Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 203
Bessie Head: »Die Schatzsammlerin« (1977)

München, 19. August 2020, 09:56 | von Josik

Das wohl weiseste Wort, das jemals gesprochen wurde, stammt bekanntlich von Stephan Remmler und lautet: »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei«. Bestätigt wird dies auch in »Life«, der fünften der dreizehn in diesem Buch versammelten kurzen Erzählungen von Bessie Head: Die Frauen im Dorf, heißt es dort, »stellten sich Geld nie als eine uferlose Quelle ohne Ende vor; es hatte immer ein Ende« (S. 54). Tja, und leider hat nicht nur Geld ein Ende, sondern natürlich auch dieses Buch, nämlich schon auf Seite 135. Aber kurz vor Schluss gibt es noch die Titelgeschichte, die man nicht anders nennen kann als ein unvergleich­liches literarisches Meisterinwerk – und ich verspreche, dass Dikeledi, die Frau, um die es hier geht, euch total sympathisch sein wird, obwohl das, was sie getan hat, eigentlich schon ein bissi bestialisch ist.

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Bessie Head: Die Schatzsammlerin. Erzählungen. Aus dem Englischen von Uta Goridis, Evelin Petzold, Ursel Reinecke und Ingrid Westerhoff. Berlin:
Orlanda Frauenverlag 1988. S. 3–135 (= 133 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 202
Sata Ineko: »scharlachrot« (1936)

München, 18. August 2020, 15:15 | von Josik

Also, Leute, wenn ihr in einer festen Zweierbeziehung lebt und beide schriftstellerisch tätig seid, dann werdet ihr euch in Akiko und Kōsuke, den beiden Hauptfiguren dieses supersten japanischen Romans, bestimmt wiedererkennen. Ihr könnt hier dann noch mal nachlesen, wie schwierig es für euch ist, eine gleichberechtigte Beziehung zu führen, und was für anstrengende und komplizierte Menschen ihr seid. Und ganz ehrlich, am besten für alle Beteiligten wäre es sowieso, wenn ihr euch einfach trennen würdet.

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Sata Ineko: scharlachrot. Aus dem Japanischen von Hilaria Gössmann. München: Iudicium Verlag 1990. S. 9–130 (= 122 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 201
Friedo Lampe: »Septembergewitter« (1937)

Zu Hause, 27. Mai 2020, 21:47 | von Paco

Schwüler Septembernachmittag, man sitzt draußen im Bürgerpark vor dem Schweizerhaus und trinkt »Bier und Kaffee und Ananasbowle«, dies das, und »da kann es wohl sein, daß man plötzlich an diesen schrecklichen Mord denken muß, der da vor zwei Tagen im Bürgerpark bei der Borkenhütte (…) verübt worden war«. Dieser Mord wird nun aber nicht als großer Kriminalfall ausgewalkt und ist denkbar beiläufig in die Story gewebt.

Na ja, und die Jugend der Kleinstadt bildet Kinderbanden mit Blutritzen als Aufnahmeritual, geht ansonsten fröhlich baden und löst ihre eigenen Fälle. Und zwar jagt sie den gelbhaarigen ›Drachen-Emil‹ und ertappt ihn auf frischer Tat, wie er wieder die Drachenschnur unbescholten spielender Mädchen kappen will. Der Drachen überlebt diesmal und fällt erst später einem Unwetter zum Opfer.

Ein perfekter Hundertseiter, schnell hangelt sich das Auge durch die kurzen Abschnitte, die meist einen Perspektivwechsel mit sich bringen. Die Natur wird durch einen adjektivischen Leuchtfilter gejagt (golddämmernde Stuben, grünbemooste Najadenfiguren, sanftblauer Himmel). Menschliche Handlungen werden oft erst geheimnisvoll angedeutet, und dann schnappen sich eben die Kinder nach dem Abendbrot ihren toten Drachen »und waren schon zwischen den Büschen verschwunden«, um ihn ein paar Seiten später mit einer feierlichen Rede zu bestatten.

Gerahmt übrigens werden die Geschehnisse von der Ballonfahrt des Mr. Pencock und seiner Tochter Mary. Sie sehen von oben das anonyme Städtchen, und das Städtchen sieht hoch im Himmel den anonymen Ballon. Die Erzählrichtung ist vertikal.

Länge des Buches: ca. 1xx.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Friedo Lampe: Septembergewitter. Göttingen: Wallstein 2001. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 200
Nicolas Darvas: »How I Made $2,000,000 in the Stock Market« (1960)

Hamburg, 22. Februar 2020, 15:20 | von Dique

»Even though the book was well written, the message was too simple and can be expressed in four of five sentences. While everyone know these rules, none bother to follow them.«

– irgendjemand auf goodreads.com

Nicolas Darvas war eigentlich Tänzer und in den 50ern wohl auch sehr berühmt für seine Bühnenperformances. Als er für einen seiner Auftritte in Kanada mal Aktien anstatt eines Honorars in Cash bekam, war er schnell hooked und konnte seitdem nicht mehr von der Spekulation an der Börse lassen.

In der Glanzzeit seiner Tanzkarriere reiste Darvas ständig um die Welt, Europa, Amerika, Asien. Auf seinen Reisen und neben seinen Auftritten arbeitete er sich regelmäßig durch den Börsendienst Barron’s und versuchte heiße Investmentkandidaten zu identifizieren. Heute wäre es kein Problem, sich überall auf der Welt mit den aktuellen Börsenkursen zu versorgen und dann auch direkt online zu traden. In den 50ern war das aber nicht so einfach und ein Trade noch recht teuer, im Vergleich zu 4,99 Schlaffies beim Wald-und-Wiesen-Onlinebroker um die Ecke.

Darvas lässt sich also damals an seine Auftrittsorte regelmäßig Telegramme von seinem Broker schicken, enthaltend die letzten Kursen bestimmter Aktien, die er unter Beobachtung hatte, und machte seine Trades dann per Telegramm oder Telefon.

In seinem Buch beschreibt er Schritt für Schritt seine wunderbare Transformation vom Newbie, der jedem heißen Tipp auf den Leim geht, zum Mastertrader, der sich von allem nutzlosen Buzz abschottet und eigenständig und systematisch handelt. Er macht so ziemlich alle Fehler, die man machen kann, wenn man einmal anfängt, Aktien zu kaufen. Doch anders als das durchschnittliche Anlegerwürstchen analysiert er seine Fehler bis ins letzte Detail und macht dann den nächsten Fehler, richtet sich wieder auf und macht weiter, bis er, wenn man so will, den Code geknackt hat.

Darvas entwickelte sein eigenes Trendfolgesystem und beschreibt gleichzeitig, in der vielleicht noch essenzielleren Erkenntnis, ziemlich genau die Traderpersona, die fast alle der von Jack D. Schwager befragten Trader aus seiner »Market Wizard«-Reihe aufweisen. Kurz: Break-Outs kaufen, Gewinne laufen lassen und Verluste kurz abschneiden und dabei sehr diszipliniert sein. Mehr ist es eigentlich nicht, wenn es denn wirklich so einfach wäre.

Mit seinem eigenen »Break-Out-Trendfolgesystem«, beruhend auf sogenannten Darvas-Boxen, machte er dann innerhalb weniger Jahre aus einem kleinen fünfstelligen Betrag über 2 Millionen Dollar. Es herrscht ein kleiner »Streit« in der Investmentwelt, ob er denn nun wirklich die besagten 2 Millionen machte oder nicht, aber zumindest konnte er nachweisen, dass er aus wenig sehr viel Geld machen konnte und das in relativ kurzer Zeit.

Dürfte ich auf eine einsame Insel nur 10 Investmentbücher mitnehmen, »How I Made …« wäre eines davon.

Länge des Buches: ca. ???.??? Zeichen. – Ausgaben:

Nicolas Darvas: How I Made $2,000,000 in the Stock Market. [Miami]: BN Publishing 2008. S. 3–133 (= 131 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 199
Uwe Timm: »Freitisch« (2011)

Hamburg, 20. Dezember 2019, 15:23 | von Dique

Ein Buch über Arno-Schmidt-Fans und am Ende kommt es sogar zum Showdown mit dem »Meister« (im Buch reden sie tatsächlich immer von »Arno«, das ist auch nicht so schön) und darauf muss man gar nicht allzu lange warten, denn es ist ja ein kurzes Buch.

Ich war sofort neugierig geworden, als mir jemand beim gemeinsamen Mittagessen von dem Buch erzählte. Es war jemand, der in einem Buchklub ist, oder einem Lesezirkel, wo dann also jedes Mitglied ein Buch liest bzw. alle das gleiche, aber für sich, und dann trifft man sich und spricht darüber. Ich hielt es nicht für möglich, mal jemanden kennenzulernen, der tatsächlich Mitglied von so einem Buchklub oder Lesezirkel ist und nun endlich konnte ich all die vielen Fragen stellen, die sich über die Jahre zu dem Thema bei mir angesammelt hatten.

Was mich neben Schmidt und der Schmidt-Fan-Idee an dem Buch reizte, war der »Freitisch« als solches, eine Art Essenssponsoring für Studenten, die dadurch kostenlos an bestimmten Orten wie Bürgerhäusern oder Wirtschaften mit Mahlzeiten versorgt werden, finanziert von Stiftungen, Organisationen, Firmen.

Gibt’s heute wohl eher nicht mehr, aber an einem solchen Freitisch beginnt die Handlung, denn dort treffen sich einige Studenten, von denen einer großer Arno-Schmidt-Fan ist. Er fixt die anderen an und dann sind sie eben alle mehr oder weniger Fans von »Arno«.

Nachdem der Freitisch aufgelöst wird, verlieren sich die Studenten aus den Augen. Nach vielen, vielen Jahren treffen sich zwei davon zufällig wieder, in Anklam, of all places. Das ist aber wohl gar nicht so verwunderlich, sondern ganz pfiffig so angelegt, denn die feine, kleine Novelle spielt generell in der Provinz, zunächst in München, dann Anklam und schließlich in Bargfeld, am und kurz auch im Haus von Arno Schmidt.

Der letzte Teil ist der versöhnlichste, ein sehr schönes Finale, das ein bisschen über die Lesezeit hinwegtröstet. Diese mag zwar kurz sein wie üblich in dieser Hunderseitenreihe, aber zwischen Freitisch und Showdown in Bargfeld muss man ziemlich viel 68er-Herumonkeln über sich ergehen lassen, in Anklam, in einem Straßencafé. Der eine ist Lehrer, hat sich in den Osten Deutschlands zurückgezogen, lebt also ein bisschen wie Schmidt, der andere quirliger Geschäftsmann auf der Durchreise, Yin und Yang vom allerfeinsten.

Länge des Buches: ca. ???.??? Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Uwe Timm: Freitisch. Novelle. Vom Autor neu durchgesehene Ausgabe. München: Dt. Taschenbuch-Verlag 2012. S. ??–?? (= ??? Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 198
Urs Widmer: »Der blaue Siphon« (1992)

Moskau, 16. Dezember 2019, 21:32 | von Larissa

Manchmal fällt einem das Glück in den Schoß. In diesem Fall fiel mir das Glück in Form eines Softcover-Diogenes-Buchs von Urs Widmer zwischen die Beine, als ich in Moskau – tatsächlich ziemlich ruckelig – landete. Da hatte wohl jemand sein Glück beim Aufsetzen des Flugzeugs nicht gesichert und lief jetzt, danach suchend, durch die Reihen. Ich hielt es ihm entgegen, wir gründeten den »Urs Widmer Bookclub Moskau« und es gab ein Happy End.

Aber so einfach ist es mit dem Glück ja selten und »Der Geliebte der Mutter« ist das eine, aber »Der blaue Siphon« das andere. Wenn man sich ein Bild von einem Buch gemacht hat, ohne es gelesen zu haben, ist es eben nur ein Bild von einem Buch. Man nähert sich dem Buch nur durch ›gefühltes Lesen‹ und sitzt dabei möglicherweise einer Missinterpretation auf.

Ein wenig bittersüße Versöhnung gab es dann aber doch. Ich fand sie in folgenden Zeilen: »Allerdings erwog der Junge auch, daß diese [Weltenwand] eher so etwas wie ein himmelsgroßer Film, eine in die Landschaft geworfene Lichtmauer sein könnte, durch die ein jeder, erreichte er sie nur, hindurchzugehen vermöchte.« (S. 84)

Länge des Buches: ca. 195.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Urs Widmer: Der blaue Siphon. Erzählung. Zürich: Diogenes 1994. S. 3–102 (= 100 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 197
Louise de Vilmorin: »Madame de« (1951)

Hamburg, 13. Dezember 2019, 16:05 | von Dique

Louise de Vilmorin war mal kurzzeitig mit Antoine de Saint-Exupéry verlobt, genau, dem Autor von »Der kleine Prinz«, dem weltbekannten und sehr beliebten Lieblingsbuch des deutschen Rechtsanwalts, CDU-Politikers und zehnten Bundespräsidenten der BRD, Christian Wulff.

»Madame de …« war eine ungebetene Empfehlung von Josik, dem nach seiner eigenen Lektüre zwar keine typische 100-Seiten-Buch-Rezension einfiel, der allerdings der Meinung ist, dass er durch dieses Buch verstanden hat, warum der Kapitalismuskreislauf (so drückte er sich aus) nicht kollabieren wird. Gewohnt scharfsinnig hat er damit auch gleich die Quintessenz der Geschichte erkannt. Es geht um ein paar diamantbesetzte Ohrringe, die immer und immer wieder in den Umlauf geraten, früher oder später beim immer gleichen Juwelier landen und immer wieder an den gleichen Kunden verkauft werden. Wie oft das passiert, werde ich hier aber nicht auch noch spoilern.

Ansonsten geht es um Liebe und Liebesbriefe, feine Manieren und Festivitäten in Salons, also der wunderschönen Glitzerwelt mit dem Duft von gutem Parfum in Umkleidezimmern feiner Damen und erröteten Wangen unter leicht gepuderten Gesichtern, also der heilen Welt von vor ca. 10 oder 20 Jahren, hehe.

Ich dachte natürlich wegen der Ohrringe und der Geschichte an einen Vorläufer von »Diamonds Are a Girl’s Best Friend« aus »Blondinen bevorzugt«, doch dann fiel mir wieder ein, dass das Buch gar nicht so alt ist, auch wenn Louise de Vilmorins Art zu schreiben an Fontane oder gar Kleist erinnert. »Blondinen bevorzugt« kam doch schon ein paar Jahre früher auf den Markt und ob es einen Zusammenhang zwischen Musical und Buch gibt, hätte man Frau de Vilmorin fragen müssen oder man könnte eben einfach mal selbst so richtig drauflos recherchieren.

Außerdem erinnert mich Louise de Vilmorin ein wenig an die wunderbare Fotografin Tina Barney, die nach Lust und Laune Personen aus ihrem gut situierten Bekanntenkreis portraitiert, bescheiden und sorgenfrei (wahrscheinlich unterstellt), in dieser eleganten Leichtigkeit, wie es nur diese ganz besondere und seltene Art von »Luxuskunst« kann.

Auch nicht ganz uninteressant ist, dass dies nach Fanny Gräfin zu Reventlow nun schon das zweite Mal ist, dass mir Josik eine adlige Dame empfiehlt, die über Geld schreibt.

Länge des Buches: ca. 195.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Louise de Vilmorin: Madame de. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Patricia Klobusiczky. München: Piper Verlag 2013. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 196
Irene Dische: »Zwischen zwei Scheiben Glück« (1997)

München, 6. Dezember 2019, 10:35 | von Josik

Wie alle, die mal die Schule besucht haben, sehr gut wissen, ist es zwar einerseits manchmal unabdingbar, Inhaltsangaben zu verfassen, macht andererseits aber überhaupt keinen Spaß, oder sagen wir, zumindest macht es überhaupt keinen Spaß, Inhaltsangaben, die länger sind als ein Satz, zu verfassen, und so sei dieses unglaubliche, perfekte Buch, das hauptsächlich zwischen dem 9. November 1938 und dem 2. März 1944 u. a. in Budapest und Berlin spielt und in dem es v. a. um den nüchternen Dr. Nagel und dessen heißspornigen Sohn Laszlo und dessen kleinen Sohn Peter geht, hiermit allen, allen, allen ans Herz gelegt.

Länge des Buches: ca. 100.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Irene Dische: Zwischen zwei Scheiben Glück. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. München: Carl Hanser Verlag 1998, 2018. S. 3–86 (= 84 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 195
Birgit Vanderbeke: »Alberta empfängt einen Liebhaber« (1997)

München, 5. Dezember 2019, 10:30 | von Josik

Alberta hat gerade das Buch »Lieben Sie Brahms …« gelesen. Der Titel war ihr »äußerst gelungen erschienen« (S. 18), doch als sie dann etwas über den Titel nachdenkt, »klang er nicht mehr so elegant, eher geschwollen« (S. 18), deshalb versucht sie nun, ihn »ins Du zu übersetzen, aber dadurch wurde es eher noch schlimmer: Liebst du Brahms? Das quietscht und hat keinen Schwung« (S. 18).

Es hat natürlich seinen guten Grund, dass die Titelverantwortlichen ihren Serien und ihrer Weltliteratur Sie-Titel geben, wenn sie ihnen auch Du-Titel geben könnten, und dass sie ihnen Du-Titel geben, wenn sie ihnen auch Sie-Titel geben könnten. Nehmen wir den berühmten Titel »Kobra, übernehmen Sie« und übersetzen ihn ins Du: »Kobra, übernimm du«. Das hat keinen Drive.

Oder nehmen wir Christine Brückners Titel »Wenn du geredet hättest, Desdemona« und übersetzen ihn ins Sie: »Wenn Sie geredet hätten, Desdemona«. Das hat keinen Pep. Oder nehmen wir Leo Perutz’ Titel »Wohin rollst du, Äpfelchen …« und übersetzen ihn ins Sie: »Wohin rollen Sie, Äpfelchen …«. Das hat keinen Reiz. Oder nehmen wir Peter Sloterdijks Titel »Du mußt dein Leben ändern« und übersetzen ihn ins Sie: »Sie müssen Ihr Leben ändern«. Das ist Quatsch.

Oder nehmen wir Heinrich Bölls Titel »Wanderer, kommst du nach Spa …« und übersetzen ihn ins Sie: »Wanderer, kommen Sie nach Spa …«. Das fetzt nicht. Oder nehmen wir Richard Voß‘ Titel »Brutus, auch Du!« und übersetzen ihn ins Sie: »Brutus, auch Sie!« Das klingt unseriös. Oder nehmen wir Ephraim Kishons Titel »Drehn Sie sich um, Frau Lot!« und übersetzen ihn ins Du: »Dreh dich um, Frau Lot!« Das ist töricht.

Oder nehmen wir Martin Bubers Titel »Ich und Du« und übersetzen ihn ins Sie: »Ich und Sie«. Das ist ja lächerlich. Oder nehmen wir Niccolò Ammanitis Titel »Du und ich« und übersetzen ihn ins Sie: »Sie und ich«. Das ist die reine Katastrophe. Oder nehmen wir Walter Kempowskis Titel »Haben Sie Hitler gesehen?« und übersetzen ihn ins Du: »Hast du Hitler gesehen?« Das ist entsetzlich.

Oder nehmen wir Daniel Kehlmanns Titel »Du hättest gehen sollen« und übersetzen ihn ins Sie: »Sie hätten gehen sollen«. Das schmerzt in den Ohren. Oder nehmen wir Helge Schneiders Titel »Zieh dich aus, du alte Hippe« und übersetzen ihn ins Sie: »Ziehen Sie sich aus, Sie alte Hippe«. Okay, das ginge vielleicht.

Länge des Buches: ca. 160.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Birgit Vanderbeke: Alberta empfängt einen Liebhaber. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 6. Auflage 2003. S. 3–117 (= 115 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 194
Françoise Sagan: »Lieben Sie Brahms …« (1959)

München, 4. Dezember 2019, 11:40 | von Josik

Good news für alle, die sich von Natur aus mit Balzverhalten schwer tun und nicht wissen, wie sie ein Flirtgespräch mit der herumzukriegenden Person beginnen sollen: Am allereinfachsten ist es, man sagt die drei kurzen und sehr leicht auswendig zu lernenden Sätze, die in Françoise Sagans superstem Roman »Lieben Sie Brahms …« Simon zu Paule sagt, als er sie kennenlernt: »Was soll ich mit Ihnen reden? […] Ich kenne Sie nicht. Würde ich Sie schon kennen, so hätte ich zu Ihnen gesagt, daß ich sehr froh bin, Sie wiederzusehen« (S. 15). Wie der weitere Verlauf der Romanhandlung beweist, ist damit der Erfolg garantiert.

Länge des Buches: ca. 140.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Françoise Sagan: Lieben Sie Brahms … Roman. Aus dem Französischen von Helga Treichl. Berlin: Verlag Klaus Wagenbach 2011. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

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