Archiv des Themenkreises ›100 Seiten‹


100-Seiten-Bücher – Teil 153
Buchi Emecheta: »Der Ringkampf« (1980)

München, 18. März 2019, 10:10 | von Josik

Also, wenn ihr mal ein ergiebiges Thema braucht für eine literaturwissen­schaftliche Arbeit, hier ist eins: ein Vergleich zwischen dem »Ringkampf« und dem »Ring«. »Der Ringkampf« ist der Titel eines erstmals 1980 erschienenen, supersten Buchs der nigerianischen Schriftstellerin Buchi Emecheta. »Der Ring« ist der Titel eines erstmals im π mal Daumen 14. Jahrhundert erschienenen mittelhochdeutschen Versepos von Heinrich Wittenwiler.

Ein Vergleich bietet sich schon deswegen an, weil es in beiden Werken zwei miteinander verfeindete Nachbarortschaften gibt. Im »Ringkampf« sind es die Leute aus Akpei und die Leute aus Igbuno, die sich gegenseitig nicht leiden können. Diese Feindschaft ist allerdings aus verschiedenen Gründen vertrackt. So wird am Ende zwar heftig ringgekämpft, aber ein Ringkampf ist etwas extremst Tolles. Im »Ring« hingegen geht es ja eigentlich darum, dass Bertschi Triefnas aus Lappenhausen erfolgreich um Mätzli Rührenzumpf freit. Dummerweise ist aber zur Hochzeit der beiden auch die Community aus dem Nachbardorf Nissingen eingeladen. Auf der Hochzeitsfeier kommt es zwischen den Leuten aus Lappenhausen und den Leuten aus Nissingen wegen einer Lappalie zu einer Schlägerei, die in einen Weltkrieg ausartet.

Anders als im »Ring« ist das Ende im »Ringkampf« keineswegs deprimierend. Ihr könnt also beim Fazit eures literaturwissenschaftlichen Vergleichs zwischen Akpei und Igbuno einerseits sowie Lappenhausen und Nissingen andererseits festhalten, dass es nicht nur Gemeinsamkeiten gibt, sondern auch Unterschiede.

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Buchi Emecheta: Der Ringkampf. Roman. Aus dem Englischen von Jürgen Martini und Helmi Martini-Honus. Mit einem Nachwort von Jürgen Martini. Göttingen: Lamuv Verlag 1989. S. 3–99 (= 97 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 152
Aslı Erdoğan: »Der wundersame Mandarin« (1996)

München, 15. März 2019, 20:52 | von Josik

Hier steht: »Wahrscheinlich könnte man auch statistisch belegen, dass der Großteil der Mörder in den Kriminalromanen graue Augen hat« (S. 10). Ob das stimmt, wäre für die Digital-Humanities-Branche heutzutage leicht herauszufinden. Die Digital-Humanities-Angestellten würden in diesem Fall ein Korpus von, sagen wir, 25.000 Krimis durch die Maschine jagen, und dann würde das Ergebnis angezeigt werden, zum Beispiel: »74,0% der Mörder*innen in den durchsuchten Kriminalromanen haben graue Augen, 16,0% blaue, 5,0% braune, 3,0% schwarze, 1,9% grüne, und in 0,1% der Kriminalromane wird die Augenfarbe der Mörder*innen überhaupt nicht erwähnt, sodass also die Ich-Erzählerin in diesem Buch von Aslı Erdoğan eindeutig recht hat mit ihrer Vermutung.«

Wie gesagt, ob es sich tatsächlich so verhält, das herauszufinden wäre mittlerweile für die Digital Humanities keine Herausforderung mehr. Aber! Nun müssen wir den nächsten logischen Schritt gehen, d. h., wir brauchen jetzt ein Korpus von 25.000 weltliterarischen Werken, in denen, so wie hier in dem zitierten Satz mit der zu verifizierenden Augenfarbenstatistik­vermutung, Aufgabenstellungen für die Digital-Humanities-Branche enthalten sind. Hier schon mal ein weiteres Beispiel: In einem Brief, den Rosa Luxemburg am 14. Januar 1918 aus dem Gefängnis in Breslau an Sophie Liebknecht schrieb, vermutet sie unter Berufung auf Francé, »daß die hervorragendsten, wissenschaftlichen und literarischen Produktionen berühmter Männer in die Monate Januar–Februar fallen«. Auch hier wäre ja wieder leicht festzustellen, ob das objektiv richtig ist.

Und sobald das besagte Korpus vollständig ist, können wir dann endlich herausfinden, zu wieviel Prozent unsere Weltliterat*innen mit ihren Vermutungen richtig liegen.

Länge des Buches: ca. 140.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Aslı Erdoğan: Der wundersame Mandarin. Aus dem Türkischen von Recai Halliç. Berlin: Edition Galata 2008. S. 3–108 (= 106 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 151
Assia Djebar: »Die Zweifelnden« (1957)

München, 7. März 2019, 10:15 | von Josik

Nadia, die Ich-Erzählerin in Assia Djebars superstem Roman »La soif« (in dieser Ausgabe hier sehr frei als »Die Zweifelnden«, in einer anderen deutschen Ausgabe korrekt als »Durst« übersetzt), besucht gerne die Kinos und Kasinos in Algier, hört Jazz, hält sich in lauten Cafés auf, mag Überraschungspartys und liebt es, an Autorennen teilzunehmen, bei denen sie ihre Haare im offenen Cabrio flattern lässt, sie ist jung und flippig. Umso mehr sticht ein einzelner Satz im sechsten Kapitel hervor, auf den im ganzen Roman weder davor noch danach wirklich Bezug genommen wird, und nun bitte ich alle, sich kurz hinzusetzen und sich gut festzuhalten, denn dieser Satz lautet also wie folgt: »Ich übersetzte beschwingt einen Aufsatz Senecas über die Mäßigung« (S. 53).

Nun kann man von Seneca ja halten, was man will, aber es steht fest, dass er durchaus zum Austicken neigte. So berichtet er in einem seiner Briefe (Epistulae morales, 56), wie er mal für kurze Zeit über einer Badeanstalt, also über einem römischen Fitnessstudio, gewohnt hat, und er ist sich tatsächlich nicht zu blöd, sich über den Lärm, den die dort herumturnenden Kraftprotze, Masseure, Saunierenden, Wasserplantscher, Kuchenbäcker, Würstelverkäufer, Ballspieler und Achselhaarausrupfer veranstalten, lang und breit zu mokieren. Nur, wo bitteschön sollen Kraftprotze sich denn sonst aufhalten, wenn nicht in einem Fitnessstudio? Seneca und Mäßigung, ach komm, hör mir auf.

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Assia Djebar: Die Zweifelnden. Roman. Aus dem Französischen von Rudolf Kimmig. Deutsche Erstausgabe. München: Heyne 1993. S. 5–124 (= 122 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 150
Leonora Carrington: »Unten« (1973)

München, 5. März 2019, 20:42 | von Josik

Der Titel eines Berichts der supersten Künstlerin Leonora Carrington, »Unten«, hebt sich wohltuend ab von so prätentiösen Titeln wie Günter Wallraffs »Ganz unten« oder Christian Wulffs »Ganz oben – ganz unten«. Leonora Carrington beschreibt eingangs, wie sie sich immer wieder übergeben musste: »Ich hatte das Erbrechen bewußt herbeigeführt, indem ich das Wasser von Orangenblüten trank« (S. 10). Orangenblütenwasser­produktionsfirmen empfehlen eigentlich: »Orangenblütenwasser zur Gesichts- und Körperpflege auf die Haut sprühen«, und nicht: »Orangenblütenwasser trinken, um Erbrechen herbeizuführen«.

Sowieso würde ich von jenen Methoden, mit denen man Schriftsteller*innen zufolge sich oder anderen schaden kann, grundsätzlich eher abraten. So würde ich z. B. auch davor warnen, jene Suizidmethode zu praktizieren, die Elfriede Jelinek im Interview mit André Müller geschildert hat: »[M]ich umzubringen … ich könnte es nur mit Tabletten machen … Man muß die Tabletten, damit man sie nicht auskotzt, mit Apfelmus mischen … und vorher noch zusätzlich Valium schlucken.«

Leonora Carrington berichtet des Weiteren, wie ihr zur Lösung der politischen Probleme in den 1940er-Jahren eine Verständigung zwischen Spanien und England als die beste Lösung erschienen sei: »Ich begab mich deshalb in die englische Botschaft und sprach mit dem Konsul. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen, daß der Weltkrieg geführt werde, weil eine Gruppe von Leuten die Menschen hypnotisiere: Hitler und Co. … und daß es genüge, sich dieser hypnotischen Kräfte bewußt zu werden, um sie zu besiegen, um den Krieg zu beenden und die Welt zu befreien« (S. 26). Und daraufhin kam Leonora Carrington also für kurze Zeit in eine Nervenheilanstalt, nur weil sie, wie jeder normale Mensch, aufgrund der politischen Lage vorübergehend verrückt geworden war.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Leonora Carrington: Unten. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981. S. 5–87 (= 83 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 149
Carmen Boullosa: »Die Wundertäterin« (1993)

München, 22. Februar 2019, 00:44 | von Josik

Wir waren mitten in der Nacht aufgestanden, denn der ICE 886 fuhr bereits um 6:16 Uhr am Hauptbahnhof los. Als Reiselektüre hatte ich Carmen Boullosas Roman »Die Wundertäterin« eingepackt. Schon kurz nach Nürnberg musste ich anfangen zu lachen. Wie der von der Gewerkschaft angesetzte Privatdetektiv die Wundertäterin beschattet und für diese Aufgabe aber völlig untauglich ist! Alles wird immer abgefahrener, irgendwann kommt sogar der Präsidentschaftskandidat Morales ins Spiel. Das alles wird so rasant erzählt, und ich konnte mich irgendwann überhaupt nicht mehr zurückhalten und musste einfach laut loslachen. Doch je mehr ich lachen musste, desto mehr merkte ich, wie die Mitreisenden mir böse Blicke zuwarfen. Es war mir ja auch irgendwie unangenehm, aber was sollte ich machen?

Im Kopf überschlug ich kurz, dass ich aufhören könnte weiterzulesen. Aber sogleich wurde mir klar, dass diese Idee unsinnig war, denn dann hätte ich die ganze Zeit an das denken müssen, was ich gerade gelesen hatte, und dann hätte ich also wieder loslachen müssen. So gesehen war es viel effizienter, wenn ich weiterlas und über Stellen lachte, die ich noch nicht kannte. Einen kurzen Moment dachte ich auch daran, dass meine Mitreisenden ja nicht wissen konnten, worüber genau ich so lachen musste, und ich überlegte, ob ich ihnen aus Höflichkeit das Buch einfach von vorne vorlesen sollte. Das wäre aber in diesen frühen Morgenstunden bei den mich umgebenden Schlafmützen sicherlich nicht gut angekommen. Ich las also weiter, und lachte und lachte.

Länge des Buches: ca. 220.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Carmen Boullosa: Die Wundertäterin. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S. 3–133 (= 131 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 148
Louise Welsh: »Tamburlaine muss sterben« (2004)

Eutin, 20. Februar 2019, 15:53 | von Josik

Christopher Marlowe, der Autor des 1587/1588 verfassten Theaterstücks »Tamburlaine the Great«, ist derjenige, den Louise Welsh ganz kurz vor seinem Tod den hier vorliegenden Bericht an die Nachwelt verfassen lässt. Dort ist u. a. von seinem Schauspielerfreund Thomas Blaize die Rede, einem der Hauptdarsteller in einer Inszenierung des »Tamburlaine«: »Am Premierenabend hatte er in genau der Sekunde bemerkt, dass sich in seiner Pistole scharfe Munition befand, als er abdrückte. Er riss den Arm gerade noch herum und konnte seine Schauspielerkollegen verschonen, wirbelte aber […] mit dem Lauf zum Publikum hin« (S. 58) und erschoss versehentlich eine schwangere Zuschauerin.

Etwas nicht ganz so Tragisches, aber doch Vergleichbares ist 2008 z. B. im Burgtheater tatsächlich passiert. Gegeben wurde Schillers »Maria Stuart«, und die Requisite hatte vergessen, das Messer stumpf zu machen – so dass der Schauspieler Daniel Hoevels in der Rolle des Mortimer, nachdem er sich während der Vorstellung das scharfe Messer über die Kehle gezogen hatte, blutend von der Bühne wankte. Hoevels hat glücklicherweise überlebt. Die Frage aber bleibt, warum Theater als ein Ort der Kultur, des Geschmacks, der Zivilisation, der Lebensart gelten. Über den Finanzskandal, zufälliger­weise ebenfalls am Burgtheater, haben wir ja noch gar nicht gesprochen, aber wer realismusaffin durch die Welt geht, muss doch sehen, dass die Theaterbranche ein Ort der fahrlässigen Körperverletzung, der Beweis­mittelfälschung, der Geldwäsche, der Verderbtheit ist.

Wacht auf!

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Louise Welsh: Tamburlaine muss sterben. Roman. Aus dem Englischen von Wolfgang Müller. München: Antje Kunstmann 2005. S. 3–137 (= 135 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 147
Carson McCullers: »Die Ballade vom traurigen Café« (1943)

Eutin, 19. Februar 2019, 14:03 | von Josik

»The Ballad of the SAD café« sollte man lesen, um das Wort »SAD« mal wieder mit jemandem zu assoziieren, der nicht Donald Trump ist, in diesem Fall also mit der supersten Carson McCullers. Okay, in der deutschen Übersetzung fällt das wahrscheinlich nicht so auf, I mean, wohl die wenigsten denken beim Titel »Die Ballade vom TRAURIGEN Café« an @realDonaldTrump, oder? Die deutsche Übersetzung, die ich in der Hand hatte, stammt aus dem Jahr 1961 und ist eine wunderbar saturierte Übersetzung. So taucht im Original dreimal das Wort »chitterlins« auf, und das wird hier mit »Gekröse« wiedergegeben, oder genauer gesagt: Zweimal wird es mit »Gekröse« (S. 8, S. 49) übersetzt, einmal mit »Eingelegtem« (S. 73).

Die Worte »a Nehi« hingegen werden mit »ein Nehi« (S. 36) wieder­gegeben – das ist nachvollziehbar, denn ein Nehi ist eine Art Cola, nur dass es eben keine Cola ist, sondern ein Nehi. Aus »the hunchback, who had been eating sweet snuff all the day« wird »der Bucklige, der den ganzen Tag an seinem süßen Priem gelutscht hatte« (S. 68), und das klingt auch nowadays doch noch relativ knorke, doesn’t it? Auch »sweet snuff« kommt im Original insgesamt dreimal vor, wird hier überraschenderweise dann allerdings auch jedes Mal mit »süßer Priem« übersetzt (S. 32, S. 68, S. 104). Es gibt in diesem Buch natürlich noch viel, viel mehr zu essen (jaja, okay, Priem isst man natürlich nicht, es sei denn, man ist bescheuert oder aber man möchte ihn eben gerne essen), z. B. »a pecan«, also »eine Hickorynuss« (S. 104).

Usw.!

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Carson McCullers: Die Ballade vom traurigen Café. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. Zürich: Diogenes 1971. S. 3–116 (= 114 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 146
Marie NDiaye: »Selbstporträt in Grün« (2005)

Eutin, 18. Februar 2019, 11:25 | von Josik

Der Vater der Ich-Erzählerin ist inzwischen mit deren »ex-besten Freundin« (S. 38) verheiratet; Cristina ist eine »Freundin« (S. 19) der Ich-Erzählerin; Marie-Gabrielle und Alison hingegen sind »nur gute Bekannte« (S. 20). Okay, bis hierhin haben wir also Bekannte, Freund*innen und ex-beste Freund*innen. Man könnte die ganze Umgebung sicherlich noch weiter ausdifferenzieren: »entfernte Bekannte«, »zweitbeste Freund*innen« usw. usw. Ein Problem aber bleibt: Wie nennt man Leute, mit denen man irgendwann mal befreundet/bekannt war, zu denen man aber schon seit langer Zeit überhaupt keinen Kontakt mehr hat?

Manchmal ergibt es sich ja, dass man über genau solche Leute irgend was erzählt, und wenn man grade im Flow der Erzählung ist, möchte man diese Leute doch nur ungern als »Leute, mit denen ich mal befreundet/bekannt war, zu denen aber schon vor langer Zeit aus Gründen, die ich jetzt nicht ausführen kann, weil das sonst zu weit führen würde, der Kontakt abgerissen ist« titulieren? Das würde den Redeflow doch erheblich stören.

Hier ein Vorschlag: Ich selber nenne solche Leute »ehemalige Bekannte«. Für diese widersinnige Bezeichnung werde ich zwar oft ausgelacht, aber von allen kompakten Bezeichnungen für das betreffende Problem scheint mir diese doch die beste zu sein. In Marie NDiayes »Selbstporträt in Grün« geht es eigentlich um was völlig anderes, aber die oben zitierten Stellen boten sich eben an für diese kleine Meditation.

Zum »Selbstporträt in Grün« möchte ich noch sagen, dass ich schon lange nicht mehr ein dermaßen superstes Buch durchgeschmökert habe. Lest es!

Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marie NDiaye: Selbstporträt in Grün. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Zürich/Hamburg: Arche 2011. S. 3–119 (= 117 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 145
Marguerite Yourcenar: »Mishima oder die Vision der Leere« (1980)

Eutin, 15. Februar 2019, 14:05 | von Josik

Der japanische Schriftsteller Yukio Mishima (1925–1970) war, als ihr alle noch klein wart, weltberühmt, aber inzwischen scheint er langsam in Vergessenheit zu geraten, obwohl Paul Schrader sogar mal ein von Francis Ford Coppola und George Lucas produziertes Biopic über ihn gedreht hat. Die Frage, ob Mishima ein seriöser Typ war, kann man mit Marguerite Yourcenars allgemeingültigem Satz beantworten: »Das Adjektiv ›seriös‹ wirft stets ein Problem auf« (S. 60). Einerseits hinterließ Mishima eine Frau, zwei Kinder, eine unbekannte Zahl von Lovern und 36 Bände »Gesammelte Werke«, so dass er sogar mehrmals knapp am Literaturnobelpreis vorbeigeschrammt ist. Andererseits spielte er in diversen Trashfilmen mit und driftete politisch so weit nach rechts ab, dass er die »Schildgesellschaft« gründete, seine eigene, mit Fantasieuniformen ausgestattete paramilitärische Privatmiliz, die er auf englisch »Shield Society« nannte, abgekürzt: »SS«.

Mehr oder weniger das Hauptwerk von Mishima war dann aber doch das, was im Anschluss an seinen misslungenen und wohl auch misslingen sollenden Putschversuch geschah. Einen wertvollen Säbel aus dem 17. Jahrhundert im Gepäck, machte er sich am 25. November 1970 zusammen mit vier seiner Privatmilizionäre auf den Weg ins Verteidigungs­ministerium in Tokio und verschaffte sich Zugang zum kommandierenden General, unter dem Vorwand, dass er seinen supersten Säbel vom General bewundern lassen müsse. Komischerweise war das Grund genug, die fünf Burschen vorzulassen, und tatsächlich lief anfangs alles glatt. Mishima zeigte dem General seinen hinreißenden Säbel und der General bewunderte dieses fantastische Instrument. Doch gerade als er noch so am Bewundern war, wurde der General von den Privatmilizionären überwältigt und gefesselt.

Mishima verlangte, dass alle anwesenden Soldaten zusammengerufen werden, denn andernfalls werde der General hingerichtet. Also versammelten sich im Kasernenhof 800 Soldaten, vor denen Mishima dann eine Rede hielt, genauer gesagt, er langweilte sie mit einem kulturkritischen Lamento darüber, dass der Kaiser in Japan nicht mehr den ihm zukommenden Platz habe bla bla bla. Der Kaiser hatte nämlich auf seinen Rang als Sonnengottheit verzichtet, aber na ja, wie bitteschön würde es denn beim Volk ankommen, wenn jemand, der ratzingermäßig als Sonnengottheit bereits zurückgetreten ist, erklären würde, dass er aufgrund des Drucks, den ein Trashfilmer mit seinem formidablen Säbel auf ihn ausgeübt hat, nun plötzlich doch wieder eine Sonnengottheit ist.

Jedenfalls, die Resonanz auf diese Rede war niederschmetternd: Die Soldaten lachten Mishima aus. Daraufhin vollzog er zusammen mit seinem 25-jährigen Lieblingsmilizionär Morita das schon lange Zeit vorbereitete seppuku-Ritual, d. h., mit seinem sensationellen Säbel schlitzte sich Mishima regelkonform den Bauch auf, woraufhin ihm von Furu-Koga, einem anderen der herumstehenden Privatmilizionäre, die Rübe abgeschlagen wurde. Planmäßig hätte ihm eigentlich Morita die Rübe absäbeln sollen, der war dafür aber zu dösbaddelig und stichelte mit dem Säbel nur ein bisschen in Mishimas Schulter- und Nackengegend herum, so dass entgegen dem seppuku-Regularium Mishitas Kopf also immer noch genauso gut saß wie seine Frisur, selbst ohne Drei Wetter Taft. Nach dem alten Samurai-Code sprang in diesem Moment Furu-Koga geistesgegenwärtig ein und säbelte erst Mishima und dann Morita die Rübe ab. Sich auf diese Weise zu töten bzw. töten zu lassen, ist in Japan eigentlich seit 1868 verboten, und ihr alle könnt, da eure Rübe Euch noch nicht abgehauen wurde, euch nun gerne den Kopf über die Frage zerbrechen, welche gerechte Strafe der Staat verhängen sollte über jemanden, der sich trotz des Verbots auf diese Weise um die Ecke gebracht hat.

Zwei Jahre vor seinem seppuku hatte Mishimas Kumpel Yasunari Kawabata den Literaturnobelpreis erhalten, sodass ziemlich klar war, dass Mishima ihn nicht mehr erhalten würde, und manche mutmaßten, eben dies sei der Grund für seinen Suizid gewesen. Das ist aber ganz offensichtlicher Quatsch mit ganz offensichtlicher Soße, zumal ja auch ein Literaturnobelpreis nicht vor Suizid schützt, oder wie Marguerite Yourcenar schreibt: Zwei Jahre nach Mishimas rituellem Suizid »beging Kawabata Selbstmord, ohne heroisches Ritual (er begnügte sich damit, den Gashahn aufzudrehen)« (S. 112).

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Marguerite Yourcenar: Mishima oder die Vision der Leere. Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen. München: dtv 2005. S. 3–113 (= 111 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 144
Clarice Lispector: »Die Sternstunde« (1977)

Eutin, 14. Februar 2019, 14:01 | von Josik

Der Plot um die Figur Macabéa (und am Rande auch um Olímpico und Glória) wäre schnell umrissen, aber worauf es ankommt, ist, wie Clarice Lispector hier den Swag aufdreht. So heißt es beispielsweise, dass diese Story »unter der Schirmherrschaft des beliebtesten Erfrischungsgetränks der Welt niedergeschrieben wird, das mir aber deshalb noch lange nichts bezahlt – dieses in allen Ländern vertriebene Erfrischungsgetränk«, das »nach dem Geruch von Nagellack, nach Aristolino-Seife und zerkautem Kunststoff schmeckt« (S. 28). Ja gut, und bald darauf wird Coca-Cola also tatsächlich auch noch namentlich genannt: »Ich bin Stenotypistin und Jungfrau, und ich mag Coca-Cola« (S. 46).

Schon nach ca. 30 Seiten jedenfalls ist dieses Buch, dieses Durch- und Neben­einander von Storyklötzen, Weisheitssplittern und Selbstreflexionsbrocken, einfach extrem superst zu lesen. Wobei offen eingestanden wird: »Ich sehe, daß es mir nicht gelingt, diese Geschichte zu vertiefen. Beschreiben ermüdet mich« (S. 96). Eine ähnliche Bemerkung findet sich auch in Elfriede Jelineks Tausendseiterin »Neid«: »Ich kann nicht erzählen, ich kann einfach nicht sagen, was passiert, ich kann es nicht so sagen, daß Sie verstehen, daß es hintereinander passiert, ich reite mich beim Aufsteigen auf meine Handlung nur immer tiefer hinein, ich kann nicht, ich kann nicht, ich lebe ja nicht in Hamburg-Eppendorf oder in Berlin-Mitte, wo man wirklich etwas zu erzählen hätte«.

Clarice Lispectors »Sternstunde« spielt demzufolge auch weder in Eppendorf noch in Mitte, sondern im Nordosten Brasiliens.

Länge des Buches: ca. 140.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Clarice Lispector: Die Sternstunde. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Curt Meyer-Clason. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985. S. 5–115 (= 111 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)