Das 100-Seiten-Buch ist ein Mythos. Es ist gerade so lang, dass es den Einzeldruck rechtfertigt. Es hat die magische Seitenzahlenuntergrenze erreicht, ohne sie dann wirklich zu überschreiten. Man kann es in einem Schwung lesen, zwei Stunden, drei Stunden, fertig, nächstes Buch.
Immer wenn es mir einfiel, habe ich um mich herum nach berüchtigten 100-Seiten-Titeln gefragt. Und immer wussten alle sofort, was gemeint war, obwohl die Maßeinheit ›100 Seiten‹ alles andere als unproblematisch ist. Schon beim ersten Aufscheinen der Idee, beim Baden im Goldfischteich des Cour aux Ernest in der Rue d’Ulm, kam eine stattliche Zahl prototypischer Hundertseiter zusammen:
Chamisso: Peter Schlemihl. – Dostojewski: Weiße Nächte. – Heine: Harzreise. – R. L. Stevenson: Jekyll & Hyde. – Schnitzler: Traumnovelle. – Thomas Mann: Tod in Venedig. – Nietzsche: Ecce homo. – Machiavelli: Der Fürst. – Voltaire: Candide. – Diderot: Rameaus Neffe. Etc. Etc. Und César Aira schreibt berüchtigterweise fast ausschließlich 100-Seiten-Bücher.
Lob des kurzen Buches
Die Vorschlagsliste ist im Moment ca. 125 Titel lang (Voraussetzung war: mindestens eine nachgewiesene Einzelausgabe; und keine Theaterstücke, die sich ja in einem ähnlichen Seitenzahlenbereich bewegen). Jedem dieser Bücher, so der Plan, werden wir hier ab sofort einen kurzen Teasertext widmen, der anekdotenhaft die Kürze der Form feiern soll, das Leseerlebnis, den Inhalt, den Stil, die Rezeptionsgeschichte oder was auch immer, je nachdem.
Diese Anamnesen sollen ihrerseits schlagartig kurz sein, so um die 1.500 Zeichen (Vorbild: Marius Fränzels »Lektüren eines Nachtwächters«). Sie würden dann locker auf jeweils eine Buchseite passen. Und am Ende dieses Experiments steht dann vielleicht ein 100-Seiten-Buch über 100-Seiten-Bücher, mal sehen.
Enzensberger und »Die hundert Seiten«
In seinem »Ideen-Magazin«, das seine »Lieblings-Flops« beschließt (vor ein paar Wochen bei Suhrkamp erschienen), stellt Hans Magnus Enzensberger Projekte vor, die »über das Stadium der Skizze nie hinausgekommen« sind. Eines davon hatte den Arbeitstitel »Die hundert Seiten«. Anders als wir schlägt er vor, Klassiker der Weltliteratur, die besonders umfangreich, besonders unzugänglich sind, auf genau hundert Seiten zu komprimieren, als Nacherzählung eigenen Rechts. Denn »viele der berühmtesten Klassiker werden nicht gern gelesen«, da sie eine »Zumutung an das Zeitbudget« seien.
Auch bei Enzensberger findet sich der Mythos des 100-Seiten-Buchs: »Hundert Seiten erschrecken niemanden; sie geben jedem das angenehme Gefühl, ein ganzes Buch zu Ende gelesen zu haben.« Aus seiner Idee ist dann nichts geworden. Wir gehen das Problem nun von einer anderen Richtung her an. Das Sammeln von bereits existierenden Hundertseitern wird vielleicht erst mal konkretisieren, was ein 100-Seiten-Buch überhaupt eigentlich ist, was es kann, was es nicht kann usw.
Seitenpolitik
Die ›Seite‹ ist mindestens seit Gutenberg das populärste und nachvollziehbarste Maß für die Länge eines Textes. Wenn jemand ein Buch empfiehlt, gibt es ja stets sofort die Gegenfrage: »Wie lang?« Autoren und Verlage spielen natürlich mit der Anzahl der Seiten, und oft wird ein Buch mit satztechnischen Mitteln auf eine bestimmte Seitenzahl gebracht. Arno Schmidt, wer sonst, hat daher mal vorgeschlagen, die »Normalseite« einzuführen:
»Wie irreführend ist es oft, zu sagen, ein Buch zähle 500 Seiten; nachher hat es auf jeder einzelnen davon nur 20 Zeilen und in jeder 40 Anschläge = 800 Buchstaben. Ein anderes, von ›nur‹ 200 Seiten, aber mit 40 Zeilen a 50 Anschläge, enthält genau so viel Text. Man führe endlich in Wissenschaft und Buchhandel den Begriff der ›Normalseite‹ (abgekürzt: SN) von 2000 Buchstaben pro Seite ein! Es bleibe natürlich auch in Zukunft jedem unbenommen, mit Format, Zeilenzahl oder Typen völlig souverän zu schalten, aber man füge der Anzeige auch des apartesten Sonderdruckes noch in Klammern hinzu: ›SN 340‹ – oder wieviel es nun gerade sind. Das würde, konsequent durchgeführt nicht nur in Katalogen aller Art, viel nützen, sondern endlich auch einmal ermöglichen, das Werk eines Schriftstellers rein quantitativ zu fixieren und mit anderen vergleichbar zu machen.«
Für das 100-Seiten-Projekt hier gehen wir großzügig von einer Zeichenanzahl zwischen 100.000 und 225.000 aus (wie üblich inkl. Leerzeichen). Das sind je nach Ausgabe normalerweise zwischen 75 und 125 Textseiten. Wenn es sich um fremdsprachige Titel handelt, gilt die Zeichenzahl der deutschen Übersetzung. Für die zehn oben genannten Beispiele sieht es so aus (aufsteigend nach Länge geordnet, die Zeichenzahlen entstammen digitalen Versionen der Texte und sind auf den nächsten Tausender aufgerundet):
Dostojewski: Weiße Nächte (russ. 92.000, dt. 125.000)
Chamisso: Peter Schlemihl (132.000 Zeichen)
Heine: Die Harzreise (136.000)
R. L. Stevenson: Jekyll & Hyde (engl. 138.000, dt. 164.000)
Schnitzler: Traumnovelle (165.000)
Thomas Mann: Der Tod in Venedig (169.000)
Machiavelli: Der Fürst (ital. 164.000, dt. 177.000)
Nietzsche: Ecce homo (196.000)
Voltaire: Candide (frz. 187.000, dt. 219.000)
Diderot: Rameaus Neffe (frz. 177.000, dt. 221.000)
Zum Vergleich: Goethes »Werther« (240.000 Zeichen) und Rousseaus »Gesellschaftsvertrag« (frz. 257.000, dt. 275.000 Zeichen, Übersetzung von 1880) haben das Hunderter-Genre bereits verlassen. Sie lesen sich auch nicht mehr wie klassische Hundertseiter und fühlen sich eher nach 300 Seiten an (was in dem einen Fall sicher auch an den Ossian-Gesängen liegt, hehe).
»Candide« (in der Übersetzung von 1782) und »Rameaus Neffe« (in der Übersetzung von 1891) gehen in der aktuellen Experimentanordnung aber gerade noch so durch und grenzen die Sammlung nach oben hin ab. Jedenfalls im Moment, denn mal sehen, wie sich der Mythos ›100-Seiten-Buch‹ so macht, wenn wir ihm hier auf den Leib rücken.
Keine Zeit! – Ein Buch oder fünfzig Bücher?
Als Drückerkolonne im Auftrag fragwürdigster Leseökonomie würden wir natürlich schon sagen: Statt 5.000 Seiten lang Prousts »Recherche« zu lesen, könnte man auch 50 Hundertseiter lesen. Da hat man, rein rechnerisch, mehr davon, nämlich genau 49 Autoren und 49 Werke mehr, bei sozusagen gleichbleibender Strecke.
Diese Art von Rechnungen sind natürlich absolut unschöngeistig, und wir werden öffentlich auch jederzeit vehement abstreiten, so etwas zu befürworten! Lieber schieben wir wieder alles auf Arno Schmidt, den Statistiker der deutschen Literatur. Seine berühmte Lesevermögensrechnung ging ja so:
»Das Leben ist so kurz ! Selbst wenn Sie ein Bücherfresser sind, und nur fünf Tage brauchen, um ein Buch zweimal zu lesen, schaffen Sie im Jahr nur 70. Und für die fünfundvierzig Jahre, von Fünfzehn bis Sechzig, die man aufnahmefähig ist, ergibt das 3.150 Bände : die wollen sorgfältigst ausgewählt sein !«
Und wer kürzere Bücher liest, liest normalerweise auch mehr Bücher. Wobei es dieser Rechnung natürlich an einem Koeffizienten für die Textschwierigkeit mangelt.
Nächstes Projekt: Tausend Tausendseiter!
Aber das Zeitproblem ist ja nun mal da. Marcel Reich-Ranicki hat sich 1993 zum Beispiel geweigert, den 1006-Seiten-Roman »Der rote Ritter« von Adolf Muschg zu lesen:
»Autor und Verlag versuchten, mich zu überreden: In dem Buch seien sehr gute Kapitel und Abschnitte. Das mag ja sein, aber ich habe nicht die Zeit, die Rosinen in diesem gigantischen Kuchen zu suchen.«
Fernab all dieser rechnerischen Unverschämtheiten behaupten wir hier natürlich gern und weiterhin, dass wir die »Recherche« lieben, den »Ulysses« und »Zettel’s Traum«, Alexander Kluges »Chronik der Gefühle« und Hans Henny Jahnns »Fluß ohne Ufer«. Wir haben Pynchons »Against The Day« und Wallace‘ »Infinite Jest« gelesen, Bolaños »2666« und Littells »Die Wohlgesinnten«, und zumindest kennen wir jemanden, der sich angeblich auch den barocken Ziegelstein »L’Astrée« sowie die »Römische Octavia« komplett reingezogen hat.
Und da nichts ohne sein Gegenteil wahr ist, kündige ich hiermit also auch gleich das Pendant und Nachfolgeprojekt zu diesem 100-Seiten-Projekt an: eine Sammlung der 1000 besten 1000-Seiten-Bücher!
Aber jetzt erst mal das Lob des kurzen Buches. 100 Seiten Zeit hat jeder, jeden Tag aufs Neue. Los geht es übermorgen mit Klabunds »Deutscher Literaturgeschichte in einer Stunde« (1920), dann folgen die »Käse«-Novelle des herrlichen Belgiers Willem Elsschot (1933), Chamissos »Peter Schlemihl« (1813) und Nietzsches »Ecce homo« (1888). Alles Hundertseiter vom Feinsten! Mögliche nächste Testobjekte sammeln wir dann weiter hier.
i.A. Paco
–Consortium Feuilletonorum Insaniaeque–