Leute, er äschert dreimal Wittenberg ein und bekämpft und besiegt die zu seiner Ergreifung ausgeschickten Truppen. Auf Seite 39 steckt er auch noch Leipzig »an drei Seiten« in Brand, aber das war es dann auch schon. Er unterredet sich mit Martin Luther höchstpersönlich und nach dessen Fürsprache verlagert sich die Handlung nach Dresden und es wird Zeit für gerichtlich-taktiererische, jedenfalls unkämpferische und ungrau­same Verwicklungen.

Am haarsträubendsten ist dann noch die urplötzlich aus dem absoluten Nichts heraus startende Story um die Kapsel, die einen Stichpunkt­zettel dieser wahrsagenden Zigeunerin beherbergt. Dadurch wird alles noch mal um ganze 25 Seiten hinausgezögert, jedenfalls ist am Ende sogar der Sympathieträger froh, glücklich und zufrieden, dass er end­lich hingerichtet wird. Ist aber insgesamt ein schöner Hundertseiter, das sollte jetzt alles nicht so negativ klingen.

Länge des Buches: ca. 221.000 Zeichen. – Ausgaben:

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Hrsg. von Gerd Eversberg. Hollfeld: Bange 1998.

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Aus einer alten Chronik. Anmerkungen von Bernd Hamacher. Nachwort von Paul Michael Lützeler. Stuttgart: Reclam 2003. S. 1–109 (= 109 Textseiten).

Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. Erzählung. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2008.

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100-Seiten-Bücher – Teil 20
Marguerite Duras: »Der Liebhaber« (1984)

Düsseldorf, 19. Januar 2012, 21:40 | von Luisa

In einem Interview mit Bernard Pivot verrät Marguerite Duras, dass der Roman zunächst »La photographie absolue« heißen sollte. Gemeint ist das Foto, das nicht gemacht wurde, dessen fragmentarische, aus Wiederholungen komponierte Beschreibung aber das Gedächtnis des Lesers erobert. Ein Foto von 1929, das die fünfzehnjährige Marguerite auf einer Fähre über den Mekong zeigt. Die Flussüberquerung gehört zu ihrem Schulweg, hier lernt sie den Liebhaber kennen.

»Der Liebhaber« ist ein irreführender Titel. Die Leidenschaft des zwölf Jahre älteren chinesischen Millionärssohns für die Tochter einer fran­zösischen Lehrerin beschert dem Buch die schillernde Oberfläche und den Sensationserfolg. Tabubrüche, Hitze, Hochmut der weißen Rasse, Saigon und seine Geheimnisse – um sich davon betören zu lassen, nehmen die Leser auch die Familiengeschichte in Kauf, die darunter glüht und viel wichtiger ist. Bernard Pivot kann es nicht lassen, nach immer noch mehr Einzelheiten über die Mutter, die Brüder zu fragen. Er bemerkt nicht, wie sehr das die siebzigjährige Autorin schmerzt. Sie weist ihn zurecht, zwei Minuten später beginnt er aufs Neue. Was bedeutete die Überfahrt über den Fluss? Quitter ma mère, sagt sie mit einer Trauer, als sei es gestern geschehen.

Die Mutter empfiehlt die Mathematik, die Tochter entscheidet sich für das Schreiben. Viele Schriftsteller, so behauptet sie, verfassen Werke, ohne wirklich zu schreiben, Sartre zum Beispiel (Pivots Haare sträuben sich). Auch ihr selbst sei es nicht in allen Büchern gelungen. Aber in diesem. Zauberei!, ruft Pivot. Wie haben Sie das gemacht? Dabei steht ja schon auf Seite 15, worauf es ankommt: Das Geschriebene muss einen Ort finden, wo es sich »verbergen« kann und wo seine »funda­mentale Anstößigkeit« respektiert wird. Solche Sätze sind exotisch. Man muss ihr Brennen auskosten, sonst hilft auch der Chinese nicht.

Länge des Buches: ca. 172.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Französischen von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989. S. 3–194 (= 192 Textseiten).

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. München: Süddt. Zeitung GmbH 2004.

Marguerite Duras: Der Liebhaber. Roman. Aus dem Franz. von Ilma Rakusa. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010.

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100-Seiten-Bücher – Teil 19
Eduard von Keyserling: »Am Südhang« (1916)

Düsseldorf, 12. November 2011, 10:51 | von Luisa

Eduard von Keyserling wird abwechselnd sanft vergessen und wieder entdeckt – insofern ist »Wellen« (der Titel seines bekanntesten Romans) auch eine schöne Beschreibung seines Nachruhms. Dass dieser nicht intensiver wurde, verhinderte der baltische Graf, indem er stets dieselbe Geschichte erzählte. Man stelle sich vor, Thomas Mann hätte dem »Verfall einer Familie« noch andere folgen lassen – der Nobelpreis wäre dahin gewesen.

Eine Keyserling-Geschichte spielt auf östlichen Landgütern unter müden Adligen, handelt von Amouren, die nicht lustvoller sind als die Ehen, von Todesfällen, Langeweile, Sommerhitze und Schwermut. Herrliche Gärten, intakte Natur und das strahlende Licht über der Ostsee werden durchaus geschätzt, helfen aber nicht gegen den ennui. Frauen tun nichts, Männer wenig mehr, manchmal sorgen ein Duell oder ein Suizid für ein wenig Aufregung. Geweint wird reichlich, auch von Männern, aber die Tränen erschüttern nicht mal die, die sie vergießen.

Vielleicht weil »Am Südhang« alle diese Elemente perfekt vereint, wurde die Erzählung von Florian Illies als Keyserlings Meisterstück gerühmt. Aber mir gefällt »Schwüle Tage« viel besser, weil da endlich mal nicht nur Melancholie herrscht, sondern auch Komik. Ein teils muffliger, teils munterer Siebzehnjähriger berichtet, dessen naiver Charme entschieden mehr Anteilnahme weckt als der Leutnant Karl Erdmann, mit dem sich der allwissende »Südhang«-Erzähler auch ziemlich zu langweilen scheint. Beide Geschichten warten übrigens am Ende mit einer Leiche auf und natürlich wird dann geweint, aber die Tränen, siehe oben.

Länge des Buches: ca. 148.500 Zeichen. – Ausgaben:

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Berlin: S. Fischer [1916].

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Mit einem Nachwort von Richard Brinkmann. Stuttgart: Reclam 1963.

Eduard von Keyserling: Am Südhang. Erzählung. Coesfeld: Elsinor 2006.

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100-Seiten-Bücher – Teil 18
Ferdinand von Saar: »Leutnant Burda« (1887)

Leipzig, 25. Oktober 2011, 07:33 | von Paco

»Leutnant Burda« ist ein absolutes Spitzenwerk der Weltliteratur. Auf knapp hundert Seiten wird hier die Entwicklung einer sehr speziellen fixen Idee geschildert. Die Hauptfigur, der Leutnant Joseph Burda, ist sicher einer der tragischsten Semiotiker, die sich denken lassen. Er missinterpretiert ein paar vermeintliche Zeichen und gelangt so zu der Überzeugung, dass sich die Prinzessin Fanny in ihn verliebt hat und nun beständig seine Nähe sucht. Die junge Dame befindet sich natürlich himmelschreiend weit außerhalb von Burdas Möglichkeiten, sie ist eine der Töchter des Fürsten L., der zum Hofstaat gehört.

Allerdings scheint in den zufälligen Gesten der Prinzessin ab und zu auch aus Sicht des Erzählers »ein Schein der Absichtlichkeit« zu liegen. Dieser Burda-Logik kann man sich anfangs auch nicht entziehen. Das ist ganz große Erzähl- und Spannungskunst, wie man hier während der Lektüre gezwungen wird, Wahrscheinlichkeiten auszuloten und absurde Schlussfolgerungen für vielleicht doch möglich zu halten. In der Summe führen diese Fehldeutungen bei Burda dann aber zu einem sich nur noch selbst bestätigenden Wahn, der ihm durch kein gutes Zureden mehr auszutreiben ist.

Er wird zwischenzeitlich zum Stalker, sodass ein fürstlicher Adjutant den Erzähler bitten muss, Burda zur Räson zu bringen, um Peinlicheres zu verhindern. Er ist dann zwar auch vorsichtiger, vermutet im Hintergrund aber eine Intrige, auf dass die Prinzessin gegen ihren Willen von ihm ferngehalten werde. Der Erzähler, ein Offizierskollege, führt uns mit ein paar Schauplatzwechseln (Brünn, Wien, eine ungenannte Ortschaft in Böhmen, Prag) in neun ungefähr gleichlangen Kapiteln bis zum Showdown auf dem Hradschin (»Il l’a voulu.«). Dabei wird vor allem das Wien der 1850er Jahre (vor dem Bau der Ringstraße) ganz nebenbei noch mal ein bisschen mit abgefeiert.

Länge des Buches: ca. 121.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ferdinand von Saar: Leutnant Burda. Novelle. Leipzig: Hesse & Becker (ca.) 1915.

Ferdinand von Saar: Leutnant Burda. Novelle. Wien; Leipzig: Luser 1939.

Ferdinand von Saar: Leutnant Burda. Kritisch hrsg. und gedeutet von Veronika Kribs. Tübingen: Niemeyer 1996. S. 3–49. (= 47 Textseiten)

Ferdinand von Saar: Leutnant Burda. Göttingen: Steidl 1998. S. 3–95. (= 93 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 17
Adolph Müllner: »Der Kaliber« (1828)

Leipzig, 19. Oktober 2011, 13:52 | von Paco

Spätherbstliche Witterung, Abenddämmerung, die ersten Schnee­flocken. Herr von L. sitzt noch an seinem Arbeitstisch. Da sucht ihn der Reisende Ferdinand Albus auf und berichtet vom Mord an seinem Bruder Heinrich, geschehen soeben im finsteren Scheidewald, der sowieso von Räubern heimgesucht wird und dem Herrn von L. ein Dorn im Auge ist.

Der Beamte ist also fast glücklich über den Mord, denn nun hat er endlich eine Handhabe, nun muss trotz »permanenter Exerzierzeit« endlich das Militär ausrücken und die Räuber einsammeln. Darum geht es im Verlauf der Geschichte aber gar nicht so sehr, sondern um den Fall Albus, der dann noch mehrere überraschende Wendungen nimmt.

Der Hundertseiter ist in 24 Kurzkapitel aufgeteilt, die Lektüre verschnellert sich auf diese Weise noch mal, trotz der behutsamen spätromantischen Diktion mit Sätzen wie diesen:

»Ich legte in meinem Zimmer einige Actenhefte zurecht, die in meiner Abwesenheit gebraucht werden konnten, und meine Schwester kramte in meinen Commodenfächern, um die einzelnen Stücke meiner selten gebrauchten Ballkleidung zusammen zu suchen. Die Tritte des Pferdes vor der Hausthür zogen sie ans Fenster.« (11. Kapitel)

Damit leitet sich genau in der Mitte der Novelle eine erste fundamen­tale Wendung ein. Der Kriminalbeamte Herr von L. ist als Erzähler übrigens ein (allerdings ungenialer) Vorläufer der späteren Meister­detektive von Edgar Allan Poe, Arthur Conan Doyle und Agatha Christie. Damit war Müllner seiner Zeit also ein bisschen voraus.

Länge des Buches: ca. 153.500 Zeichen. – Ausgaben:

Adolph Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten. Leipzig: Focke 1829. S. 1–216. (= 216 Textseiten) (online)

A. Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten. Leipzig: Reclam (ca.) 1868. S. 0–84. (= 85 Textseiten) (online)

Adolf Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Kriminalbeamten. Lahr: Schauenburg (ca.) 1908. S. 1–83. (= 83 Textseiten) (online)

Adolph Müllner: Der Kaliber. Aus den Papieren eines Criminalbeamten. Waging am See: Liliom Verlag 2002. S. 3–106. (= 104 Textseiten)

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100-Seiten-Bücher – Teil 16
Georges Rodenbach: »Das tote Brügge« (1892)

Düsseldorf, 1. Oktober 2011, 09:35 | von Luisa

Brügge ist so ziemlich die lebendigste Stadt Belgiens, wenn man Lebendigkeit nach Körperdichte pro Straßenkilometer definiert. Das ganze Jahr über wird es von Touristen berannt, sein Charme gleicht inzwischen dem von Venedig. Melancholie verbreitet höchstens das Wetter.

Das Buch weiß es anders: »Bruges-la-Morte« lautet der Originaltitel, Korngolds darauf basierende Oper heißt »Die tote Stadt«. Ein noch junger Witwer namens Hugues zieht aus Paris nach Brügge, weil dessen menschenleere Plätze die passende Kulisse für seine Trauerarbeit darstellen. Flandrischer Nebel, Dämmerung über den Kanälen, dazu eine Wiedergängerin der Toten, die den schlaffen Hugues zu ruinieren droht: Lautlos und andantissime schleicht die Geschichte ihrem melodramatischen Ende entgegen. Vielleicht weil Rodenbach spürte, wie dünn sie ist, bekräftigte er sie mit Fotografien der Stadt, die immer noch reizvoll sind.

»Brügge sehen … und sterben?« hieß vor ein paar Jahren ein Film, der mit dem Buch nur über ein paar Ecken verwandt ist, aber alles besser macht. Witwer Hugues nervt, während die Gangster Ray und Ken, jeder auf seine Weise, das Herz gewinnen. Spannung, Blutausstoß und Handlungskomplexität erreichen ebenfalls eine solide Höhe. Was zum Schluss im Belfried und auf dem Marktplatz geschieht, ist natürlich ein bisschen ekelhaft. Doch den Weg dahin bebildert die Kamera mit allerschönsten Ansichten der Giebelhäuser und engen Gassen, die eine so morbide Atmosphäre erzeugen wie sie Rodenbach wohl anstrebte: »Erdrosselt sank sie zu Boden.« Das Buch war ein Erfolg.

Länge des Buches: ca. 141.000 Zeichen (frz. 123.000). – Ausgaben:

Georges Rodenbach: Das tote Brügge. [Übertr. von Oppeln-Bronikowski.] Leipzig: Kurt Wolff Verlag 1918.

Georges Rodenbach: Das tote Brügge. Einzig autoris. Übers. aus d. Franz. von Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Mit e. Nachw. von Günter Metken. Stuttgart: Reclam 1966.

Georges Rodenbach: Brügge – tote Stadt. Aus dem Franz. von Dirk Hemjeoltmanns. Nachw. von Rainer Moritz. Bremen: Manholt 2003.

Georges Rodenbach: Brügge – die Tote. Übertragen von Reihard Kiefer in Zusammenarbeit mit Ulrich Prill und einem Nachw. von Bernhard Albers. Aachen: Rimbaud 2005.

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100-Seiten-Bücher – Teil 15
Arno Schmidt: »Schwarze Spiegel« (1951)

Solingen, 9. September 2011, 02:57 | von Bonaventura

Auf den ersten Blick ist Arno Schmidts erster Zukunftsroman ein Musterbeispiel für einen Hundertseiter. Doch könnte man Bedenken erheben: Zum einen hat Schmidt von seinem Roman »Das steinerne Herz« behauptet, er sei aufgrund der »Dehydrierung« des Textes eigentlich »ein Roman von 1200 Seiten« (was bei knapp 300 Druck­seiten immerhin einem Faktor größer 4 entspricht), eine Rechnung, die man getrost auch für »Schwarze Spiegel« aufmachen kann. Zum anderen könnte die Zugehörigkeit von »Schwarze Spiegel« zur Trilogie »Nobodaddy’s Kinder« zur Annahme verleiten, dass auch dieses Buch wie die beiden anderen einen dritten Teil haben müsste.

Doch halten wir uns ans Augenscheinliche: Erzählt werden die Erleb­nisse des beinahe letzten Menschen, nachdem der atomare Dritte Weltkrieg Mitte der 50er Jahre die Welt zerstört hat. Fünf Jahre nach der Katastrophe kommt der namenlose Ich-Erzähler nach Cordingen in der Lüneburger Heide und beschließt, dort eine Hütte im Wald zu bauen. Holz liefert ein nahegelegenes Sägewerk, Vorräte ein englisches Armeedepot. Über Bau und Ausstattung der Hütte vergeht der Sommer. Der zweite Teil setzt zwei Jahre später ein, als sich zum Erzähler die letzte Frau gesellt: Lisa. Die beiden verbringen einige Wochen miteinander, doch dann bricht Lisa wieder auf, da sie die Sesshaftigkeit nicht aushält. Ein dritter Teil fehlt, wie gesagt: Lisa kehrt nicht zurück, die Menschheit wird nicht fortgesetzt.

Diese idyllische Dystopie mit Anklängen an »Robinson Crusoe« und Coopers »Lederstrumpf« bietet einen hervorragenden Einstieg in Schmidts erzählerisches Frühwerk.

Länge des Buches: ca. 149.000 Zeichen. – Ausgaben:

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. In: Brand’s Haide. Zwei Erzählungen. Reinbek: Rowohlt 1951. S. 153–259. (= 107 Textseiten)

Arno Schmidt: Schwarze Spiegel. Mit einem Kommentar von Oliver Jahn. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006.

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100-Seiten-Bücher – Teil 14
Julien Green: »Der andere Schlaf« (1931)

Düsseldorf, 8. September 2011, 00:35 | von Luisa

Hallo Hauch, dachte ich, als das letzte Wort gelesen war, weh weiter aus jenem verwilderten Garten, wo ein junger Mann auf der Wiese liegt und schläft, während der andere, jüngere, der davon erzählt, sich über ihn beugt, bis sein Schatten den Schlafenden zudeckt, dann aber aufsteht und davon geht, langsam, durch andere Gärten, in der Gewissheit zukünftiger Leiden, aber auch in der plötzlichen Erkenntnis, dass er tatsächlich eines Tages sterben wird und also die Leiden endlich sind. Eine Liebesgeschichte, ein Coming-out aus alter Zeit (1931), erzählt in langen, sanften Schwindel erzeugenden Sätzen, die das Hirn runterdimmen zu allerschönstem Dämmern, im Bett zu lesen oder auf einem Schiffsdeck mit nichts als dem Meer vor Augen oder, am besten, in einem Liegestuhl im Sommergarten zwischen wuchernden Hecken, wo es nach trockenem Holz riecht und ganz still ist und man auf angenehme Weise nur die Hälfte mitkriegt von dem, was die Seiten füllt (obwohl ja die Personen mit einer Schärfe und Kälte analysiert werden, dass einen immer mal wieder der Frost schüttelt). Träumend von einem Schatten, der dunkelt und kühlt, umsponnen vom elastischen Faden französischer Erzähltradition, spürt man am ganzen Leibe, wenn man sich zwischendurch reckt und ein bisschen gähnt, dass es, bis auf das unschlagbare Eine, kaum etwas Schöneres gibt als die Hingabe an einen kurzen, brillanten, trägen Roman.

Länge des Buches: ca. 161.000 Zeichen (Schmid-Übersetzung). – Ausgaben:

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Deutsch von Carlo Schmid. Berlin; Frankfurt/M.: Suhrkamp 1958.

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Aus dem Französischen von Peter Handke. München; Wien: Hanser 1988.

Julien Green: Der andere Schlaf. Roman. Deutsch von Peter Handke. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2008.

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100-Seiten-Bücher – Teil 13
Arthur Schnitzler: »Traumnovelle« (1925)

Solingen, 3. September 2011, 14:16 | von Bonaventura

Diese etwas lang geratene Erzählung von 1925 kam 1999 noch einmal zu unerwarteter Prominenz, als Stanley Kubricks »Eyes Wide Shut« in die Kinos kam. Der Film versetzt die Handlung zwar von Wien nach New York und verlegt sie vom Anfang ans Ende des Jahrhunderts, erweist sich aber sonst als eine behutsame und minutiöse Literatur­verfilmung.

Erzählt werden einige Tage aus dem Leben des 35-jährigen Wiener Arztes Fridolin, der nach dem Geständnis seiner Gattin Albertine, sie habe sich im letzten Urlaub haltlos in einen jungen Mann verliebt, mit diesem aber nicht einmal ein Wort gewechselt, aus der Bahn seiner alltäglichen Routine geworfen wird. Er stürzt sich noch in derselben Nacht in eine sich steigernde Reihe erotischer Abenteuer, die darin gipfelt, dass er sich in eine geheime Orgie einschleicht, dort aber rasch enttarnt und aus dem Haus geworfen wird. Nach Hause zurückgekehrt, verwirrt ihn die Nacherzählung eines Traums seiner Frau noch tiefer. Am nächsten Tag vollzieht Fridolin seinen Weg aus der Nacht zuvor noch einmal nach, ohne die angestrebte Erlösung von seiner inneren Anspannung finden zu können. Erst seine erneute nächtliche Heim­kunft bringt eine Wendung der Krise.

Obwohl die Erzählung beim Erscheinen von der Kritik zumeist freundlich aufgenommen wurde, war sie kein bedeutender Erfolg. Erst im Rück­blick erweist sich diese Erzählung von der Gefährdung der Ehe durch die unterminierende Macht der Sexualität als überraschend klarsichtig.

Länge des Buches: ca. 167.000 Zeichen. – Ausgaben:

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Titelbild von Hans Meid, in Holz geschnitten von Oskar Bangemann. Berlin: S. Fischer Verlag 1926.

Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Stuttgart: Reclam 2006.

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