Archiv des Themenkreises ›Buchbuch‹


100-Seiten-Bücher – Teil 179
Paula Fox: »Ein Dorf am Meer« (1988)

München, 19. November 2019, 10:50 | von Josik

Wer einen Witz zwischen zwei Buchdeckel pressen lässt, wird sich bestimmt darüber Gedanken gemacht haben, dass es ein guter, also ein haltbarer Witz sein muss. Davon kann man bei Paula Fox ausgehen, denn der sehr gute Witz, den sie die zehnjährige Emma ihrem Onkel Crispin und ihrer Schreckschraubentante Bea erzählen lässt, geht ungefähr so: Wohin setzt sich ein sechshundert Pfund schwerer Gorilla? – Wohin er will. (S. 40)

Harhar! – Genauso fantastisch ist aber auch z. B. der Witz, den Annie Ernaux in »Der Platz« abgedruckt hat: »Wie sagt der Augenarzt zum Abschied: Wir sehen uns« (S. 64). Hihi! – Zum Vergleich hier noch der Lieblingswitz des berühmten Literaturkritikers Uwe Wittstock, abgedruckt im »Focus« vom 26. September 2015:

»Eine Frau stellt ihrem Mann die Albtraumfrage: ›Fällt dir etwas an mir auf?‹
›Natürlich‹, antwortet er ängstlich, ›du hast neue Schuhe?‹
›Nein, Liebling‹, sagt sie.
›Du warst‹, ruft er schweißüberströmt, ›beim Friseur?‹
›Auch nicht, Liebling‹, sagt sie.
›Ich hab’s‹, schreit er in Panik, ›du hast abgenommen!‹
›Nein, Liebling‹, sagt sie, ›ich trage eine Gasmaske.‹«

Ja, na gut, das ist eben ein Nachrichtenmagazinwitz, bei dem man sich wirklich zweimal überlegen sollte, ob man ihn in einem Buch abdruckt.

Länge des Buches: ca. 190.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Paula Fox: Ein Dorf am Meer. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Köln: Boje Verlag 2008. S. 3–127 (= 125 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 178
Patricia Grace: »Unter dem Manukabaum« (1975–1994)

München, 18. November 2019, 12:55 | von Josik

In diesem Band sind zehn Geschichten der Maori versammelt. Eine dieser zehn Geschichten geht so: Die Kinder schämen sich ganz entsetzlich für ihre Mutter, denn sie fährt ein uraltes Auto, das keine Bremsen mehr hat. Außerdem hat die Mutter keinen Führerschein. Das ist ihr aber wurst, und so fährt sie jeden Mittwoch einkaufen.

Sobald sie losfährt, fängt sie an zu hupen. Wenn sie hupend durch die Straßen fährt, laufen alle ihre Freundinnen und Bekannten aus ihren Häusern und schreien ihr zu, was sie gerne haben möchten: Kartoffeln, Brot, Hosen usw. Wenn die Mutter sich schließlich dem Laden nähert, fährt sie gegen den Rinnstein und zieht die Handbremse. Sie kauft alles ein, packt das Auto randvoll, fährt zurück und wirft die Sachen auf dem Rückweg aus dem Auto raus, natürlich immer die richtigen Sachen an der richtigen Stelle.

Auf diese Weise also verlaufen die Mittwoche. Und dann, eines Tages, passiert das Unglaubliche: Der Vater gewinnt 50.000 Dollar im Lotto. Von diesem Geld kauft er, versteht sich, u. a. ein neues Auto. Der alte Wagen wird verschrottet. Trotzdem ändert sich eigentlich nichts. Die Mutter fährt weiterhin jeden Mittwoch einkaufen. Manchmal vergisst sie, dass das neue Auto Bremsen hat. Und sie fährt weiterhin hupend durch die Straßen. Ende. Ach so, am Anfang dieses Textes wollte ich eigentlich schreiben: »Spoilerwarnung«, hab ich vergessen.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Patricia Grace: Unter dem Manukabaum. Geschichten der Maori. Aus dem Englischen von Christine Holliger. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1995. S. 3–123 (= 121 Textseiten). – Die Titel der Originalausgaben lauten: Waiariki, Erstveröffentlichung bei Longman Paul Ltd 1975, The Dream Sleepers, Logman Paul Ltd 1980, Electric City, Penguin Books Ltd 1987, The Sky People, Penguin Books Ltd 1994.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 177
Annie Ernaux: »La Place« (1983)

München, 17. November 2019, 11:15 | von Josik

Von Annie Ernaux’ Bestseller »Der Platz« sind in der Münchner Stadtbibliothek zehn Exemplare vorhanden, doch alle sind ununterbrochen ausgeliehen und vorgemerkt. Ich wollte aber gerne mal was von Annie Ernaux lesen, also bestellte ich mir einfach irgend eine andere Hundertseiterin von ihr, »Das bessere Leben«, why not. Davon gibt es in der Münchner Stadtbibliothek genau 1 Exemplar, und das kann man jederzeit ausleihen, denn dafür interessiert sich keine Sau.

Aber kaum hatte ich »Das bessere Leben« in der Hand, fiel mir auf Wegen, die ich hiermit gerne geheim halten möchte, plötzlich das »Platz«-Buch in die Hände. Und wie big war mein Erstaunen, als ich feststellte, dass »Das bessere Leben« und »Der Platz« eigentlich genau das gleiche Buch ist! Nur eben einmal in der Übersetzung von 1986 und einmal in der Neuübersetzung von 2019 (dass 1986 der recht einfache Titel des französischen Originals, »La Place«, im Deutschen mit »Das bessere Leben« wiedergegeben wurde, damit konnte ja nun wirklich niemand rechnen).

Ein Vergleich zeigt aber, dass es, obwohl es das gleiche Buch ist, eigentlich zwei völlig verschiedene Bücher sind. Gleich am Anfang, im zweiten Satz, begegnet uns ein Teppich, der 1986 »samtfarben« war. Es ist klar, dass ein Teppich im Laufe von 33 Jahren etwas ausbleicht, 2019 jedenfalls ist er dann nur noch »sandfarben«.

Die Seite 15 und die Seite 21 sind in beiden Ausgaben besonders interessant. 2019: »Die Ehefrau eines Unternehmers aus der Nachbarschaft wurde abgewiesen, weil er sie nicht hatte ausstehen können, sie und ihre blasierte Art.« Das klang 1986 noch ganz anders: »Die Gattin eines nachbarlichen Unternehmers wurde abgewiesen, da er sie zu seinen Lebzeiten nie hatte leiden können, sie mit ihrem Hühnerhintern-Mund.« Äußerst bedauerlich ist, dass die Humorfrequenz zwischen 1986 und 2019 signifikant abgenommen hat. 2019: »Seine Frau hatte nichts zu lachen.« 1986: »Seine Frau lachte nicht jeden Tag

1986 war auch noch die Rede vom »Getränkefahrer« (S. 74). Das ist eine Berufsbezeichnung, die schon Anfang 2019 natürlich niemand mehr verstanden hat. Da hieß es dann: »Spirituosenvertreter« (S. 64). In den Rezensionen wurde mitunter so getan, als ob »Der Platz« besser wäre als »Das bessere Leben«. Von den beiden hier vorgestellten Büchern, die ich in der Hand hatte, empfehle ich allerdings eindeutig »Das bessere Leben«, und zwar aus folgendem Grund. In jenem »Platz«-Exemplar, das den Weg zu mir fand, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:

Vorsatzblatt

Hingegen in dem Exemplar des Buches »Das bessere Leben«, das in der Münchner Stadtbibliothek vorrätig ist, sieht, wenn man das Buch aufschlägt, das Vorsatzblatt so aus:

Vorsatzblatt


Länge des Buches: ca. 120.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Annie Ernaux: Das bessere Leben. Erzählung. Aus dem Französischen von Barbara Scriba-Sethe. Gütersloh: C. Bertelsmann Verlag 1986. S. 3–111 (= 109 Textseiten).

Annie Ernaux: Der Platz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2019. S. 5–95 (= 91 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 176
Colette: »Mitsou« (1919)

München, 16. November 2019, 21:05 | von Josik

Nicht auf der vierten Umschlagseite, sondern direkt auf dem Cover meiner alten Ausgabe von Colettes Roman »Mitsou« ist in riesigen Lettern ein Blurb des Kritikers Stefan Großmann abgedruckt, der dort Marcel Proust zitiert. Aber vielleicht gerade weil der Blurb so riesenhaft ist, habe ich ihn zuerst nur sehr flüchtig gelesen, jedenfalls begann ich die Lektüre dieses Romans in der Annahme, Stefan Großmann habe gesagt, dass Marcel Proust gesagt hat, er habe über Mitsous Briefe Tränen gelacht.

Als ich dieses entzückende Buch schließlich zu Ende gelesen hatte, musste ich konstatieren, dass ich während der Lektüre von Mitsous Briefen zwar die ganze Zeit über still vor mich hingelächelt, aber gewiss nicht Tränen gelacht hatte. Da ich mir überhaupt nicht erklären konnte, warum Marcel Proust und ich derart unterschiedlich auf dieses Buch reagierten, las ich den Blurb noch einmal, nun nicht mehr flüchtig, sondern ganz konzentriert, und da traf mich mein fataler Lesefehler wie ein Schlag in die Magengrube. Denn in Wirklichkeit stand da natürlich: »Marcel Proust hat gesagt, er habe heiße Tränen über Mitsous Briefe geweint«.

Länge des Buches: ca. 150.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Colette: Mitsou. Roman. Hamburg/Wien: Paul Zsolnay Verlag 1958. S. 3–134 (= 132 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 175
Ghada Samman: »Mit dem Taxi nach Beirut« (1974)

München, 9. Oktober 2019, 10:25 | von Josik

Fünf zufällige Fahrgäste fahren im Sammeltaxi von Damaskus nach Beirut und reden praktisch kein Wort miteinander, aber so unterschiedlich ihre Lebensgeschichten dann auch weitergehen – packend, explizit, brutal –, sie streifen sich doch. Besonders Yasmina ist eine starke Figur, und so könnten wir die fünf jetzt alle einzeln durchgehen, na, verweilen wir vielleicht noch ganz kurz bei Mustafa, der grade dabei ist, Fischer zu werden: »Aber stand er nun auf der Seite der Fischer oder auf der Seite der Fische?« (S. 30) Holy moley! Eine vergleichbar unerwartete Frage hat mir vor vielen Jahren eine Arbeitskollegin gestellt, mit der ich mich über »Tom und Jerry« unterhalten habe. Sie fragte mich: »Warst du als Kind auf der Seite von Tom oder auf der Seite von Jerry?« Ich war daraufhin mehrere Minuten lang völlig perplex und sprachlos, da ich bis zu diesem Zeitpunkt niemals, wirklich never ever, auch überhaupt nur auf die Idee gekommen war, dass man auf der Seite von Tom sein könnte!

Länge des Buches: ca. 180.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Ghada Samman: Mit dem Taxi nach Beirut. Roman. Aus dem Arabischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Suleman Taufiq. München: dtv 1993. S. 3–98 (= 96 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 174
Hedwig Dohm: »Werde, die du bist« (1894)

München, 8. Oktober 2019, 10:10 | von Josik

Es ist kaum zu glauben, wie fetzig Hedwig Dohm bereits 1894 über ein Thema geschrieben hat, das gesellschaftlich selbst heute noch relativ tabu ist, nämlich über die Liebe einer älteren Frau zu einem erheblich jüngeren Mann (hier trägt die ältere Frau den bezeichnenden Allerweltsnamen Agnes Schmidt). Diese superste Novelle wurde immer wieder aufgelegt und kursiert in den unterschiedlichsten Buchausgaben. Mir fiel jene Ausgabe in die Hände, die Berta Rahm besorgt hat, und das ist deswegen so interessant, weil nicht nur die Novelle selbst, sondern auch das von Berta Rahm verfasste, exakt drei Seiten lange Nachwort bleibende Eindrücke hinterlässt. »als ich die geschichte der Agnes Schmidt […] gesetzt hatte«, so geht dieses Nachwort los, »blieben (bei 6 bogen) 3 seiten leer. womit sollte ich sie füllen? / es war ein sonniger tag im märz. ich fuhr in den schwarzwald, kaufte DIE ZEIT (nr. 11) und las (EXTRA, S. 49–55 […]), was vor 50 jahren geschah […]. ›Der Marktführer setzt Maßstäbe‹, steht in der ZEIT-EXTRA im inserat daneben […]. nach der ZEIT-EXTRA-lektüre machte ich langlauf im weichen schnee. weil es aussah, als könnten wolken die sonne überziehen, setzte ich mich auf eine bank am waldrand um noch die warmen strahlen zu geniessen. / eine spaziergängerin liess sich auch nieder […]. ich fragte sie, ob sie die novelle von Hedwig Dohm kenne. nein. sie ging weiter dem wald entlang und ich wieder auf die loipe« (S. 93–95). Und damit der Kurzweil auf Erden kein Ende sei, ergeht hiermit folgender flammender Appell an die Weltöffentlichkeit: Wenn Ihr mal ein Buch herausbringt und am Ende bleiben noch drei Seiten leer: Füllt sie einfach!

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Hedwig Dohm: Werde, die du bist. Novelle. Neunkirch: Ala Verlag 1988. 3. Auflage. Vor- und Nachwort von Berta Rahm. S. 3–92 (= 90 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 173
Emily Nasrallah: »Kater Ziku lebt gefährlich« (1997)

München, 7. Oktober 2019, 13:12 | von Josik

Obwohl dieses Buch ein Kriegsbuch ist, ist es extremst entzückend, denn hier wird fast bis ganz zum Schluss das Kriegsgeschehen aus der Sicht eines Katers erzählt. Außerdem werden in diesem Buch auch viele praktische Tipps gegeben, so heißt es zum Beispiel, »dass Stricken das beste Mittel sei, um die Angst zu vertreiben« (S. 63). Also, Leute, wenn Ihr gewappnet sein möchtet, falls mal wieder ein Krieg kommt: Lernt bitte stricken!

Länge des Buches: ca. 100.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Emily Nasrallah: Kater Ziku lebt gefährlich. Aus dem Arabischen von Doris Kilias. Zürich/Frauenfeld: Nagel & Kimche 1998. S. 3–105 (= 102 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 172
Sharon Dodua Otoo: »Synchronicity« (2014)

München, 6. Oktober 2019, 10:05 | von Josik

Ich hatte sämtliche Bibliotheken hier in der Provinz abgegrast (München), aber Sharon Dodua Otoos »Synchronicity« war einfach nirgends aufzutreiben. Zum Glück machten wir mal wieder einen Kurztrip nach Berlin und hatten spontan so zwanzig, dreißig Freundinnen und Freunde in den Gleisdreieckspark eingeladen. Wir stellten Wasser, Bier und Chips bereit, alle waren tippi-toppi drauf, und dann kam zu meiner großen Freude auch noch Claudia direkt von der Amerika-Gedenkbibliothek herbeigeradelt und brachte dieses superste Buch vorbei, das sie dort extra für mich ausgeliehen hatte. Zuhause angekommen, las ich in Ruhe diese wunderbare, u. a. im Bergmannkiez spielende »sehr lange Kurzgeschichte« (S. 94) über Cee, eine freiberufliche Grafikerin, die 24 Tage vor Weihnachten dramatischerweise ihre Farben zu verlieren beginnt – und die nebenbei die Beziehung zu ihrer Mutter und die Beziehung zu ihrer Tochter (und auch generell die Beziehung zu Männern) neu sortiert. Besonders großartig ist, wie Cee an Tag 9 ihren Vermieter und gleichzeitig beruflichen Auftraggeber am Telefon runterputzt, ihre Forderungen stellt und danach einfach nur sagt: »Ich bin froh, dass wir uns einigen konnten. Auf Wiederhören!« (S. 25) Ganz bezaubernd sind auch die Illustrationen von Sita Ngoumou, die über das Buch verteilt sind. Als ich »Synchronicity« ausgelesen hatte, schickte ich es von München aus einfach per Post wieder zurück nach Berlin, in die Zivilisation.

Länge des Buches: ca. 105.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Sharon Dodua Otoo: Synchronicity. Übersetzung: Mirjam Nuenning. Illustrationen von Sita Ngoumou. Münster: edition assemblage 2014. S. 1–92 (= 92 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 171
Paulina Chiziane: »Liebeslied an den Wind« (1990)

München, 5. Oktober 2019, 10:00 | von Josik

Sarnau verliebt sich in Mwando, den Priesterseminaristen, äh, sagt man das so? Oder heißt das Priesteramtskandidat? Wie auch immer, Mwando wird dann eh aus dem Priesterseminar rausgeschmissen. Nun findet das Christentum die Institution Ehe zwar eigentlich gut, nur eben leider nicht mit einem Priester oder Priesteranwärter, aber noch dazu ist hier in Mosambik die Liebe zwischen Sarnau und Mwando ein besonders problematisches Problem, denn hier ist Polygamie noch weit verbreitet, und die wiederum findet Mwando als Christ nicht gut. Von Sarnau, deren ungeheuer turbulente Lebensgeschichte in diesem Roman erzählt wird, kann man nun lernen, dass Polygamie alle möglichen schlechten Seiten hat, »doch eines ist wundervoll: Es gibt keine unehelichen Kinder« (S. 124). So geht es zwischen Sarnau und Mwando auf und ab und hin und her, und als die beiden wieder einmal miteinander herumturteln, verwendet die Autorin Paulina Chiziane dafür ein Bild, das leider so verdammt gut ist, dass ich in meiner Funktion als Menschenfreund ausdrücklich davor warnen muss, sich die folgende Szene vorzustellen, weil man dieses Bild sonst nie wieder aus dem Kopf rauskriegen wird und weil es einfach jegliche Romantik für immer zerstört: »Wir entkleideten uns hastig, wie jemand, der von Durchfall überrascht wird« (S. 73).

Länge des Buches: ca. 230.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Paulina Chiziane: Liebeslied an den Wind. Roman. Aus dem mosambikanischen Portugiesisch von Claudia Stein und Michael Kegler. Nachwort von Michael Kegler. Frankfurt/M.: Brandes und Apsel 2001. S. 3–134 (= 132 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


100-Seiten-Bücher – Teil 170
Mary Shelley: »Verwandlung • Der falsche Vers • Die Trauernde« (1829)

München, 4. Oktober 2019, 09:55 | von Josik

Mary Shelley hat ja »Frankenstein« geschrieben, aber wer sich noch nicht an diese weltberühmte Weltliteratur heranwagt, kann natürlich stattdessen einfach unbekannte Weltliteratur lesen, z. B. die kurzen Geschichten »Transformation«, »The False Rhyme« und »The Mourner«, die Mary Shelley allesamt 1829 rausgehauen hat. Ich nehme an, dass Mary Shelley, während sie etwa »Verwandlung«, die Geschichte von Guido dem Höflichen, niederschrieb, sich die ganze Zeit scheckig gelacht hat über ihre eigenen Einfälle. Es geht schon funny los: »Man hielt mich für einen stattlichen Mann« (S. 9), lässt sie Guido den Höflichen eingangs berichten. Auf diese Weise erfahren wir also, wofür »man« Guido den Höflichen hielt. Und alle, die Guido den Höflichen nun fragen, wofür denn er selbst sich hielt, werden von ihm wie folgt beauskunftet: »[I]ch hielt mich für einen recht gutaussehenden jungen Mann, als ich das geliebte Spiegelbild meiner eigenen wohlvertrauten Züge betrachtete« (S. 35). Ein Typ, den Guido der Höfliche dann unterwegs trifft, sagt zu ihm: »[M]ir gefällt etwas an deinem wohlgeformten Körper und deinem hübschen Gesicht« (S. 22). Aha, und was genau, fragt Guido der Höfliche sinngemäß, gefällt dem Typen denn so gut daran? Dessen lustige Antwort lautet: »Dein hübsches Gesicht und deine wohlgestalteten Glieder« (S. 24). Jetzt ist es noch sehr bemerkenswert, welche Entwicklung Guido der Höfliche im Verlauf dieser Geschichte rein stattlichkeitstechnisch durchmacht, oder genauer gefragt, ob er überhaupt eine Entwicklung durchmacht. 1× dürft Ihr raten, und siehe da, am Ende des Textes sagt er tatsächlich: »[I]ch bekenne, daß ich eine beträchtliche Zuneigung für das Gesicht und den Körper hege, welche ich sehe, wann immer ich in den Spiegel blicke; und ich habe mehr Spiegel im Hause und benutze sie häufiger als alle Schönheiten Venedigs« (S. 35f.).

Länge des Buches: ca. 115.000 Zeichen (dt.). – Ausgaben:

Mary Shelley: Verwandlung • Der falsche Vers • Die Trauernde. Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Alexander Pechmann. Zürich: Manesse 2003. S. 3–82 (= 80 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)