Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 183
Hilde Spiel: »Verwirrung am Wolfgangsee« (1935)

München, 23. November 2019, 10:35 | von Josik

Pierre und Vincent (und ihr Begleiter Pourtalès) kommen aus Brüssel und fahren von dort über Schaffhausen an den Wolfgangsee. Warum? Wie Vincent erklärt: »Wir haben uns eines Tages aufgemacht und sind nach Österreich gefahren, weil uns die belgischen Frauen nicht mehr gefielen« (S. 17).

Am Wolfgangsee lernen sie Therese und Gundel kennen, fahren dann aber trotzdem über Lambach, Wels und Linz weiter nach Wien und von dort natürlich wieder zurück an den Wolfgangsee. In Linz landen sie eigentlich nur, weil ihnen dort in der Nähe das Auto verreckt und sie von einem Forstdirektor aufgelesen und in eine besoffene Gesellschaft hineingeschleppt werden, die in der Gaststube »Zum Linzerischen Buam« versammelt ist.

Dort proben auch die Herren vom Gesangverein »Waldesrauschen«. Die singen zu Ehren der belgischen Gäste schließlich »was echt Österreichisches« (S. 43). Nämlich: »Geh Bauer steh auf / Und fuatter dein Schimmel / Und prügl dei Alte / Sonst kommst net in Himmel // Mei Vota is a Schreiner, / Sei Tochter bin i, / Mei Vota macht Wiagn / Was eini ghört, i« (S. 43). Und was bitte könnte echter österreichisch sein als dieses Lied!

Länge des Buches: ca. 210.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Hilde Spiel: Verwirrung am Wolfgangsee. Roman. München: Goldmann Verlag 1988. S. 3–110 (= 108 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 182
Eleanor Farjeon: »Aus dem Stopfkorb der alten Kinderfrau« (1931)

München, 22. November 2019, 10:25 | von Josik

Baba ist Kinderfrau bei Doris (7 Jahre alt), den Zwillingen Ronald und Roland aka Rolie (5) und Mary Matilda (3). Wenn die Kinder herumtollen, kriegen ihre Socken natürlich Löcher, die dann gestopft werden müssen. Und abends, wenn Baba die Socken stopft, erzählt sie dazu eine Geschichte. Die Geschichte ist auf die Sekunde genau immer dann zu Ende, wenn das Loch fertig gestopft ist. Ist es ein kleines Loch, erzählt Baba eine kurze Geschichte. Ist es ein großes Loch, erzählt sie eine lange Geschichte.

Und so erzählt sie: die Geschichte, wie sie Kinderfrau war beim Prinz von Indien; und die Geschichte, wie sie Kinderfrau war bei der Infantin von Spanien; und die Geschichte, wie sie Kinderfrau war bei Herkules; und die Geschichte, wie sie Kinderfrau war bei der Schweizer Försterstochter Liesel; und die Geschichte, wie sie Kinderfrau war bei den Gebrüdern Grimm; und die Geschichte, wie sie Kinderfrau war bei der Prinzessin von China; und die Geschichte, wie sie vor ein paar tausend Jahren Kinderfrau war bei der Sphinx von Ägypten; und noch einige andere Geschichten.

»›Und wer war das kleinste Baby, das dich als Kinderfrau gehabt hat?‹ fragte Doris« (S. 65). Nun, das war Lipp der Lappe, erzählt Baba: »›Eines Tages rief man mich, ich möge ganz schnell kommen, in Lappland sei ein Baby geboren worden, das sei so klein, daß seine Mutter es nicht finden könne […]. Ich machte mich sofort auf den Weg. Aber ich habe ihn auch nicht gefunden.‹
›Und dann?‹ fragte Rolie.
›Nichts.‹
›Aber die Geschichte von Lipp, Baba!‹
›Es gibt keine Geschichte von Lipp‹« (S. 65f.).
Ätsch!

Länge des Buches: ca. 100.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Eleanor Farjeon: Aus dem Stopfkorb der alten Kinderfrau. Illustrationen von Edward Ardizzone. Deutsch von Ilse Lauterbach. Gütersloh: Bertelsmann Jugendbuchverlag 1971. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 181
Latife Tekin: »Der Honigberg« (1985)

München, 21. November 2019, 10:15 | von Josik

Von Latife Tekin liegt im Deutschen bisher leider nur der fantastische, wunderliche, einzigartige Roman »Der Honigberg« vor, deshalb ist es höchste Zeit, nun auch ihre anderen Bücher ins Deutsche zu übersetzen, und natürlich nicht nur ins Deutsche, sondern auch in alle anderen Sprachen.

Und so geht »Der Honigberg« los: »In einer Winternacht wurden auf einem Hügel, auf den tagsüber die riesigen Kübelwagen den Müll der Stadt kippten, im Schein mitgebrachter Laternen unweit der Abfallhalden acht Hütten errichtet« (S. 7). Die Hütten werden jedoch vom Sturm weggeblasen, und was übrig bleibt, wird von der Polizei abgerissen, doch werden unmittelbar darauf immer noch mehr Hütten aufgebaut, und zwar so lange, bis die Polizei keine Lust mehr hat, die vielen Hütten abzureißen.

Es entsteht ein ganzes Stadtviertel, auf dem die Frauen und Kinder Müll sammeln, Moscheen werden gebaut, Kaffeehäuser, Bordelle, die Männer suchen Arbeit in den Fabriken, es wird gestreikt usw. usf. Auf dem Hügel lebt auch ein weiser alter Mann namens Gülli Baba: »Den Frauen, die mit ihren Neugeborenen auf dem Arm zu ihm kamen, um ihm die Hand zu küssen und ein Fürgebet zu erhalten, gab er den Rat, die abgefallene Nabelschnur ihres Säuglings in einem Fabrikhof zu vergraben. Das werde den Kindern, so erklärte er, helfen, in der Fabrik Arbeit zu finden, wenn sie groß sind« (S. 30).

Wer sowas für rückständig hält, sollte allerdings bedenken, dass auch heutzutage, in unseren sich für aufgeklärt haltenden Zeiten, im sich für aufgeklärt haltenden Deutschland, in Geburtshäusern empfohlen wird, – nein, nicht die abgefallene Nabelschnur in einem Fabrikhof zu vergraben, aber, was ja noch viel unglaublicher ist: – ein Stück der Plazenta mit Datteln zu ummanteln und zu essen. Das können natürlich alle halten, wie sie möchten; ich jedenfalls esse Datteln am liebsten ohne Plazenta.

Länge des Buches: > 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Latife Tekin: Der Honigberg. Roman. Aus dem Türkischen von Harald Schüler. Hamburg: Galgenberg Verlag 1987. S. 3–129 (= 127 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 180
Olga Sedakova: »Reise nach Brjansk« (1983/1999)

München, 20. November 2019, 10:05 | von Josik

Es ist ein bisschen schade, dass dieses Buch unter dem Titel »Reise nach Brjansk« veröffentlicht wurde, denn noch besser ist die zweite der hier veröffentlichten Erzählungen: »Reise nach Tartu und zurück«. Und zwar schildert die Autorin Olga Sedakova ihre Reise von Moskau nach Tartu zum Begräbnis von Juri Lotman. An der russisch-estnischen Grenze kommt es dann zu sehr kuriosen erheblichen troubles, die in aller Ausführlichkeit geschildert werden.

Nun ist Juri Lotman zwar in der Literaturwissenschaftsbubble ein Superstar allererster Sahne, aber aus Sicht eines Grenzbeamten allenfalls ein D-Promi, wenn überhaupt. Die Autorin ist gezwungen, dem Grenzoffizier zu erklären, dass die estnische Regierung alle Kosten für die Begräbnisfeierlichkeiten übernimmt und dass beim Begräbnis auch der estnische Präsident anwesend sein wird. Entsprechend überrascht reagiert dann der Herr Grenztyp: »Präsident?« Und Olga Sedakova antwortet: »Präsident« (S. 97).

Nun macht die Autorin etwas absolut Grandioses: Sie vertont diesen Dialogausschnitt! Im Buch ist also eine handschriftliche Zeichnung abgedruckt: Notenlinien, Violinschlüssel, und die drei Silben »Prä-si-dent?« auf c-e-b. Dann Bassschlüssel und wieder »Prä-si-dent« auf f-f-f: »Das ›Präsident‹ des Offiziers entsprach einer aufsteigenden Septime für eine dramatisch-erregte Streichergruppe. Mein eigenes ›Präsident‹ lag eine Oktave tiefer« (S. 97).

Wie praktisch wäre es, wenn in Zukunft alle wörtlichen Dialoge aus fiktionaler Literatur, also auch alle Dialoge aus Theaterstücken etc., notengenau angegeben würden! Dann würden die Bücher zwar alle sehr viel dicker werden, aber endlich, endlich würde man sich wieder darauf freuen, ins Theater zu gehen, man könnte behaglich im Zuschauerraum sitzen und anhand der Dialognoten permanent abgleichen, ob die Schauspieler ihren Text korrekt intonieren, das wäre doch ein fun ohnegleichen!

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Olga Sedakova: Reise nach Brjansk. Zwei Erzählungen. Aus dem Russischen von Valeria Jäger und Erich Klein. Wien/Bozen: Folia Verlag 2000. S. 5–129 (= 125 Textseiten). – Die Erzählung »Reise nach Brjansk« ist zuerst im Original erschienen unter dem Titel »Puteschestwie w Brjansk« in der Samisdat-Zeitschrift »Wybor«, 1983/84, Moskau/Paris, und die Erzählung »Reise nach Tartu und zurück« zuerst unter dem Titel »Puteschestwie w Tartu i obratno« in der Zeitschrift »Znamja«, 4/1999.

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100-Seiten-Bücher – Teil 179
Paula Fox: »Ein Dorf am Meer« (1988)

München, 19. November 2019, 10:50 | von Josik

Wer einen Witz zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt, wird sich bestimmt darüber Gedanken gemacht haben, dass es ein guter, also ein haltbarer Witz sein muss. Davon kann man bei Paula Fox ausgehen, denn der sehr gute Witz, den sie die zehnjährige Emma ihrem Onkel Crispin und ihrer Schreckschraubentante Bea erzählen lässt, geht ungefähr so: Wohin setzt sich ein sechshundert Pfund schwerer Gorilla? – Wohin er will. (S. 40)

Harhar! – Genauso fantastisch ist aber auch z. B. der Witz, den Annie Ernaux in »Der Platz« abgedruckt hat: »Wie sagt der Augenarzt zum Abschied: Wir sehen uns« (S. 64). Hihi! – Zum Vergleich hier noch der Lieblingswitz des berühmten Literaturkritikers Uwe Wittstock, abgedruckt im »Focus« vom 26. September 2015:

»Eine Frau stellt ihrem Mann die Albtraumfrage: ›Fällt dir etwas an mir auf?‹
›Natürlich‹, antwortet er ängstlich, ›du hast neue Schuhe?‹
›Nein, Liebling‹, sagt sie.
›Du warst‹, ruft er schweißüberströmt, ›beim Friseur?‹
›Auch nicht, Liebling‹, sagt sie.
›Ich hab’s‹, schreit er in Panik, ›du hast abgenommen!‹
›Nein, Liebling‹, sagt sie, ›ich trage eine Gasmaske.‹«

Ja, na gut, das ist eben ein Nachrichtenmagazinwitz, bei dem man sich wirklich zweimal überlegen sollte, ob man ihn in einem Buch abdruckt.

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Paula Fox: Ein Dorf am Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Köln: Boje Verlag 2008. S. 3–127 (= 125 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 178
Patricia Grace: »Unter dem Manukabaum« (1975–1994)

München, 18. November 2019, 12:55 | von Josik

In diesem Band sind zehn Geschichten der Maori versammelt. Eine dieser zehn Geschichten geht so: Die Kinder schämen sich ganz entsetzlich für ihre Mutter, denn sie fährt ein uraltes Auto, das keine Bremsen mehr hat. Außerdem hat die Mutter keinen Führerschein. Das ist ihr aber wurst, und so fährt sie jeden Mittwoch einkaufen.

Sobald sie losfährt, fängt sie an zu hupen. Wenn sie hupend durch die Straßen fährt, laufen alle ihre Freundinnen und Bekannten aus ihren Häusern und schreien ihr zu, was sie gerne haben möchten: Kartoffeln, Brot, Hosen usw. Wenn die Mutter sich schließlich dem Laden nähert, fährt sie gegen den Rinnstein und zieht die Handbremse. Sie kauft alles ein, packt das Auto randvoll, fährt zurück und wirft die Sachen auf dem Rückweg aus dem Auto raus, natürlich immer die richtigen Sachen an der richtigen Stelle.

Auf diese Weise also verlaufen die Mittwoche. Und dann, eines Tages, passiert das Unglaubliche: Der Vater gewinnt 50.000 Dollar im Lotto. Von diesem Geld kauft er, versteht sich, u. a. ein neues Auto. Der alte Wagen wird verschrottet. Trotzdem ändert sich eigentlich nichts. Die Mutter fährt weiterhin jeden Mittwoch einkaufen. Manchmal vergisst sie, dass das neue Auto Bremsen hat. Und sie fährt weiterhin hupend durch die Straßen. Ende. Ach so, am Anfang dieses Textes wollte ich eigentlich schreiben: »Spoilerwarnung«, hab ich vergessen.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Patricia Grace: Unter dem Manukabaum. Geschichten der Maori. Aus dem Englischen von Christine Holliger. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1995. S. 3–123 (= 121 Textseiten). – Die Titel der Originalausgaben lauten: Waiariki, Erstveröffentlichung bei Longman Paul Ltd 1975, The Dream Sleepers, Logman Paul Ltd 1980, Electric City, Penguin Books Ltd 1987, The Sky People, Penguin Books Ltd 1994.

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100-Seiten-Bücher – Teil 177
Annie Ernaux: »La Place« (1983)

München, 17. November 2019, 11:15 | von Josik

Von Annie Ernaux’ Bestseller »Der Platz« sind in der Münchner Stadtbibliothek zehn Exemplare vorhanden, doch alle sind ununterbrochen ausgeliehen und vorgemerkt. Ich wollte aber gerne mal was von Annie Ernaux lesen, also bestellte ich mir einfach irgend eine andere Hundertseiterin von ihr, »Das bessere Leben«, why not. Davon gibt es in der Münchner Stadtbibliothek genau 1 Exemplar, und das kann man jederzeit ausleihen, denn dafür interessiert sich keine Sau.

Aber kaum hatte ich »Das bessere Leben« in der Hand, fiel mir auf Wegen, die ich hiermit gerne geheim halten möchte, plötzlich das »Platz«-Buch in die Hände. Und wie big war mein Erstaunen, als ich feststellte, dass »Das bessere Leben« und »Der Platz« eigentlich genau das gleiche Buch ist! Nur eben einmal in der Übersetzung von 1986 und einmal in der Neuübersetzung von 2019 (dass 1986 der recht einfache Titel des französischen Originals, »La Place«, im Deutschen mit »Das bessere Leben« wiedergegeben wurde, damit konnte ja nun wirklich niemand rechnen).

Ein Vergleich zeigt aber, dass es, obwohl es das gleiche Buch ist, eigentlich zwei völlig verschiedene Bücher sind. Gleich am Anfang, im zweiten Satz, begegnet uns ein Teppich, der 1986 »samtfarben« war. Es ist klar, dass ein Teppich im Laufe von 33 Jahren etwas ausbleicht, 2019 jedenfalls ist er dann nur noch »sandfarben«.

Die Seite 15 und die Seite 21 sind in beiden Ausgaben besonders interessant. 2019: »Die Ehefrau eines Unternehmers aus der Nachbarschaft wurde abgewiesen, weil er sie nicht hatte ausstehen können, sie und ihre blasierte Art.« Das klang 1986 noch ganz anders: »Die Gattin eines nachbarlichen Unternehmers wurde abgewiesen, da er sie zu seinen Lebzeiten nie hatte leiden können, sie mit ihrem Hühnerhintern-Mund.« Äußerst bedauerlich ist, dass die Humorfrequenz zwischen 1986 und 2019 signifikant abgenommen hat. 2019: »Seine Frau hatte nichts zu lachen.« 1986: »Seine Frau lachte nicht jeden Tag

1986 war auch noch die Rede vom »Getränkefahrer« (S. 74). Das ist eine Berufsbezeichnung, die schon Anfang 2019 natürlich niemand mehr verstanden hat. Da hieß es dann: »Spirituosenvertreter« (S. 64). In den Rezensionen wurde mitunter so getan, als ob »Der Platz« besser wäre als »Das bessere Leben«. Von den beiden hier vorgestellten Büchern, die ich in der Hand hatte, empfehle ich allerdings eindeutig »Das bessere Leben«, und zwar aus folgendem Grund. In jenem »Platz«-Exemplar, das den Weg zu mir fand, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:

Vorsatzblatt

Hingegen in dem Exemplar des Buches »Das bessere Leben«, das in der Münchner Stadtbibliothek vorrätig ist, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:

Vorsatzblatt


Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Annie Ernaux: Das bessere Leben. Erzählung. Aus dem Französischen von Barbara Scriba-Sethe. Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag 1986. S. 3–111 (= 109 Textseiten).

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2019. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 176
Colette: »Mitsou« (1919)

München, 16. November 2019, 21:05 | von Josik

Nicht auf der vierten Umschlagseite, sondern direkt auf dem Cover meiner alten Ausgabe von Colettes Roman »Mitsou« ist in riesigen Lettern ein Blurb des Kritikers Stefan Großmann abgedruckt, der dort Marcel Proust zitiert. Aber vielleicht gerade weil der Blurb so riesenhaft ist, habe ich ihn zuerst nur sehr flüchtig gelesen, jedenfalls begann ich die Lektüre dieses Romans in der Annahme, Stefan Großmann habe gesagt, dass Marcel Proust gesagt hat, er habe über Mitsous Briefe Tränen gelacht.

Als ich dieses entzückende Buch schließlich zu Ende gelesen hatte, musste ich konstatieren, dass ich während der Lektüre von Mitsous Briefen zwar die ganze Zeit über still vor mich hingelächelt, aber gewiss nicht Tränen gelacht hatte. Da ich mir überhaupt nicht erklären konnte, warum Marcel Proust und ich derart unterschiedlich auf dieses Buch reagierten, las ich den Blurb noch einmal, nun nicht mehr flüchtig, sondern ganz konzentriert, und da traf mich mein fataler Lesefehler wie ein Schlag in die Magengrube. Denn in Wirklichkeit stand da natürlich: »Marcel Proust hat gesagt, er habe heiße Tränen über Mitsous Briefe geweint«.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Colette: Mitsou. Roman. Hamburg/Wien: Paul Zsolnay Verlag 1958. S. 3–134 (= 132 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 175
Ghada Samman: »Mit dem Taxi nach Beirut« (1974)

München, 9. Oktober 2019, 10:25 | von Josik

Fünf zufällige Fahrgäste fahren im Sammeltaxi von Damaskus nach Beirut und reden praktisch kein Wort miteinander, aber so unterschiedlich ihre Lebensgeschichten dann auch weitergehen – packend, explizit, brutal –, sie streifen sich doch. Besonders Yasmina ist eine starke Figur, und so könnten wir die fünf jetzt alle einzeln durchgehen, na, verweilen wir vielleicht noch ganz kurz bei Mustafa, der grade dabei ist, Fischer zu werden: »Aber stand er nun auf der Seite der Fischer oder auf der Seite der Fische?« (S. 30) Holy moley! Eine vergleichbar unerwartete Frage hat mir vor vielen Jahren eine Arbeitskollegin gestellt, mit der ich mich über »Tom und Jerry« unterhalten habe. Sie fragte mich: »Warst du als Kind auf der Seite von Tom oder auf der Seite von Jerry?« Ich war daraufhin mehrere Minuten lang völlig perplex und sprachlos, da ich bis zu diesem Zeitpunkt niemals, wirklich never ever, auch überhaupt nur auf die Idee gekommen war, dass man auf der Seite von Tom sein könnte!

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ghada Samman: Mit dem Taxi nach Beirut. Roman. Aus dem Arabischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Suleman Taufiq. München: dtv 1993. S. 3–98 (= 96 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 174
Hedwig Dohm: »Werde, die du bist« (1894)

München, 8. Oktober 2019, 10:10 | von Josik

Es ist kaum zu glauben, wie fetzig Hedwig Dohm bereits 1894 über ein Thema geschrieben hat, das gesellschaftlich selbst heute noch relativ tabu ist, nämlich über die Liebe einer älteren Frau zu einem erheblich jüngeren Mann (hier trägt die ältere Frau den bezeichnenden Allerweltsnamen Agnes Schmidt). Diese superste Novelle wurde immer wieder aufgelegt und kursiert in den unterschiedlichsten Buchausgaben. Mir fiel jene Ausgabe in die Hände, die Berta Rahm besorgt hat, und das ist deswegen so interessant, weil nicht nur die Novelle selbst, sondern auch das von Berta Rahm verfasste, exakt drei Seiten lange Nachwort bleibende Eindrücke hinterlässt. »als ich die geschichte der Agnes Schmidt […] gesetzt hatte«, so geht dieses Nachwort los, »blieben (bei 6 bogen) 3 seiten leer. womit sollte ich sie füllen? / es war ein sonniger tag im märz. ich fuhr in den schwarzwald, kaufte DIE ZEIT (nr. 11) und las (EXTRA, S. 49–55 […]), was vor 50 jahren geschah […]. ›Der Marktführer setzt Maßstäbe‹, steht in der ZEIT-EXTRA im inserat daneben […]. nach der ZEIT-EXTRA-lektüre machte ich langlauf im weichen schnee. weil es aussah, als könnten wolken die sonne überziehen, setzte ich mich auf eine bank am waldrand um noch die warmen strahlen zu geniessen. / eine spaziergängerin liess sich auch nieder […]. ich fragte sie, ob sie die novelle von Hedwig Dohm kenne. nein. sie ging weiter dem wald entlang und ich wieder auf die loipe« (S. 93–95). Und damit der Kurzweil auf Erden kein Ende sei, ergeht hiermit folgender flammender Appell an die Weltöffentlichkeit: Wenn Ihr mal ein Buch herausbringt und am Ende bleiben noch drei Seiten leer: Füllt sie einfach!

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Hedwig Dohm: Werde, die du bist. Novelle. Neunkirch: Ala Verlag 1988. 3. Auflage. Vor- und Nachwort von Berta Rahm. S. 3–92 (= 90 Textseiten).

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