Von Annie Ernaux’ Bestseller »Der Platz« sind in der Münchner Stadtbibliothek zehn Exemplare vorhanden, doch alle sind ununterbrochen ausgeliehen und vorgemerkt. Ich wollte aber gerne mal was von Annie Ernaux lesen, also bestellte ich mir einfach irgend eine andere Hundertseiterin von ihr, »Das bessere Leben«, why not. Davon gibt es in der Münchner Stadtbibliothek genau 1 Exemplar, und das kann man jederzeit ausleihen, denn dafür interessiert sich keine Sau.
Aber kaum hatte ich »Das bessere Leben« in der Hand, fiel mir auf Wegen, die ich hiermit gerne geheim halten möchte, plötzlich das »Platz«-Buch in die Hände. Und wie big war mein Erstaunen, als ich feststellte, dass »Das bessere Leben« und »Der Platz« eigentlich genau das gleiche Buch ist! Nur eben einmal in der Übersetzung von 1986 und einmal in der Neuübersetzung von 2019 (dass 1986 der recht einfache Titel des französischen Originals, »La Place«, im Deutschen mit »Das bessere Leben« wiedergegeben wurde, damit konnte ja nun wirklich niemand rechnen).
Ein Vergleich zeigt aber, dass es, obwohl es das gleiche Buch ist, eigentlich zwei völlig verschiedene Bücher sind. Gleich am Anfang, im zweiten Satz, begegnet uns ein Teppich, der 1986 »samtfarben« war. Es ist klar, dass ein Teppich im Laufe von 33 Jahren etwas ausbleicht, 2019 jedenfalls ist er dann nur noch »sandfarben«.
Die Seite 15 und die Seite 21 sind in beiden Ausgaben besonders interessant. 2019: »Die Ehefrau eines Unternehmers aus der Nachbarschaft wurde abgewiesen, weil er sie nicht hatte ausstehen können, sie und ihre blasierte Art.« Das klang 1986 noch ganz anders: »Die Gattin eines nachbarlichen Unternehmers wurde abgewiesen, da er sie zu seinen Lebzeiten nie hatte leiden können, sie mit ihrem Hühnerhintern-Mund.« Äußerst bedauerlich ist, dass die Humorfrequenz zwischen 1986 und 2019 signifikant abgenommen hat. 2019: »Seine Frau hatte nichts zu lachen.« 1986: »Seine Frau lachte nicht jeden Tag.«
1986 war auch noch die Rede vom »Getränkefahrer« (S. 74). Das ist eine Berufsbezeichnung, die schon Anfang 2019 natürlich niemand mehr verstanden hat. Da hieß es dann: »Spirituosenvertreter« (S. 64). In den Rezensionen wurde mitunter so getan, als ob »Der Platz« besser wäre als »Das bessere Leben«. Von den beiden hier vorgestellten Büchern, die ich in der Hand hatte, empfehle ich allerdings eindeutig »Das bessere Leben«, und zwar aus folgendem Grund. In jenem »Platz«-Exemplar, das den Weg zu mir fand, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:
Hingegen in dem Exemplar des Buches »Das bessere Leben«, das in der Münchner Stadtbibliothek vorrätig ist, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:
Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:
Annie Ernaux: Das bessere Leben. Erzählung. Aus dem Französischen von Barbara Scriba-Sethe. Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag 1986. S. 3–111 (= 109 Textseiten).
Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2019. S. 5–95 (= 91 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)