Archiv des Themenkreises ›Coen-Brothers‹


Nach 15 Coen-Filmen: Grafik-Update

Hamburg, 28. März 2011, 07:43 | von San Andreas

Ok, »True Grit« ist verarztet, jetzt noch schnell das Grafik-Update. Das vor einem Jahr hier veröffentlichte Diagramm ist mit Coen-Brothers-Film Nr. 15 ja überholt, wir mussten auch den Maßstab ändern, weil »True Grit« so einen through-the-roof-Erfolg hatte.

Und wie schon gesagt, die Quantifizierung der Coens ist ein ziemlicher Frevel, hehe, aber wer eben eine schöne Übersicht über die nunmehr 15 Filme haben möchte, so könnte sie aussehen (auf die Grafik klicken zum vergrößern, lizenziert unter der CC by-sa 3.0):
 

Alle bisherigen 15 Coen-Filme, grafisch dargestellt (Stand: März 2011)
Die 15 Coen-Filme: Einspielergebnisse (Box Office Mojo),
Userwertungen (IMDb), Tenor der Kritik (Rotten Tomatoes)

 
In der Top 250 der IMDd ist »True Grit« im Moment nicht zu finden, mal abwarten. Die drei dort vertretenen Coen-Filme sind im Vergleich zu letztem Jahr übrigens ein wenig umplatziert worden:

118. Fargo   (+/–0)
121. No Country for Old Men   (–10)
135. The Big Lebowski   (+6)

Und jetzt warten wir mal alle auf den Coen-Film Nr. 16.
 


Coen-Film Nr. 15:
True Grit (2010)

Hamburg, 25. März 2011, 07:12 | von San Andreas

(= Fortsetzung unserer ewigen Coen-Retrospektive.)

True Grit (Icon)

Arkansas, 1878. Die 14-jährige Farmerstochter Mattie Ross will Tom Chaney, den Mörder ihres Vaters, dingfest machen. Dafür heuert sie den schneidigen wie trinkfesten Marshal Cogburn an. Auf ihrem Weg durch das Land der Choctaw begleitet sie Texas Ranger LaBoeuf, der Chaney aus anderen Gründen sucht. Selbiger hat sich mittlerweile der Bande von Lucky Ned Pepper angeschlossen, mit dem Cogburn noch eine Rechnung offen hat.

Coen Country. Arkansas stellt kaum prototypisches Western-Gelände dar, auch wenn hier damals die Frontier verlief. In westlicher Richtung – und dahin führt die Jagd auf Tom Chaney – schließt sich das ›Indian Territory‹ an, das für weiße Siedler verboten war und heute Oklahoma heißt. Das Gebiet bietet kaum Schauwerte, aber auch das ist der sogenannte Wilde Westen, dessen Idiosynkrasien die Coens dankbar in ihr Universum aufnehmen.

Coen Klüngel. Jeff Bridges (Rooster Cogburn), Josh Brolin (Tom Chaney), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Bold talk for a one-eyed fat man!« (Ned Peppers Beitrag zur Rubrik »Berühmte Letzte Worte«)

Coen Gold. Die surreale Begegnung mit dem Zahnarzt im Bärenkostüm. Die Szene gibt es nicht in der Romanvorlage, sie wurde allerdings nicht um ihrer selbst willen im Film platziert: Mattie und Rooster erfahren durch den Bärenmann von der Hütte am Fluss, darüber hinaus repräsentiert er das Fremde und Unberechenbare dieses Terrains, das für Mattie ja Neuland ist. So sind Leichen offenbar ein Handelsgut wie jedes andere auch. Den Gehenkten, den er bei sich führt, hat sich der Mann für »two dental mirrors and a bottle of expectorant« von den Indianern erkaupelt. Nicht zuletzt verschafft die Szene ›comic relief‹, wenn Cogburn, eigentlich den versprengten Texas Ranger erwartend, den reitenden Bären anraunzt: »You are not LaBoeuf!«

Classic Coen? Eigentlich können Joel und Ethan Coen machen, was sie wollen: Ob sie nun einen eigenen Stoff verfilmen oder ein Stück Literatur adaptieren, man darf stets Großes erwarten. Wie schon bei »No Country for Old Men« stellen sie sich in den Dienst der Vorlage, erfühlen ihre Substanz, transportieren sie ohne Auteur-Allüren, mit Präzision und Hingabe und einem tiefen Verständnis dafür, wie ihre Charaktere funktionieren. »True Grit« ist zuallererst eine fantastische Literaturverfilmung, nebenbei ein großer Western und erst in dritter Instanz das, was man einen echten Coen nennt.

Der Film will dezidiert nicht als Remake von Henry Hathaways Version von 1969 gesehen werden (seinerseits ein Klassiker und ein ganz guter Film), sondern als Neuverfilmung des Romans von Charles Portis (die deutsche Ausgabe trug – zur Freude aller Alliterations-Fans – den Titel »Der Marshal und die mutige Mattie«). Aber es ergibt dennoch Sinn, die beiden Werke miteinander zu vergleichen. Schließlich liegen dazwischen vierzig Jahre Kinogeschichte: Wie packen Filmemacher von heute dieselbe Geschichte an, welche Entscheidungen treffen sie wohl in punkto Ästhetik, Narrativik, Besetzung und Mise-en-scène?

Was Letzteres betrifft, könnten die Filme unterschiedlicher nicht sein. Hathaway filmt in den Rockies von Colorado, ergötzt sich an pittoresken, aufgeräumten Breitwandlandschaften, schwenkt genießerisch über felsige Hänge, rauschende Täler, glitzernde Bäche. So hatte ein Western damals auszusehen.

Die Coens begeben sich an Orte, die den Schauplätzen des Buches schon eher entsprechen. Ihr Film treibt sich in den unwirtlicheren Gefilden des damaligen ›Indian Territory‹ herum, trottet durch kahle Winterwälder, über graubraune Prärie, klettert in klammes, schneeverwehtes Karstgelände. Ungemütlich. Der Himmel ist grau, und wenn er nicht grau ist, ist er schwarz, denn es ist Nacht.

Der Coen’sche »True Grit« ist dunkel und düster, seine Bilder wollen keine Postkarten sein, sondern Daguerreotypien, monochrom, historisch und wahrhaftig. Aber auch nicht zu wahrhaftig, wohlgemerkt, nicht dogma-echt, nicht zufällig oder improvisiert. Die Tristesse hat Methode; Kamerazauberer Deakins fabriziert ausgewogene Available-Light-Einstellungen, so authentisch wie atmosphärisch, staffelt Grau- und Braunpaletten in die Dunkelheit hinein, dass Rembrandt seine Freude gehabt hätte.

Diese Art wohlkalkulierter Wahrhaftigkeit erfüllt alle Ecken und Winkel des Films. Man betrachte sich nur einmal die Szenen, die an und in der Hütte spielen, in der Quincy und Moon sich verschanzt haben. Hathaway setzt sie detailreich in Szene, von praller Sonne ausgeleuchtet und Schritt für Schritt, fast theatralisch, mit Dialogen, die die Beteiligten rezitieren, als hätten sie sie gerade frisch auswendig gelernt. John Wayne verzichtet auf keine übertriebende Geste und gibt den Macho-Marshal, einen Fuß lässig auf der Sitzbank abgestellt:

Cogburn: When’s the last time you saw Ned Pepper?
Quincy: I don’t remember any Ned Pepper.
Cogburn: Short feisty fella, nervous and quick, got a messed-up lower lip.
Quincy: That don’t bring nobody to mind. A funny lip?
Cogburn: Wasn’t always like that, I shot him in it.
Quincy: In the lower lip? What was you aiming at?
Cogburn: His upper lip.

Die Coens spielen ein anderes Spiel. Zunächst einmal knipsen sie das Licht aus: Die Belagerungsszene und auch die darauffolgende, in der die Pepper-Gang auftaucht, spielen in der Nacht. Das bedeutet eine geschlagene Viertelstunde Dunkelheit im Film, Licht spendet nur der Mond und eine Petroleumlampe.

Die Eskalation in der Hütte kommt in beiden Filmen schockierend. Hathaway spendiert Moon (dem jungen Dennis Hopper) eine ordentliche Sterbeszene, während die Coens vorher schneiden. Die Ankunft von Peppers Bande zeigen sie vollständig aus der Perspektive von Cogburn und Mattie, die auf einem Felsen auf der Lauer liegen und hilflos mit ansehen müssen, wie der ahnungslose LaBoeuf die Szene betritt und verletzt wird. Im Vergleich zu der allwissenden Drehweise Hathaways, die den Schurken Stimmen und Gesichter gibt, bleiben wir in der Subjektiven, starren mit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und versuchen auszumachen, was zum Teufel da unten abgeht.

Das ist freilich haarsträubend spannend. Bemerkenswert an dieser Spannung aber ist, dass sie derlei simplen Umständen entspringt: Dunkelheit und Distanz. Umstände, die wiederum mit der Handlung zusammenhängen, nicht mit einer filmischen Konvention oder einem originellen Regie-Einfall. Es ist das Primat der Geschichte, dem die Regie sich gleichsam unterordnet und das diesen Film letztlich so überzeugend macht.

Konsequenterweise fällt das ordnungsgemäße Begräbnis, das Hathaway Quincy und Moon zuteil werden lässt, in der Coen-Version Cogburns nüchterner Pragmatik sowie der winterlichen Witterung zum Opfer: »Ground’s too hard. Them men wanted a decent burial, they should have got themselves killed in summer.«

Ein schroffer Klotz, dieser Cogburn, ein bärbeißiger, trinkfester Teufelskerl, dessen gurgelndes Gepolter sich erst bei genauem Hinhören als Approximation von Sprache entpuppt. Aber was er da auch absondert! Die Wortwahl und Mundart sämtlicher Grit-Figuren erscheinen heutigen Ohren gänzlich ungewohnt und antiquiert, ja im rauen Land der Choctaw Nation regelrecht deplaziert (»Gentlemen, you can not fall out in this fashion!«). Aber für die Frontier People war damals die Bibel die Fibel, und so können Joel und Ethan ihr Steckenpferd – authentische Dialekte – ordentlich auf Trab bringen. Angefangen mit dem fast schon traditionellen Eingangsmonolog bevölkern schwere Südstaatenakzente die Tonspur, archaische Phrasen ohne die Verkürzungen und Verschleifungen des modernen amerikanischen Duktus.

Der Richter und der Stallbesitzer hören sich jedoch anders an; als die einzigen Yankees im Film sprechen sie mit der Zunge der Nordstaaten. Die beiden zählen zu den sogenannten Carpetbaggers, die nach dem Bürgerkrieg (der zur Zeit der Handlung dreizehn Jahre zurückliegt, die Gräben sitzen noch tief) in den Süden gekommen sind, um sich auf Kosten der Unterlegenen zu bereichern. Details wie diese erscheinen nicht prominent im Film, aber ihnen wird Rechnung getragen, der Film lebt sein Sujet.

Dazu zählen auch die Texas Rangers, jene legendäre, ursprünglich für Aktionen gegen Indianer ins Leben gerufene lokale Polizeitruppe (die es übrigens heute noch gibt). Matt Damon als ein ebensolcher gliedert sich als Neuzugang mühelos ins Coenversum ein, und genauso mühelos überflügelt er die Leistung von Countrysänger Glen Campbell in der 1969er Version, der damals total hip war und den Erfolg des Films pushen sollte. Auch Elvis Presley war gefragt worden, aber sein Management wollte Top Billing.

Das ging natürlich nicht. Denn dort stand der Duke, dort stand John Wayne. Der Film wurde als Star-Vehikel auf den mittlerweile über 60-jährigen Haudegen zugeschnitten, und prompt bekam er auch einen Sympathie-Oscar zugesteckt (für »The Shootist«, seinen letzten Film sieben Jahre später, hätte er ihn verdient gehabt). Natürlich wurde Jeff Bridges’ Rooster Cogburn mit dem seinen verglichen, aber der Vergleich scheint müßig: Auf der einen Seite haben wir eine altgediente Leinwandlegende, einen charismatischen Helden, einen wahren Publikumsliebling, auf der anderen Seite haben wir – John Wayne.

Bridges wurde charakterisiert als »the most natural and least self-conscious screen actor that’s ever lived«, und ja: er scheint immer irgendwie er selbst zu sein, man hat kaum den Eindruck, sein Spiel wäre eine ›Performance‹. Das führt hier freilich dazu, dass man in dem verlottert-gelassenen Gehabe des Rooster Cogburn teilweise den Dude aufblitzen sieht. Aber wenn Cogburn dann im Wechselspiel mit Mattie Ross sein verschrumpeltes Herz offenbart, wächst die Figur doch zu einem echten, vielleicht sogar liebenswerten Menschen.

Apropos Mattie – ihr kommt wie im Roman die eigentliche Hauptrolle zu, und die 14-jährige Hailee Steinfeld ist als blitzgescheites, zähes Mädel punktgenau gecastet – spätestens mit ihrer forschen Verhandlung im Büro des verschlagenen Pferde-Yankees steckt sie den Film in die Tasche. Mattie ist es auch, die die Rahmenhandlung erzählt, und ihre letzten Szenen, Jahrzehnte nach der Geschichte mit dem Marshal, gestalten sich wie ein wehmütiger Abgesang auf den Western schlechthin. Mattie hat Cogburn niemals wiedergesehen (ebenso wenig wie wir) – sang- und klanglos starb er als Mitglied eines abgehalfterten Wild-West-Wanderzirkus.

Dieser Schluss-Sentiment mag ernüchternd sein, doch befördert er die Geschichte, die 1969 noch als buntes Abenteuer präsentiert wurde, in einen kulturgeschichtlichen Zusammenhang – ähnlich wie Sheriff Bells Grüblerei der Story von »No Country for Old Men« geradezu philosophische Dimensionen verliehen hatte. So kommt »True Grit« (2010) auf eigenen Beinen zu stehen: Ein Western, ja, aber kein astreines Genrestück. Eine Literaturverfilmung, ja, aber eine, die ihre fiktionale Natur zu bestreiten scheint. Ein Coen-Film? Ja, aber einer mit Understatement, mit selbstloser Klasse. Einer mit echtem Schneid.

Coen Culture. Im Abspann fällt neben den üblichen Verdächtigen ein Name auf, der bis dato im Coen-Camp noch nicht aufgetaucht war: Steven Spielberg; er zeichnet als Executive Producer verantwortlich. Auch Scott Rudin, ein brillanter Mann, der uns »There Will Be Blood«, »Fantastic Mr. Fox« und »The Hours« brachte (und für »No Country …« einen Oscar eingeheimst hat), wieder mit von der Partie. Solch illustre Produzenten zeigen, dass die Coens vollends in Hollywood angekommen sind. Beeinflusst das ihre Integrität? Roger Deakins wurde dazu befragt, und er meinte nur: »Steven Spielberg is a producer, I am told, but the film we are shooting is very much the Coen’s film – and nothing else.«
 


Coen-Retrospektive: Grafischer Epilog

Hamburg, 17. Februar 2010, 07:32 | von San Andreas

Gestern haben wir hier den täglichen Film-für-Film-Durchmarsch durch den kompletten Coen-Kanon beendet. Heute folgt noch ein kleiner Epilog, ab morgen geht es dann weiter mit anderen Feuilleton-Abenteuern.

(Hi Austin! Hi Dique! Hi Marcuccio! Hi Niwoabyl! AUFWACHEN, die Ferien sind vorbei, hehe.)

Die Coens muss man nicht quantifizieren, es ist sogar irgendwie ein Frevel, aber wer eine schöne Übersicht über alle Filme und ihre Resonanz bei Publikum und Kritik haben möchte, bitte sehr (auf die Grafik klicken zum vergrößern, lizenziert unter der CC by-sa 3.0):
 

Alle bisherigen 14 Coen-Filme, grafisch dargestellt
Die 14 Coen-Filme: Einspielergebnisse (Box Office Mojo),
Userwertungen (IMDb), Tenor der Kritik (Rotten Tomatoes)

 
Die Statistik verdeutlicht noch mal ein paar Dinge, etwa den Kritiker- und Publikumsflop des sündteuren Films »The Hudsucker Proxy«. Es gibt da natürlich auch ein paar Unzulänglichkeiten, die nicht berück­sichtigte Inflation etwa, außerdem ist »A Serious Man« noch nicht weltweit angelaufen usw. usw.).

In der berüchtigten Top 250 der IMDd befinden sich im Moment übrigens drei Coen-Filme:

111. No Country for Old Men
118. Fargo
141. The Big Lebowski

*

Was kommt als Nächstes von den Coen-Brüdern?

Das nächste große Projekt befindet sich bereits in Produktion und heißt »True Grit«. Einen Film dieses Titels gibt es freilich schon. Viele Filmfans zeigten sich entrüstet: Niemand könne John Wayne das Wasser rei­chen, wozu also ein Remake. Die Coens brachten vor, dass der Film so gut nicht sei und die Romanvorlage von Charles Portis viel beeindruckender.

Ihr Film wird eine neue Adaption des Stoffes werden, der davon handelt, wie ein 14-jähriges Mädchen den besten US Marshal des Landes (Jeff Bridges) anheuert, um den Mörder ihres Vaters (Josh Brolin) zu fassen. Auf der gefahrvollen Reise gesellt sich ein Texas Ranger (Matt Damon) zu den beiden. Der Kinostart des Western­dramas ist für Weihnachten dieses Jahres geplant.

Mit »The Yiddish Policemen’s Union« soll eine weitere Literaturadaption folgen. Michael Chabon zeigte sich hellauf begeistert, dass die Coens sein preisgekröntes Buch verfilmen wollen, welches einen bizarren Mordfall in einem hypothetischen jüdischen Reservat in Alaska zum Thema hat. Klingt auf jeden Fall nach eins a Coen-Material.

Im Regal liegt ebenfalls ein Remake des britischen Gaunerfilms »Gambit«, seinerzeit besetzt mit Shirley MacLaine und Michael Caine. Ethan schrieb wohl das Skript dazu, das einen Coup in zwei Versionen erzählt: einmal, wie er geplant ist, und einmal, wie er tatsächlich ver­läuft. Die Coens werden nicht Regie führen, was vielleicht gar nicht so schlecht ist.

Seit geraumer Zeit schon existiert ein Coen-Skript mit dem Titel »Suburbicon«, für das George Clooney nicht müde wird die Werbe­trommel zu rühren. Er selbst war eine Zeitlang als Regisseur im Gespräch, doch mittlerweile scheinen die Coens wieder am Ruder zu sitzen. Es ist die Rede von einer »really interesting, really funny, very dark comedy«.

Eine Doku über die Coens aus dem Jahre 1999 zeigte in einer Ein­stellung ein Regal, in dem etwa 40 Drehbücher schlummerten. Einige von ihnen haben mittlerweile das Licht der Leinwand erblickt. Andere Titel wie »Coast to Coast«, »Leap in the Dark«, »Meet Bobby Buttman«, »The Concierge« oder »Respect Your Godfather« könnten sich in Zukunft noch materialisieren. Außerdem gibt es ein Gerücht über einen »Lebowski«-Spin-Off um Jesus Quintana, über ein »Hail Caesar«, ein weiteres Clooney-Projekt, und über eine Art Sequel zu »Barton Fink« mit dem Titel »Old Fink«, von dem Joel und Ethan selbst sagen, sie würden damit warten, bis John Turturro sehr, sehr alt ist.
 


25 Jahre Coen-Kino (14):
A Serious Man (2009)

Hamburg, 16. Februar 2010, 07:36 | von San Andreas

A Serious Man (Icon)

Ab dem Moment, als seine Frau ihm eröffnet, sie würde Sy Ableman ihm vorziehen, gerät Professor Gopniks Leben aus den Fugen. Er ist derart vom Pech verfolgt, dass man glau­ben könnte, jemand habe etwas gegen ihn. Ist es Gott? Dies herauszufinden, wendet sich Larry an die Würdenträ­ger seiner jüdischen Gemeinde …

Coen Country. Ein namenloser Vorort von Minneapolis, Minnesota. Wenn es ein Coen Country gibt, dies muss es sein.

Coen Klüngel. Roger Deakins (Kamera), Carter Burwell (Musik)

Coen Quote. »Look, look, something is very wrong! I don’t want Santana Abraxas, I’ve just been in a terrible auto accident!« (Larry weiß die Offerten des freundlichen Columbia-Kundendienstmitarbeiters nicht recht zu würdigen)

Coen Gold. Dannys Bar Mitzwa. Die Zeremonie, mit der der Junge die jüdische Religionsmündigkeit erwerben soll, wird durch seinen Marihuana-Konsum auf dem Synagogenklo ein wenig in Mitleidenschaft gezogen. Der große Moment seines Tora-Vortrages ist so liebevoll subjektiv inszeniert (Höhepunkt ist das ohrenbetäubende Geräusch, das die Jad, der Tora-Zeigestab, auf dem Pergament macht), dass den Coens enge autobiografische Motive untergeschoben wurden. Sie dementierten.

Classic Coen? Auf den Plakaten an den U-Bahn-Haltestellen steht: »Von den Machern von ›Fargo‹, ›The Big Lebowski‹, ›No Country for Old Men‹ und ›Burn After Reading‹«. Diese Filme sprechen zwar für die Klasse der Coens, wecken jedoch die falschen Erwartungen. Tatsäch­lich wurden Zuschauer beobachtet, die frustriert den Saal verließen: kein Blut, kein Bowling, kein Ballern, kein Brad Pitt.

»A Serious Man« ist eine ruhige Affäre. Der Film ist elegant, milde skurril, niemals laut oder extravagant. Die Pointen sind subtil, lauern aber an jeder Ecke der Geschichte. Es geht um Schicksal und seine Unausweichlichkeit. Es geht um Familie und ihren Zerfall. Es geht um Integrität, es geht um Wissenschaft und Religion. Es geht um Zähne und Antennen, es geht um Loyalität und Pubertät. Es geht um Xenophobie und Nudismus in der Nachbarschaft, und um Jefferson Airplane.

Stoff für einen dreistündigen Ensemble-Film, möchte man meinen, aber dies ist die Geschichte eines einzelnen Mannes. Lawrence Gopnik ist ein Mann der Vernunft, er lebt ein redliches Leben, ist ein rechtschaffe­ner, ein seriöser Mann. Er erwartet eine Anstellung auf Lebenszeit als Professor der Physik, seine Familie gedeiht prächtig, nach jüdischer Tradition, alles ist gut.

Denkt er. Als seine Frau ihn wissen lässt, es wäre Zeit über eine Trennung zu reden, ist das erst der Anfang einer verheerenden Kette von Kümmernissen. An der Uni wird er Opfer einer Rufmordkampagne, seine Kinder praktizieren Ungehorsam, er muss einen renitenten Studenten erdulden, der ihn mal besticht und mal erpresst, sein lebensunfähiger Bruder kommt erst nicht aus dem Badezimmer (»I’ll be out in a minute!«) und dann mit dem Gesetz in Konflikt, sein Redneck-Nachbar macht ihm einen Teil seines Grundstücks streitig, er verursacht einen Verkehrsunfall, Anwaltskosten fressen seine Reserven auf, um ihn herum fangen die Leute an zu sterben. Und ständig ruft dieser Dick Dutton vom Columbia Record Club an!

Es ist Larry nicht zu verdenken, dass er die Frage stellt, die sich jeder schon einmal gestellt hat, der vom Unglück heimgesucht wurde: Warum passiert gerade mir das alles? Antworten erwartet er bei den Rabbis seiner Gemeinde, denn die lange jüdische Geschichte und Tradition, so rät ihm eine Freundin, wären ein einziger Quell unschätzbarer Lebenshilfe.

Der erste Rabbi, dem er gegenüber sitzt, kramt in seinem Phrasen­baukasten und fördert eine Handvoll abgegriffener Glaubensfloskeln zutage: »You have to see these things as expressions of God’s will.« Und setzt hinzu: »You don’t have to like it, of course.« Larry möge sich doch eine andere Perspektive suchen, denn Gott wäre überall – selbst in diesem herrlichen Parkplatz da draußen.

Hilfreicher ist der ältere Kollege, Rabbi Nachtner, auch nicht. Er erzählt eine abstruse Geschichte über hebräische Gravuren auf der Innenseite der Zähne eines Goys, eines Nichtjuden. Die Anekdote hat kein Ende, keine Moral und keine Erklärung, Nachtner resümiert lediglich, dass manche Rätsel einfach nicht zu lösen wären und im Laufe der Zeit ihre Bedeutung verlören. Bestürzt, dass Nachtners große Lebenserfahrung und Kenntnis der Schrift nichts Erhellenderes zu bieten haben, besteht Larry auf einer Antwort. Der Rabbi wiegelt ab: »Sure! We all want the answer! But Hashem doesn’t owe us the answer, Larry. Hashem doesn’t owe us anything. The obligation runs the other way.«

Die Default-Ausflucht aller Religionen, postuliert, um sich unangreifbar zu machen. Dem Menschen stünde es nicht zu, Gottes Wege zu hinterfragen – ganz im Sinne des Zitats von Mittelalter-Rabbi Rashi, das dem Film vorangestellt ist: »Receive with simplicity everything that happens to you.« Doch Larry ist das zu einfach. Dass er, der er ja überzeugt ist, das ihm widerfahrende Unglück widerspräche der Idee eines gütigen und gerechten Gottes, mit einem lapidaren Hinweis auf dessen Mysterium abgespeist werden soll, lässt seine rationale Seele rebellieren. Dazu hat er als Pädagoge wohl das Gefühl, Gott erfülle seinen Lehrauftrag nicht korrekt: Kein Fachmann würde je ohne Begründung schlechte Noten verteilen. Sonst: Erkenntnisgewinn gleich Null, Besserung nicht zu erwarten. Larrys Frustration kondensiert sich in der händeringenden Frage: »Why does he make us feel the questions, if he’s not gonna give us any answers?«

Dinge haben Ursachen, Dinge haben Konsequenzen. Alles liegt klar zutage, wenn man nur im Besitz aller Fakten ist. Dass es so einfach doch nicht ist, auch nicht in Larrys säkularem Umfeld der Wissenschaft, zeigt ein Schlüsselmoment des Films, der eine frühere Szene um Schrödingers Katze noch steigert. Larry behandelt Heisenbergs Unschärferelation, schreibt fiebrig Formeln an eine Tafel und erklärt: »The Uncertainty Principle. It proves we can’t ever really know …« – in diesem Moment schneidet die Kamera in die Totale, gibt den Blick frei auf die gewaltige, restlos mit Formeln bedeckte Tafel – »… what’s going on.«

Larrys Beweis ist so elaboriert und spannend wie Nachtners Zahn-Anekdote, läuft aber auf dieselbe ernüchternde Feststellung hinaus: Wir tappen im Dunkeln. Endgültige Gewissheit ist eine Illusion; den Katzenkasten zu öffnen oder der Welt mit Messgeräten zu Leibe zu rücken, ist genauso irreführend und vergeblich wie der Versuch, Gott in die Karten zu kucken. Wobei der vermutlich gar kein Blatt auf der Hand hat, so wie es aussieht … Die Coens treiben es nicht weiter mit ihrer Gotteslästerei, erlauben sich lediglich noch einen Seitenhieb auf die jüdische Egozentrik. »What happened to the goy?«, fragt Larry. Nachtner darauf: »The goy? Who cares?«

Larry schafft es nicht, zum ältesten und weisesten Rabbi vorzudringen (Grund: »He’s thinking.«), sein Sohn aber erhält als frischgebackener Religionsmündiger automatisch das Privileg. Die bedeutungsschwange­ren Worte, die der alte Marshak ächzend von sich gibt, sind schwer zu verstehen, aber sie entpuppen sich als Textzeilen von Jefferson Airplanes »Somebody to Love«. Marshaks Wissen ist also tatsächlich allumfassend. Und das Zitat, das er bringt – »When the truth is found to be lies, and all the hope within you dies.« – spiegelt orakelhaft Larrys zum Scheitern verurteilte Suche nach der Wahrheit (im Original heißt es ›joy‹ anstelle von ›hope‹; möglicherweise eine bewusste Manipulation der Coens, um die Verbindung deutlicher zu machen).

Danny bekommt sein konfisziertes Transistorradio zurück, und schon ist er mit der wertvollen Weisung »Be a good boy.« ins verantwor­tungsvolle Leben entlassen. Es steht zu vermuten, dass dieses Leben weniger von frommen Dogmen geprägt sein wird als noch das seines Vaters, wenn schon der mit dem Glauben hadert und nur noch die Tradition lebt, nicht die Überzeugung. Religion kann die Lebensfragen der Menschen nicht mehr beantworten. Der ›Summer of Love‹, der in San Francisco ausgebrochen ist, hat selbst das Hinterland des Mittleren Westens erreicht, die Kinder entdecken nun erst mal sich selbst, sind mit Haarewaschen, Musik und Drogen beschäftigt.

Seltsam deplatziert wirken diese Moden in der aseptischen Bungalow­siedlung mit ihren langweilig sauberen Rasenparzellen (»Property line’s the poplar.«), die offenkundig jenem jüdisch geprägten Vorort von Minneapolis nachempfunden ist, in dem Joel und Ethan aufge­wachsen und zur Schule gegangen sind. Tatsächlich heißen einige von Dannys Schulfreunden wie ihre damaligen Kameraden. Und Anwalt Ronald Meshbesher, dessen Namen sich die Coens nicht besser hätten ausdenken können, praktiziert tatsächlich in Minneapolis.

Derlei Reminiszenzen bestätigen, was die Ausstrahlung des Films nahelegt: »A Serious Man« ist der bislang persönlichste Film der Coens, und es ist bei aller Ironie auch der warmherzigste. Der Film hat Larry Gopnik gern, selbst wenn er ihm übel mitspielt. Und seine Welt hat Ecken und Winkel, in denen Joel und Ethan ihre Launen ausleben können: Da fahren Kameras durch Hörkanäle, setzen unangekündigte Traumsequenzen neckische Akzente, da werden Personen in ein eher unvorteilhaftes Licht gesetzt (Onkel Arthur beim Baden, buäh) und nicht eben behagliche Details in den Vordergrund gerückt (sein Schleimabsauggerät).

Etliche Bonbons finden sich auf der Tonspur: vom Rascheln des Perlenvorhangs von Mrs. Samsky bis zu dem Tinggg-Geräusch, das der Kiddush-Becher macht, den Danny Rabbi Nachtner eher entreißt als dass er ihn ihm gibt. Ferner erforschen die Coens abermals den Klang von Namen (Dick Dutton, Solomon Schlutz), experimentieren mit idiomatischer Phonetik (»Mere surmise, Sir.«) und merkwürdigen Stimmen (der überraschende Bass von Marshaks Sekretärin, Sy Ablemans einlullende Schmalzstimme).

Joel und Ethan geben sich auch kryptisch: Dem Film als Prolog vorangestellt ist eine unheimliche Episode aus einem osteuropäischen Schtetl des 19. Jahrhunderts, aus einer Zeit also, in dem der Glaube bzw. der Aberglaube noch uneingeschränkten Einfluss auf das Leben der Menschen hatte. Die kleine Geschichte ist nicht traditionell, ist von den Coens ausgedacht und setzt den Ton, aber ihre Beziehung zum Rest des Films bleibt unklar. Ähnlich mysteriös ist Onkel Arthurs Lebenswerk, der Mentaculus, ein wahnwitziges Büchlein voller numerischer Kritzeleien, die vielleicht gleichermaßen an die jüdische Kabbala und Larrys konfuse Tafelbilder erinnern sollen.

Fragezeichen umwölken auch den ominösen Schluss des Films. Larry lässt sich dazu hinreißen, im Falle des renitenten Studenten seine Prinzipien ein wenig zu lockern, die monetäre Notlage zwingt ihn dazu. Seine akademische Integrität angekratzt, erhält er prompt eine zutiefst beunruhigende Nachricht von seinem Arzt, während draußen ein herannahender Tornado den Himmel verdunkelt. Sollte alles ein tragisches Ende finden, bevor die drängende Frage geklärt ist, warum guten Menschen Böses zustößt? Der Film zumindest findet sein Ende. Schwarzblende, und aus.

Was machen wir daraus? Erhält Larry die göttliche Quittung für sein Zweifeln, und mit ihm die gesamte Gemeinde? Oder gibt es halt manchmal Tornados in der Gegend? Als Fingerzeig mag gelten, dass im April 1967 tatsächlich eine Serie von Wirbelsturmen das südliche Minnesota heimsuchte; deute man das, wie man will … Bibelfeste Kritiker jedenfalls versäumten nicht zu erwähnen, dass Larrys unglückliche Geschichte ganz offensichtlich dem Buch Hiob nachempfunden sei (vernachlässigend, dass Larry weder zu Gott hält noch schlussendlich reich belohnt wird). Andere bemühen wieder die alte Leier vom jüdischen Selbsthass und beklagen, der Film wäre von nichts als jüdischen Karikaturen bevölkert.

Dabei ist das Casting nur der charaktervollsten Physiognomien, nur der ausdrucksstärksten Gestalten die halbe Miete jedes Coen-Films – in diesem Fall in wohltuender Abwesenheit von Stars und Sternchen, stattdessen unter Mithilfe vieler ortsansässiger Laien. Warum genau Arlen Finkle zum mausgesichtigen Pharisäer gerät, der Schuldirektor zum ohrbehaarten Runzelgreis und seine Sekretärin zur mächtigen Matrone im Blümchenkleid – die Wege der Coens sind unergründlich.

Larry Gopnik nun (anrührend und komisch zugleich: Michael Stuhlbarg) ist einer der wenigen Charaktere im Coenversum, die ihr Dasein in einem größeren Zusammenhang zu fassen versuchen. Üblicherweise reflektierten Coen-Figuren die Absurdität ihrer Situation nicht (oft, weil ihre eigene Idiotie ihnen dabei im Wege stand). Ed Crane machte sich in »The Man Who Wasn’t There« schon zaghaft Gedanken über sein Leben, Sheriff Bells Weltschmerz in »No Country for Old Men« ist bereits das zentrale Thema des Films.

Larry katapultiert die Sinnfrage weit über die Grenzen des Films hinaus, macht die Implikationen der Geschichte relevant für alle, die vielleicht in ähnlicher Weise mit dem Schicksal hadern. Ironisch und leichtfüßig genug, um nicht zu vielen Zeitgenossen auf den Schlips zu treten, laviert sich der Film durch Themen, die im Coen-Kino durchaus kein Standard sind. Nie stand es in dem Ruf, selbstreflexiv und fast grüblerisch dem Sinn des Lebens auf der Spur zu sein, sich keck mit Weltanschauungen anzulegen oder überhaupt nur gegen den kulturellen Strich zu bürsten. Womöglich sind Joel und Ethan mit »A Serious Man« tatsächlich erwachsen geworden? Masel tov!

Coen Culture. Die Liste von Schülern, die Larry beim Wickel hat, verzeichnet als letzten Namen eine Mary Zophres. Die Frau ist die Kostümdesignerin des Films und, offenbar eine verlässliche Kraft, auch der vorangegangenen acht Coen-Filme (für den nächsten ist sie auch schon gebucht). Mary Zophres also verpasste Judith Gopnik die hässlichen Wollblusen, Sy Ableman die schreienden Südseehemden und Larry seine zu kurzen Hosen. Psychische Schäden trugen die Darsteller offenbar nicht davon, wie der Abspann verrät: »No Jews were harmed in the making of this motion picture.«
 


25 Jahre Coen-Kino (13):
Burn After Reading (2008)

Hamburg, 15. Februar 2010, 07:53 | von San Andreas

Burn After Reading (Icon)

Osbourne Cox verliert seinen Job bei die CIA. Seine Frau Katie, die ihn mit Harry Pfarrer betrügt, spioniert seinen Rechner aus. Die CD mit den Daten gerät in die Hände von Linda Litzke, die sich damit Geld für eine Operation erpres­sen will und dazu die Hilfe ihrer Kollegen Ted und Chad einfordert. Als Harry auf Chad trifft und Cox auf Ted, geraten die Dinge rasch außer Kontrolle …

Coen Country. Washington D.C. Keine urtypische Coen-Location, aber als Sitz der CIA eine sinnfällige Wahl. Der Horizont der Charaktere scheint von der Weltoffenheit der Hauptstadt allerdings unbeeindruckt.

Coen Klüngel. George Clooney (Harry), Richard Jenkins (Ted), Frances McDormand (Linda), J.K. Simmons (CIA Superior), Carter Burwell (Musik)

Coen Quote. »Osbourne Cox? I thought you might be worried … about the security … of your shit.« (beim Ausüben des korrekten Jargons offenbart Chad Feldheimer noch gewisse Unzulänglichkeiten)

Coen Gold. Der Kalte Krieg, wieder aufgewärmt. Die alten Feindbilder stecken noch im Volk, mit der Loyalität ist es aber nicht weit her. Was zu tun ist, haben Linda und Chad den alten Agentenfilmen abgekuckt; die Disk mit den mutmaßlich hochbrisanten Daten wird dem russischen Botschafter zugeschanzt (dessen Frage »Mac or PC?« ein typisches i-Tüpfelchen aus dem Hause Coen). Die weniger einfältigen Beteiligten – Cox und der CIA – reagieren gleichermaßen perplex: »The Russians …?!?«

Classic Coen? Man kann »Burn After Reading« für eine eher harmlose, starbesetzte Komödie halten, die einen öden Sonntagnachmittag zu retten imstande wäre. Aber wenn der Film einen nach 96 Minuten relativ abrupt entlässt, bleibt man möglicherweise etwas irritiert zurück. Gelohnt hat es sich schon irgendwie, aber anders als erwartet.

Der Film benimmt sich nicht wie eine Komödie, verbreitet keine richtige gute Laune, sein Kapital sind keine Lacher. Er erzählt einfach nur diese abgefahrene Geschichte und nimmt dabei auf nichts Rücksicht, was der Zuschauer vorhergesehen haben könnte. Immer wenn er glaubt, ein vertrautes Muster zu erkennen, machen einem die Coens einen Strich durch die Rechnung.

Beispiel. In Komödien gibt es oft Überraschungen, die keine sind: Der Mann, der sich im Wandschrank versteckt, wird entdeckt werden, das ist klar. Was wir erleben, ist eine Überraschung aus zweiter Hand, und die ist viel lustiger: Als Eingeweihte empfinden wir die Suspense vor der Entdeckung, können uns mit Wonne in beide Parteien hineinver­setzen. Was für die Charaktere überraschend ist, ist für uns komisch: Komisch ist die Situation, komisch sind die jeweiligen Reaktionen der Figuren. Und spannend ist die Frage, wann und auf welche Weise die Entdeckung stattfinden wird. Das Lachen kommt dann automatisch.

Die Coens inszenieren in »Burn After Reading« konsequent um derlei Standards drumrum; sie haben keinerlei Skrupel, das befreiende Lachen des Publikums mit dem brutalst möglichen Schockeffekt abzuwürgen. Um Fassung ringend, versucht der Zuschauer zu rekonstruieren, was er da eben gesehen hat: Die Folgen sind gar nicht abzusehen. Dieses perfide Manöver saugt auf einen Schlag alle Komik aus der Szene und etabliert für den Zuschauer unversehens das, womit der, in seinem Tran, angesichts des gewohnten Szenenaufbaus partout nicht gerechnet hatte: eine Überraschung!

Und so schlägt die Geschichte manch originelle Haken, treibt wunderbar verschrobene Blüten. Wie schon Jeff Lebowski der denkbar unpassendste Mann war, einen Chandler-Fall zu lösen, sind die Figuren dieses Films nicht eben prädestiniert für den Agentenalltag. Es sind allesamt Idioten, mit Verlaub, wenn auch mitunter nette. Jede Person hängt dabei fest in einem unerfüllten Leben: der Geheimdienstmitarbeiter, der gerade geschasst worden ist, die Fitnessstudio-Managerin, die sich ihre Schönheits-OP nicht leisten kann, ihr Chef, der seine Liebe zu ihr nicht eingestehen kann, der Ehemann, der von der erfolgreichen Frau vernachlässigt wird, der infantile Fitnesstrainer, der nicht einmal realisiert, dass sein Leben unerfüllt ist.

Was passiert, wenn sich die kleinkarierten Motive dieser Jedermänner und -frauen im Umfeld von Geheimdienst, Körperkultur und Internet-Dating überlagern? Nichts Sinnvolles, und wie abstrus die Ereignisse von außen wirken müssen, erfahren wir Eingeweihten, indem wir zwei Briefings des CIA-Chefs beiwohnen dürfen.

Das sind interessanterweise die lustigsten Szenen des Films; in ihnen kondensiert sich der Clou des Films. Aus dem Nichts heraus entsteht unter schlichten Gemütern, die zu viele Agentenfilme gesehen und zu ernst genommen haben, ein Plot um so brisantes wie de facto nicht existentes Material. Und die echten Agenten haben nicht den Schimmer einer Ahnung, was da vor ihren Augen abläuft. Fazit: Für eine Geschichte um Erpressung, Konspirationen, Intrigen und Spionage braucht es keine Agenten. Es braucht nur einen MacGuffin, alles weitere kommt von selbst.

Im letzten Briefing rafft der Film Ungezeigtes: Zwei der Hauptpersonen segnen das Zeitliche, Linda Litzke bekommt ihren sehnlichsten Wunsch erfüllt, und bevor man noch fragen kann, was aus Clooneys Charakter geworden ist, geht die Kamera auf größtmögliche Distanz, macht uns klar, wie unwichtig diese kleine Geschichte war. Keine Konsequenzen.

Und das ist auch der Anspruch des Films. »Burn After Reading« ist ein kleiner und feiner Film, ein in sich geschlossenes Vergnügen, das sich durch eine Handvoll sonderbar irritierender Momente im Gedächtnis verhakt, aber sonst nicht lange nachwirkt. Eine Fingerübung für die Gebrüder Coen, aber eine liebevolle. Das Drehbuch fiel während der Scripting-Sessions für »No Country …« mit ab, und die Wunschkandi­daten, denen Joel und Ethan die Hauptrollen auf den Leib schneider­ten, nahmen mit Kusshand an. Oft alte Bekannte: George Clooney nach »O Brother …« und »Intolerable Cruelty« bereits zum dritten Mal (als Abschluss dessen, was die Coens scherzhaft als ›trilogy of idiots‹ bezeichneten), Richard Jenkins ebenfalls zum dritten Mal, und Frances McDormand gar zum siebenten Mal (nicht hinderlich sicher die Tatsache, dass sie mit Joel Coen verheiratet ist).

Brad Pitt ist der Neue. Und hat offensichtlich einen Heidenspaß, einen liebenswerten Kleingeist darzustellen, dessen extrem kurze Aufmerk­samkeitsspanne seinen Ambitionen als Erpresser nicht eben zuträglich ist. Immer einen isotonischen Durstlöscher im Anschlag, scheitert er zwar an jeder Herausforderung, gewinnt durch seine Arglosigkeit allerdings mühelos das Herz des Zuschauers.

Wie gemein von den Coens, gerade ihm ein tragisches und gewaltsa­mes Ende zu bereiten. Missbrauchen die Regisseure etwa die Bereit­willigkeit des Publikums, sich ihnen für 90 Minuten auszuliefern? Sind sie zynisch und herzlos? Als Gegenfrage sei erlaubt, seit wann die Unberechenbarkeit einer Geschichte kein zu begrüßender Vorteil mehr wäre. Die Spielzüge der Coens hängen nicht im Korsett einer von Konventionen und moralischen Grundsätzen bestimmten Erzähltradi­tion; die Geschicke ihrer Figuren scheinen eher von blindem Schicksal bestimmt, sie selbst setzen nur die Prämissen. So gewinnt selbst eine letztlich unerhebliche Geschichte wie »Burn After Reading« eine lebensechte, natürliche Qualität. Sie erscheint wie frische Kost im eintönigen Multiplex-Einerlei, sie ist ein süßsaurer Kornapfel zwischen Popcorn und Taco-Chips mit Käse.

Coen Culture. Nach beeindruckenden neun Filmen in Folge stand bei einem Coen-Film einmal nicht Roger Deakins hinter der Kamera. Gerade, als alle Darsteller Zeit hatten, war er nicht verfügbar, weil er sich für »Revolutionary Road« verpflichtet hatte. Für den Schnitt aber zeichnet wieder einmal Roderick Jaynes verantwortlich, ein treuer Weggefährte der Coens, so verlässlich und kompetent – wie nicht existent. Hinter dem Pseudonym verbergen sich Joel und Ethan selbst, und trotz Jaynes‘ Nichtexistenz wurde er zweimal für den Oscar nominiert. Nur bei dreien ihrer Filme (»Raising Arizona«, »Miller’s Crossing«, »The Hudsucker Proxy«) nahmen die Coens die Mithilfe anderer Cutter in Anspruch.
 


25 Jahre Coen-Kino (12):
No Country for Old Men (2007)

Hamburg, 14. Februar 2010, 08:12 | von San Andreas

No Country for Old Men (Icon)

Llewelyn Moss, tapferer Texaner, stolpert in der Wüste über einen schiefgegangenen Drogendeal und reißt sich einen Koffer Geld unter den Nagel, worauf sich ein psychopathi­scher Killer namens Anton Chigurh an seine Fersen heftet. Provinzsheriff Ed Tom Bell versucht sich einen Reim auf das Ganze zu machen, während Carson Wells, der Chigurh kennt, versucht, das Schlimmste zu verhindern …

Coen Country. West Texas, 1980. Zurück im hitzeflimmernden »Blood Simple.«-Territorium, aber viel abgelegener, im Grenzland zu Mexiko.

Coen Klüngel. Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Do you have any idea how crazy you are?« (Carson Wells‘ Beitrag zur Rubrik ›Berühmte Letzte Worte‹)

Coen Gold. Anton Chigurh verwickelt einen unbescholtenen Tankstelleninhaber in ein Gespräch. Sowie Chigurh eine freundliche Phrase an sich abperlen lässt, verliert der Wortwechsel den Boden sozialer Konvention. Eine Irritation macht sich breit, die in Verwirrung und Angst umschwenkt, als Chigurh ihn zu einem Münzspiel nötigt. Der gute Mann hat der Autorität Chigurhs rein gar nichts entgegenzu­setzen, und es ist sein Glück, dass er nicht weiß, dass er gerade um sein Leben spielt.

Classic Coen? Zu sagen, mit »No Country for Old Men« hätten die Coens zu alter Stärke zurückgefunden, wäre nicht besonders präzise. Zwar zeigten sie sich tatsächlich wieder stark, ja unglaublich stark, aber es waren neue Stärken. Denn mit dieser Produktion betraten die Gebrüder Coen in vielerlei Hinsicht Neuland.

»No Country …« ist die erste echte Literaturadaption der Coens (mit »True Grit« steht bald eine zweite ins Haus). Das Skript hält sich sehr eng an Cormac McCarthys hartgesottenen Roman und wurde, abweichend von der gewohnten Arbeitsweise der Coens, nicht im Hinblick auf bestimmte Darsteller verfasst. Der Film ist bei weitem der brutalste und gewalttätigste ihres Œuvres, es ist ihr wortkargster und auch, trotz einiger Spitzen schwarzen Humors, ihr düsterster. Es ist viel Bewegung und Dramatik in dem Film, nie waren die Coens näher an einem Actionthriller. Und nie war ihr Einsatz von Musik sparsamer; stattdessen herrscht eine Atmosphäre atemloser, drückender Spannung.

Auf der Besetzungsliste finden sich untypischerweise keine alten Weggefährten der Coens (mit Ausnahme von Stephen Root, der in »The Ladykillers« eine Chefpersönlichkeit spielte, wie hier auch). Unbedingte Authentizität war das Gebot der Stunde, und so griffen andere Prioritäten. Die Region, West Texas, ist Teil der Charaktere; gerade für die Figur des Sheriffs kam nur eine Handvoll Darsteller in Frage, die diese Verbundenheit glaubhaft darzustellen in der Lage sein würden; ein Talent für den Dialekt allein reichte da nicht.

Tommy Lee Jones wurde praktisch am Handlungsort geboren; sein Sheriff Ed Tom Bell ist eins mit dem Land, steht im Zentrum des Films. Er ist der Gute; seine kompetente, unerschütterliche, trockene Art erdet den Film, und in seiner Figur kristallisiert sich der melancholische Grundsentiment der Geschichte. Bells Eingangsmonolog und seine Gespräche mit Kollegen beklagen den Exodus alter Werte: Die Moderne fresse Texas auf, selbst das Verbrechen sei nicht mehr greifbar, es sei irrational geworden. Oder war es das schon immer?

Einmal erzählt Sheriff Bell seinem jungen Kompagnon von dem Paar, das in Kalifornien Zimmer an ältere Menschen vermietet hatte, nur um sie umzubringen, im Hof zu verscharren und ihre Rentenschecks zu kassieren. Sie hatten ihre Opfer zunächst gefoltert. Warum, wisse er nicht: »Maybe the television set was broke.«

Es ist jene unfassliche, dämonische Qualität des Verbrechens, die Sheriff Bell mehr und mehr resignieren lässt, und es ist auch präzise jene Qualität, die im Film Anton Chigurh verkörpert, dessen absonderlicher Name ihn bereits als Fremdkörper kennzeichnet. Javier Bardem ist kein Texaner; sein Chigurh spricht ohne Akzent und Emotion, seine Kleidung ist auffällig unauffällig, sein Auftreten ausdruckslos, sein Schritt ohne Schwung. Seine seltsame Frisur indes entwickelt fast eine eigene, furchteinflößende Persönlichkeit.

Chigurh ist eine Maschine. Seine zähe Determiniertheit, seine Wertelosigkeit unterscheidet ihn nicht von Spielbergs Weißem Hai, selbst seine Augen starren genauso leblos. Wenn er mit einem spricht, zeigt er keinen Sinn für Humor, Ironie oder Smalltalk, sein Lächeln strahlt keine Freundlichkeit aus, sondern Terror. Chigurhs Agenda ist dabei nicht unbedingt die des Sadisten; er findet keine Freude am Leid anderer. Das Verstörende an seinem Handeln ist, dass es bei allem Wahnsinn erschreckend rational organisiert ist.

Rhetorik lässt den Mann unbeeindruckt, es gibt keine Diskussion. Er steht unbeirrbar zu seinen Prinzipien, keine irdischen Werte würden ihn je umstimmen (»I won’t tell you you can save yourself, because you can’t.«). Böse ist das lediglich aus der Perspektive eines Moralisten, nüchtern betrachtet ist es nur konsequent, er handelt ohne Ansehen der Person. Kommt diese mit dem Leben davon, ist das nicht Gnade, sondern Zufall. Anton Chigurh ist das Schicksal persönlich.

Er ist das Übel, dem wir nicht entrinnen können. Er verkörpert die nackte Barbarei, die bleibt, sobald alle Moral wegbricht, er stellt die Regression des Menschen in ein Stadium ohne Empathievermögen dar, und mithin das Extrem der Entwicklung, der Bells Generation ohnmächtig gegenübersteht. Ihr Lamento reflektiert die Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner eigenen dunklen Seite.

Zwischen den Polen, die Bell und Chigurh darstellen, schwankt Llewelyn Moss (Josh Brolin), ein abgebrühter Vietnam-Veteran, der sich und seiner Frau ein besseres Leben wünscht. Wieso also nicht etwas Drogengeld beiseite schaffen? Moss bewegt sich gerissen wie ein Coyote, verschmilzt mit seiner Umgebung, sichert sich die Beute. Welch Ironie, dass es gerade ein Impuls der Empathie und des Mitleids ist, der ihn in Teufels Küche bringt.

Nichts ist frappierender an der Dramaturgie des Films als die Tatsache, dass die Konfrontation der drei Hauptfiguren, auf die der Plot zuzusteuern scheint, niemals stattfindet. Chigurh spürt Moss zwar auf, doch dessen Instinkte retten ihn jedes Mal um Haaresbreite. Als sich die beiden einander für Sekunden auf Sichtweite nähern, verletzten sie sich in einem haarsträubenden Schusswechsel so stark, dass sie für einige Zeit damit beschäftigt sind, ihre Wunden zu pflegen und schlicht und einfach zu überleben.

Währenddessen versucht Sheriff Bell, die Spur von Moss aufzunehmen, um ihn vor seinen Verfolgern (auch eine Bande von Mexikanern ist hinter Moss her) in Sicherheit zu bringen. Als er ihn endlich findet, sind es gerade ein oder zwei Minuten, die er – und wir – zu spät kommen. Llewelyn Moss ist tot.

Die Coens beweisen Hitchcock’sche Chuzpe, die Identifikationsfigur des Publikums lange vor Ende des Films dahinzuraffen, doch nicht etwa in der dramatischsten Szene des Films, sondern in überhaupt keiner Szene. Ihr Skript kennt keine Konvention. Unerbittlich schreitet es voran, erklärt nicht viel auf seinem Weg, springt unvermittelt von Ort zu Ort, wechselt in die Subjektive oder montiert parallel, wenn es ihm passt.

Über weite Strecken fällt kein einziges Wort, die Kamera beobachtet die Charaktere, wie sie Gerätschaften basteln, sich Medikamente oder Kleidung beschaffen, die Beute verstecken, auf etwas warten, sich verarzten, Spuren deuten und verfolgen. Allein dieses rein filmische Erzählen entwickelt eine immense Sogwirkung; wenn die Überlappung der Handlungsstränge dann dem Publikum Informationsvorteile verschafft, kennt die Spannung keine Grenzen.

Aber es ist keine Spannung von der Sorte, die Spaß machen soll. Sie ist unbarmherzig, sie ist rau, und sie ist Teil der Geschichte. Der Film macht den Plot nicht dramatischer als er ist, sein Puls bleibt konstant, keine Musik peitscht die Handlung auf Höhepunkte hin, keine Schnitt­folgen beschleunigen die Wahrnehmung. Es sind allein Bilder, die den Zuschauer seine Armlehnen zerdrücken lassen. Das ist nacktes, hartes Kino.

Diese ›no-nonsense‹-Herangehensweise verbindet den Film mit dem Coen-Erstling »Blood Simple.«, ganz abgesehen vom ähnlichen Schauplatz und dem launigen Eingangsmonolog. Und auch andere Dinge verraten letzten Endes die Coen’sche Urheberschaft. Die punktgenau ausgesuchten Nebencharaktere – die Motelbetreiber, die Farmer, die Hotelangestellten, die Grenzbeamten, die Tankstellen­inhaber – verleihen den brillant aus der Vorlage kondensierten Wortwechseln eine skurrile, eindeutig texanisch-provinzielle Note, die nur einen Deut an der Karikatur vorbeischrammt.

Und dann sind da die vielen Details, die nur den Coens auffallen: die schwarzen Schlieren auf dem Linoleum, die die Absätze des sich im Todeskampf windenden Deputys hinterlassen, die ›lebendige‹ Snackverpackung auf dem Tankstellentresen, die Reflexion von Chigurhs Silhouette in Moss‘ Fernsehgerät, der Abdruck des Schloss­zylinders an der Holztäfelung. Oder Chigurhs Besorgnis um die Unversehrtheit seiner Alligatorstiefel; mit ihrer Hilfe verkürzen Joel und Ethan elegant die Szene um Carla Jeans Schicksal. Der Killer tritt aus dem Haus, prüft seine Sohlen auf Blutspuren, und verschwindet. Das hat Stil und Größe: Die Coens prahlen nicht verschwenderisch mit expliziten Gräueln; der Schock einer Handvoll Einstellungen erhält das Entsetzen aufrecht.

Chigurh wird den Film praktisch ungeschoren verlassen, seine Gegner entweder tot – oder pensioniert, wie Sheriff Bell. Dem gehören auch die letzten Worte; er erzählt seiner Frau von einem Traum, den er hatte; und selbst der vergönnt ihm keine Erleuchtung, keinen Trost, keine Rettung. Denn er wacht vorher auf, frustriert und hilflos wie zuvor: Er ist zu alt für dieses Land. Abspann.

Einige Zuschauer waren gleichermaßen frustriert. Der Film hatte die losen Enden nicht verknüpft, hatte die Thriller-Konventionen unter­laufen, hatte die falschen Leute sterben lassen, hatte an der falschen Stelle geendet. Was ist das für eine krude Moral? Und was war nun eigentlich mit dem Geld passiert?

Aber den Konventionen Genüge tun hieße, den Sinn der Geschichte zunichte zu machen. Es ist dies das erste Mal, dass sich die Coen-Brüder in den Dienst von so etwas wie einer Botschaft oder einer tieferen Einsicht stellen. Der Film, so packend, so authentisch und minutiös inszeniert er auch ist, dreht sich nicht nur um sich selbst. Er mag als ausgekochter, hakenschlagender Thriller funktionieren, doch weist er zwischen den Zeilen über sich hinaus, sinniert über das Entmenschlichte im Menschen.

Das ist in erster Linie seiner Vorlage geschuldet, doch ist die oft beschworene Kongenialität nicht trivial. Nur zu leicht ist der feine Grat zwischen resignierendem Weltschmerz und zynischem Fatalismus überschritten. Joel und Ethan treffen genau den Ton, scheinen McCarthys grimmig-realistischer Weltsicht tief verbunden. Die menschliche Natur ziert eine dunkle Facette, und man kann sie nur akzeptieren; verstehen oder gar tilgen lässt sie sich nicht. Happy End? Nicht im Leben … und im Kino auch nicht.

Coen Culture. Joel und Ethan Coen ziehen aus dem Stand mit Orson Welles und Warren Beatty gleich, was die Anzahl der Oscar-Nominierungen für ein und denselben Film angeht. Von den vier Nominierungen – Bester Film, Bester Regisseur, Beste Adaption und Bester Schnitt – gewinnen sie drei, während Welles (für »Citizen Kane«) und Beatty (für »Reds«) seinerzeit jeweils nur einen abgesahnt hatten.
 


25 Jahre Coen-Kino (11):
The Ladykillers (2004)

Hamburg, 13. Februar 2010, 08:16 | von San Andreas

The Ladykillers (Icon)

Professor Goldthwaite Higginson Dorr mietet sich bei Witwe Munson ein, um von ihrem Keller aus mithilfe einer Bande kleinkrimineller Handlanger ein Casino anzuzapfen. Die Dame riecht den Braten und muss aus dem Weg geschafft werden. Leichter gesagt als getan …

Coen Country. Saucier, Mississippi. Gefilmt wurde jedoch in Natchez, weil da günstigerweise der Mississippi durchfließt. Eine Rückkehr ins »O Brother«-Land.

Coen Klüngel. J.K. Simmons (Garth Pancake), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Madam, we must have waffles! We must all have waffles forthwith!« (Professor Dorr bestellt Waffeln für sich und seine Freunde)

Coen Gold. Die Müllbarkassen, die in einem fort eine riesige Halde mitten im Mississippi ansteuern und sich träge durch den Nebel schieben, sind ein netter Touch und nebenbei eine willkommene Möglichkeit, lästige Leichen loszuwerden.

Classic Coen? Wenn man von allen Coen-Filmen nur einen auslassen wollen würde: Es müsste dieser sein.

Die Frage lautet: Warum? Warum ein Remake, und warum die Coens? Das Original, eine quirlige, launige, dunkelhumorige Groteske von 1955 mit dem unsterblichen Sir Alec Guiness und dem noch unsterblicheren Peter Sellers gilt als Klassiker und hat nie nach einem Remake verlangt. Feinste englische Exzentrik hatte in der milde satirischen Krimifarce ihre Erfüllung gefunden, fertig.

Natürlich hatten Millionen Amerikaner keine Ahnung davon, und Barry Sonnenfeld, einst Kameramann bei den ersten drei Coen-Filmen und mittlerweile eine sichere Bank als Regisseur von Big-Budget-Komödien (»Addams Family«, »Men in Black«), plante eine Neuverfilmung. Die Coens erklärten sich bereit, das Skript dafür zu liefern, und als Sonnenfeld sich dann doch von dem Projekt zurückzog, sprangen die Coens kurzerhand auf den Regiestuhl. Bad move.

Möglicherweise hatte die Coens es gereizt, ins Südstaaten-Ambiente zurückzukehren, diesmal nicht den Bluegrass, sondern die Gospelmusik zu zelebrieren und ein Ensemble schräger Figuren in Szene zu setzen. Die Schauwerte stimmen auch, und Tom Hanks, gegen seinen Typ besetzt, sammelt eine Handvoll Charme-Punkte. Aber unter der Fassade ist der Film geistesabwesend, gefühllos und gemein.

Das Fingerspitzengefühl der Coens: nahezu wie weggeblasen. Abgesehen davon, dass es keinen erkennbaren Anlass gibt, diese Geschichte ins Mississippi-Delta zu transportieren, entwerfen sie Figuren ohne Esprit, casten wild durch den Kräutergarten. Schlimmer noch: Ihre ethnischen Charaktere – sonst eine Spezialität in jedem Coen-Film – wirken hier wie respektlose Abziehbilder. Sogar Mrs. Munson, die eine liebenswerte, tüdelige, gemütliche Mama hätte werden können, erscheint als einfältige Matrone.

Der Film schwankt nicht nur im Ton, er vergreift sich auch darin. Das unausgesetzte Fluchen des von Marlon Wayans gespielten (?) ›Hippety Hopp‹-Tölpels verträgt sich weder mit Professor Gorrs distinguiertem Duktus (»I scarcely contain my glee.«) noch mit Mrs. Munsons Bibelgebrabbel. Der Kontrast ist als komisch gedacht, wirkt aber angestrengt. Jedes ›fuck‹, und es hagelt 89 Stück davon, trägt eine vulgäre Unwucht in den Film, die ihn zumindest für Familien gänzlich unkuckbar macht.

Gut, Familientauglichkeit soll kein Kriterium für die Qualität eines Films sein, schon gar nicht eines Films der Coens, zumal sich hier gegen Ende die Leichen häufen. Aber wenn das Skript bereits zu Beginn ein Hündchen in einer WWI-Gasmaske jämmerlich ersticken lässt, just for the fun of it, muss man sich schon fragen, wo die Coens ihren Geschmack gelassen haben.

Zu allem Überfluss wird der Figur, die der sonst wunderbare J.K. Simmons spielen muss, ein lautstarkes Verdauungsproblem angedichtet; spätestens hier merkt man, wie händeringend der Film nach Pointen grabscht, und sich traurigerweise mit einigen billigen zufrieden gibt. Garth Pancake heißt der Mann überdies, ein nicht besonders gut ausgedachter Name, möchte man meinen. Dann erfährt man, dass der tumbe Kraftmensch in der Truppe – eine Figur, mit der der Film so gut wie nichts anzufangen weiß – den Namen Lump Hudson trägt. Lump? Das ist nicht mal ein Name.

Nun ja. Fotografiert ist der Film jedenfalls makellos, die Musik kann man sich antun, manche Gags funktionieren sogar (Pancake demonstriert die Hammer-Resistenz seines Sprengstoffs), und mit Professor Gorr haben wir tatsächlich eine Art Coen-Archetyp im Arsenal, einen blumigen Vielredner, der nicht wirklich etwas sagt und doch einiges auf dem Kerbholz hat. Allein, niemand im Film ist ihm ebenbürtig, was ein echter Jammer ist. Das Ensemble klickt nicht ineinander, und damit fällt der gesamte Film in sich zusammen. Er hätte vielleicht den Farelli Brothers zur Ehre gereicht, nicht aber den Coen Brothers.

Besiegelt schien ihr Schicksal. Eine der am konsistentesten Qualität liefernden Karrieren Hollywoods hatte sich verzettelt, verhoben, verrannt. Es musste schon ein sehr, sehr, sehr guter Film folgen, um diese Scharte auszuwetzen.

Was prompt geschah.

Coen Culture. Dies ist der erste Film im Coen-Œuvre, der in den Credits beide Namen, Joel und Ethan Coen, sowohl als Regisseure als auch als Produzenten verzeichnet. Diese Aufgaben teilen sich die Brüder seit jeher, aus gewerkschaftlichen und rechtlichen Gründen wurde aber immer Joel als Regisseur und Ethan als Produzent aufgeführt. Seit 2004 gelten die Coens offiziell als ›Established Duo‹, womit die Trennung in den Credits nicht mehr vonnöten ist.
 


25 Jahre Coen-Kino (10):
Intolerable Cruelty (2003)

Hamburg, 12. Februar 2010, 07:52 | von San Andreas

Intolerable Cruelty (Icon)

Miles Massey, ein so wohlhabender wie erfolgreicher Scheidungsanwalt, sucht eine neue Herausforderung und findet sie in Form von Marilyn Rexroth, der faszinierenden Frau eines Klienten. Er besiegt sie vor Gericht, doch man trifft sich immer zweimal im Leben. Oder dreimal, oder viermal …

Coen Country. L.A., die Sphäre der Reichen und Schönen. Schon einmal besucht in »The Big Lebowski«, doch diesmal ohne den Gegenpart des einfachen Volkes.

Coen Klüngel. George Clooney (Miles Massey), Billy Bob Thornton (Howard D. Doyle), Richard Jenkins (Freddy Bender), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera) n Tolliver), Michael Badalucco (Frank), Billy Bob Thornton (Ed Crane), Richard Jenkins (Walter Abundas), Tony Shalhoub (Freddy Riedenschneider), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »I guess something inside of me died when I realized that you’d hired a goon to kill me.« (Miles Massey gibt den Nachtragenden)

Coen Gold. Vor Gericht. In den Zeugenstand wird gerufen: Heinz, the Baron Krauss von Nespy. Alles geht gut, bis der Mann zu reden anfängt. Die Szene gehört zum laughing-out-loud-lustigsten, das die Coens je auf Film gebannt haben.

Classic Coen? Was war da los im Coen Camp? Die Brothers schickten sich an, zum ersten Mal eine Geschichte zu verfilmen, die nicht auf ihrem Mist gewachsen war. Auch das Drehbuch schrieben sie nicht allein, offenbar eine romantische Komödie wie Hollywood sie am Fließband produziert. »Intolerable Cruelty« machte den Anschein eines richtigen Rendezvous mit dem Mainstream. Ist der Film dennoch ein echter Coen geworden? Und wenn nicht, ist es wenigstens ein guter Film?

Die Gelehrten streiten sich. Kritikerpapst Ebert sieht den angeblichen Anspruch des Films, eine gute alte Screwball Comedy zu sein, nicht eingelöst und bejammert ein Zuviel an Ironie, ein Zuwenig an Gefühl. Damon Wise (Empire) wiederum geht das Herz auf angesichts dieses (seiner Ansicht nach) zünftigen Coen-Cocktails und gibt die Höchstwertung.

Abgesehen davon, dass es keine Wahrheit gibt: Sie liegt in der Mitte. Der Film ist weder eine astreine Screwball Comedy noch ein waschechter Coen, sondern eine kuriose Mischung, die zunächst beide Erwartungen enttäuschen muss. So schnitt der Film bei Kritikern, vor allem aber bei Fans nicht sonderlich gut ab; viele nahmen den Coens die offensichtliche Anbiederung an den sogenannten Massengeschmack richtiggehend übel.

Weniger kategorische Zeitgenossen, so liest man in den Foren, haben inzwischen allerdings eingestanden, dass der Film so schlecht gar nicht wäre, und vor allem, dass es einer jener Filme zu sein scheint, die mit jedem wiederholten Ansehen gewinnen. Die knackigen Dialoge sind von zeitlosem Esprit, das Schauspiel schlicht makellos, und dazwischen schälen sich doch etliche subversive Elemente heraus, die »Intolerable Cruelty« angenehm vom seichten Rom-Com-Einerlei abheben.

Wie der Film die Unbilden des kalifornischen Scheidungsrechts anpackt, mit mythischen, unknackbaren Eheverträgen spielt und Heiratsschwindel zur Kunstform erhebt, das demonstriert durchaus satirische Treffsicherheit. Bisweilen lässt sich auch die düstere, herrlich überspitzte Ästhetik blicken, die seinerzeit »The Hudsucker Proxy« veredelt hatte: Die Darstellung des auf dem letzten Loch pfeifenden Kanzleichefs ist eine einzige, respektlose Karikatur.

Freilich windet sich manch gestandener Coen-Enthusiast, wenn Massey dann mit einem flammenden Plädoyer für die Liebe eine allzu schablonige Charakterwandlung durchmacht, freut sich aber gleich in der Szene darauf, dass der Star-Advokat unversehens wieder der Gelackmeierte ist und der Schlagabtausch der Geschlechter in die nächste Runde hastet.

Mit dem Auftritt eines tumben, derangierten Killers werden die üblichen Muster der ›Romantic Comedy‹ endgültig unterlaufen, und jener Mann findet auf so schockierend lustige Weise sein Ende, dass die Coen’sche Vaterschaft dieser Figur kaum mehr geleugnet werden kann.

Großes Kapital schlägt der Film aus George Clooneys köstlicher Vorstellung. Eine Miene wie seine, die auch ohne Mimik stark an Ausdruck ist, erreicht durch das kleinste Zwinkern, Rümpfen oder Zucken eine große Wirkung, und Clooney bedient seine Gesichtsmuskulatur mit punktgenauem komödiantischen Gespür.

Ähnlich wie sein Charakter in »O Brother, Where Art Thou?« obsessiv um seine Haarpracht besorgt war, achtet Miles Massey auf seine makellose Zahnlandschaft. Schnell noch die Beißerchen im Silberlöffel kontrollieren, bevor das Date aufkreuzt! Allein dieser kleine Tick haucht dem eigentlich abgebrühten Anwalt mühelos Leben ein, und es ist dies ein typischer Coen-Kniff (Clooneys Rolle in »Burn After Reading« wird sich sehr für Körperertüchtigung und Fußbodenbeläge interessieren).

Clooneys charmante Präsenz wird gerne mit der eines Cary Grant oder eines Clark Gable verglichen, und das ist nicht weit hergeholt. Auch die Chemie mit der bezaubernden Catherine Zeta-Jones lässt das Prickeln der Klassiker mit Hepburn & Co. wieder aufleben. Wie sagt man? Es knistert. Beim Knistern aber lassen es die Coens bewenden, der Film wagt sich nicht in die Gefilde herzerfüllten Liebestaumels.

Das rief jene Kritiker auf den Plan, die den Coens seit »The Hudsucker Proxy« vorhalten, eine gemütsarme (manche sagen: zynische) Distanz zu ihren Charakteren zu kultivieren, die es dem Publikum erschweren würde, sich für diese zu erwärmen. Tatsächlich bleiben die romantischen Wellenlängen in »Intolerable Cruelty« zugunsten ausgedehnten Umeinanderherumtänzelns relativ kurz. Die Wärme, die Screwball-Klassiker von Lubitsch, Hawks oder Wilder trotz aller Hektik erfüllt, weicht bei den Coens oft genug einer ironischen Grundstimmung.

Das mag der intellektuellen, penibel planhaften Herangehensweise der Coens geschuldet sein und eine serienmäßige Unzulänglichkeit darstellen, die sie sich teilweise tatsächlich vorwerfen lassen müssen. Allerdings steht die Coen’sche Kühle einem Film wie »The Man Who Wasn’t There« zum Beispiel gerade gut zu Gesicht, und auch im Fall von »Intolerable Cruelty« ist sie kein so großer Makel. Im Gegenteil, sie rettet den Film vor der Schublade der Rom-Com-Strohfeuer. Er ist so smart wie seine Charaktere, und er kommt sehr gut ohne klebrigen Herzschmerz aus.

Das ließ »Intolerable Cruelty« den Test der Zeit bestehen. Er gilt heute als inspirierter, blitzgescheiter Wildfang von Film, der nur deswegen dem Mainstream nahesteht, um damit Schabernack treiben zu können.

Versetzt man sich aber für einen Moment noch einmal in die heulende Fan-Meute von damals, für die allein das Happy End des Films, das sogar so etwas wie eine lebensbejahende Moral ausstrahlt (einem Konzept, das dem Coenversum bislang gänzlich fremd war), ein Zeichen für den Ausverkauf der Coen-Brothers war, ist ihre Enttäuschung durchaus nachzuvollziehen. Schlimmer konnte es gar nicht kommen.

Well, well. Wie man sich doch manchmal irren kann.

Coen Culture. Der Schauspieler, der den Schauspieler spielt, der neben Billy Bob Thornton in der Arztserie auftaucht, kommt einem nicht von ungefähr bekannt vor. Das ist Bruce Campbell, seit Raimis »Evil Dead«-Trilogie ewiger B-Movie-Star und Mittelpunkt kultiger Verehrung (seiner markanten Kinnpartie wegen bisweilen ehrfürchtig ›His Chin-Ness‹ genannt). Sein Auftritt ist kein Einzelfall; man erlebt ihn auch als Reporter in »The Hudsucker Proxy«, als Seifenopern-Darsteller in »Fargo« und als Tierschutzbeauftragten in »The Ladykillers«.
 


25 Jahre Coen-Kino (9):
The Man Who Wasn’t There (2001)

Hamburg, 11. Februar 2010, 08:02 | von San Andreas

The Man Who Wasn't There (Icon)

Ed Crane, seines Zeichens Friseur, erpresst den Liebhaber seiner Frau, um mit dem Geld ins Dry-Cleaning-Geschäft einzusteigen. Der Plan scheint aufzugehen – doch dann wieder nicht. Jemand kommt zu Tode, dann noch einer. Eds Frau wird verhaftet. Ein Staranwalt wird verpflichtet, ein Privatdetektiv schnüffelt herum, es gibt eine Verhandlung. Ed scheint davonzukommen – doch dann wieder nicht …

Coen Country. Santa Rosa, eine kalifornische Kleinstadt Ende der 40er Jahre. Die Coens erweisen sich abermals als penible Replikateure anheimelnden Kleinstadt-Kolorits.

Coen Klüngel. Frances McDormand (Doris), John Polito (Creighton Tolliver), Michael Badalucco (Frank), Billy Bob Thornton (Ed Crane), Richard Jenkins (Walter Abundas), Tony Shalhoub (Freddy Riedenschneider), Carter Burwell (Musik), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Me, I don’t talk much. I just cut the hair.« (Ed Crane charakterisiert sich selbst)

Coen Gold. Das fliegende Auto. Selten nutzen die Coens die Zeitlupe, aber hier verleiht sie einem Verkehrsunfall eine surreale Note; eine der wenigen Einstellungen, die aus der visuellen Abgeklärtheit des Films ausbrechen.

Classic Coen? Nach »Lebowski« und »O Brother«, zwei turbulenten, gut gelaunten Stoffen, schalten die Coen Brothers zwei bis drei Gänge zurück. Ihr neuer Film erzählt wieder nur – stilvoll und bedächtig – eine Geschichte. Keine Spielereien (na ja, wenige), keine Songsequenzen, keine witzigen Dialoge. Sogar die Farbe ist raus.

In schwarz-weiß sieht Zigarettenqualm nun mal besser aus. Und geraucht wird viel; Rauchen scheint die Lieblingsbeschäftigung von Ed Crane zu sein, unserem Helden, einem lakonischen, harmlosen Jedermann, der ein Leben von der Stange lebt und in dessen unbewegliches Gesicht der Zuschauer so viel oder so wenig Emotionen hineindeuten mag wie er möchte. Selbst sein lapidarer Off-Kommentar verzieht keine Miene.

Billy Bob Thornton ist die perfekte Wahl für diesen Part; sein unaufdringliches Charisma mach Ed Crane nicht zum Sympathieträger per se, doch wohl zum magischen Fixpunkt unserer Aufmerksamkeit. Er selbst scheint an der Geschichte, die er erzählt, seltsam unbeteiligt. Er urteilt nicht, er ärgert sich nicht, er reagiert nicht. Nicht viel, zumindest. Die Dinge passieren einfach.

Und kommen anders, als er denkt. Ein ums andere Mal erfährt die Geschichte unerwartete Wendungen, aber so signifikant sie auch sein mögen für Ed Cranes merkwürdiges Schicksal, der Film macht an der Oberfläche nicht viel Aufhebens darum. Überraschungen werden nicht als solche inszeniert, keine Choreografie schält den Humor aus einer Szene, keine Bögen halten die Spannung. In knapp zwei Stunden überschreitet der Film nur punktweise seinen Ruhepuls.

Er erzählt über Bilder und Worte, über Worte und Bilder, und man hängt an seinen Lippen. Der stetige, unaufgeregte Fluss der Erzählung entwickelt eine einlullende Qualität. Beethovens Klaviersonaten umspielen makellose, plastische, atemberaubend schöne Aufnahmen, bis ins Detail liebevoll-nostalgisch ausstaffiert und von einer dezenten Melancholie erfüllt, der man sich nicht entziehen kann.

Deakins‘ Kamera beobachtet Thorntons unergründliche Miene ein paar Sekunden länger als nötig, nimmt sich Zeit, fallende Haarbüschel aufzufangen oder sich träge kringelnden Zigarettenqualm. So gerät der Film vielleicht eine halbe Stunde länger als ein durchschnittlicher Film benötigen würde, eine Geschichte wie diese zu erzählen. Das Wie erscheint tatsächlich wichtiger als das Was, und das Wie lässt sich Zeit. Es ist diese halbe Stunde, die rastlosere Zeitgenossen verzweifeln lässt, aber es ist auch diese halbe Stunde, die den Film über den Durchschnitt hebt.

Es ist die Zeit, die man länger vor einem Gemälde verbringt als vor allen anderen. Wären die Coens Maler, dies wäre eines ihrer schönsten Bilder. Der Inhalt geht in seiner Form nicht nur vollends auf, die Form verleiht ihm erst Bedeutung. Eine Geschichte, die uns eigentlich nichts angeht, wird durch die Art ihrer Präsentation plötzlich interessant, nimmt uns mit bis zu ihrem Ende, welches uns in seiner bittersüßen Tragik dann doch mehr berührt als vermutet. Auf Ed Cranes letztem Gang streift sein Blick die Anwesenden; die Kamera fährt prüfend über ihre Haaransätze. Der Blick eines Friseurs.

Die Kunst der Coens ist es, bei allem Stilbewusstsein nicht manieristisch oder prätentiös zu wirken. »The Man Who Wasn’t There« ist konsequent das Werk zweier Stilisten, seine Anmutung erweckt genau die Ehrfurcht, die man vor den Schwarz-Weiß-Klassikern der 40er Jahre hat. Aber wir stehen nicht im Gebrauchtwarenladen; das Sortiment ist frisch, es ist Kino aus erster Hand. Die Coen Brothers machen nicht nur gutes Kino nach, sie machen gutes Kino. Und ihre Arbeit scheint angenehm unberührt von kommerziellen Erwägungen oder sonst welchen Zugeständnissen.

Die einzigen Konventionen, die sie nicht abschütteln können, sind die eigenen. Selbst in diesem zurückgenommenen Umfeld bekommt jeder Charakter ein paar schräge Attribute aufs Auge gedrückt, sei es ein seltsames Toupet (Tolliver), ein stechender Blick (Mrs. Brewster) oder ein hyperaktives Mundwerk (Frank). Und wenn im Verlauf der Geschichte Heisenbergs Unschärferelation (»The more you look, the less you really know.«), existentialistische Poesie (»I was a ghost. I didn’t see anyone. No one saw me. I was the barber.«) und gar fliegende Untertassen relevant werden, sind wir für Momente ganz und gar Gast auf dem Planeten Coen.

Coen Culture. »The Man Who Wasn’t There« kann man als Weiterführung einer Coen’schen Tradition sehen, nämlich der Reverenz an berühmte amerikanische Kriminalautoren. So wie »Miller’s Crossing« die Werke von Dashiell Hammett zum Vorbild hatte und »The Big Lebowski« jene von Raymond Chandler, zieht »The Man Who Wasn’t There« stilistisch wie inhaltlich Inspiration aus den Stoffen von James M. Cain (»Double Indemnity«, »The Postman Always Rings Twice«).
 


25 Jahre Coen-Kino (8):
O Brother, Where Art Thou? (2000)

Hamburg, 10. Februar 2010, 07:40 | von San Andreas

O Brother, Where Art Thou? (Icon)

Lebenskünstler Ulysses Everett McGill flüchtet mit zwei schlichteren Mitinsassen aus dem Knast, um einen Schatz zu bergen, welcher Gefahr läuft, überschwemmt zu werden. Ein Suchtrupp ist ihnen dicht auf den Fersen. Der Trip gerät zu einer Odyssee durch den Staat Mississippi, und was den Schatz angeht, war Everett auch nicht ganz ehrlich …

Coen Country. Mississippi zu Zeiten der Depression. Die charakter­vollen Südstaatler, die regionale Musik und die pittoresken, ländlichen Szenerien mussten die Coens reizen.

Coen Klüngel. George Clooney (Ulysses Everett McGill), John Goodman (Big Dan Teague), Holly Hunter (Penny), John Turturro (Pete), Michael Badalucco (George Nelson), Charles Durning (Pappy O’Daniel), Roger Deakins (Kamera)

Coen Quote. »Damn, we’re in a tight spot.« (Everett kriegt das Flattern)

Coen Gold. Everett im Mom-and-Pop-Store; ein feines Beispiel des von den Coens kultivierten Subgenres des verkorksten Verkaufsgesprächs. Everett ärgert sich erst über die Auskunft des bräsigen Ladenhüters, sein Autoersatzteil wäre erst in zwei Wochen da, dann darüber, dass das vorrätige Haarpflegeprodukt nicht seine Marke ist (»I don’t want Fop, goddamn it. I’m a Dapper Dan man!«) und dass seine Lieblingspomade ebenso lange bräuchte wie das Ersatzteil (»Well, ain’t this place a geographical oddity. Two weeks from everywhere!«). Um sich dann, grummelnd zwar, mit einem Dutzend Haarnetzen zufrieden zu geben. Nur zu selten wird in einem Hollywood-Film die Sorge eines Mannes um sein Haupthaar thematisiert.

Classic Coen? Um »O Brother, Where Art Thou?« zu verstehen, muss man Homers Odyssee nicht gelesen haben; nach eigenem Bekunden haben das die Coens auch nicht getan. Wir treffen zwar Ulysses und Penelope, einen Zyklopen und die Sirenen, aber der Film trägt das große Vorbild nicht vor sich her, ähnlich wie »The Big Lebowski« die Anklänge an Raymond Chandler allenfalls erahnen ließ.

Homer stellt den Aufhänger, dann übernimmt der kontrollierte Wahnsinn der Gebrüder Coen: »O Brother …« gerät zu einer Art Roadmovie-Musical oder Musical-Roadmovie, das zugänglicher und kurzweiliger ist als die meisten anderen Coen-Filme. Das ist liebevolles, letztlich harmloses, aber eben feinstes Kino, das direkt ins Blut geht und vor allen Dingen Joel und Ethan Gelegenheit gibt, ihren angeschrägten Obsessionen zu fröhnen.

Ungebrochen beispielsweise ihre Faszination für Mundarten; der herrliche Südstaatenslang macht jede Synchronisation zum Verbrechen, zumal der Film einen Teil seines Witzes aus dem Gegensatz zwischen dem rural geprägten Dialekt der einfältigeren Charaktere (»We thought you was a toad!«) und dem sich distinguiert gebenden, kunstvollen Duktus der Städter zieht. »Thank you for the conversational hiatus. I generally refrain from speech during gustation«, parliert beispielsweise John Goodman in seiner Paraderolle als eloquenter Grobian, seit »Raising Arizona«, »Barton Fink« und freilich »The Big Lebowski« ein Coen-Standard. Hier als windiger, einäugiger Bibelverkäufer, der der erste ist, den wir später bei einem KKK-Aufmarsch identifizieren können: Seine Kapuze hat nur ein Guckloch.

Diese bizarre Veranstaltung weckt in ihrer ausbaldowerten Choreografie Erinnerungen an die »Lebowski«-Traumsequenzen, entwickelt aber eine zusätzliche, ominöse Qualität. Schließlich ist hier ein Lynchmob im Begriff, einen Farbigen aufzuknüpfen, und wenn der Hexenmeister den schauerlichen Grabesblues »O Death« anstimmt, während Clooney und Kollegen auf die Szene stolpern, halten sich Beklemmung und Belustigung auf wunderbare Weise die Waage.

Wiedererkennungswert hat ebenfalls die Figur des geheimnisvollen, dämonischen Widersachers, diesmal in Gestalt des auch nachts sonnenbebrillten Suchtrupp-Anführers Cooley. Seine Szenen haben immer mit Tod und Feuer zu tun, weswegen viele Coen-Kenner mutmaßen, er wäre der Teufel, dem der junge Musiker, den McGill und Co. aufgabeln, seine Seele verkauft haben soll. Nur einer von vielen Querverweisen im Film.

Gegen Ende erhascht der Zuschauer einen Blick auf eine Kuh auf einem schwimmenden Dach – ein Bild, dass man so oft nicht zu Gesicht bekommt. Ebenso wird niemand, der den Film gesehen hat, jemals ›Dapper Dan‹-Haarpomade vergessen, und den Unterwasser-Tanz Dutzender ›Dapper Dan‹-Döschen. Die Poesie der kleinen Dinge: wohl das liebste Steckenpferd von Joel und Ethan.

Einige Kritiker identifizierten stolz all diese Elemente als Coen-Manierismen und postulierten – nach acht Filmen wohl so etwas wie eine Masche witternd – dass »O Brother, Where Art Thou?« trotz der guten Zutaten nicht zu einem Ganzen fände. Dieser Eindruck mag von der episodischen Struktur des Films herrühren; die liegt in der Natur der Geschichte. Besser beraten ist man, sich vom Einfallsreichtum der Inszenierung beeindrucken zu lassen, der allein für zwei, drei Durchschnittsfilme gereicht hätte.

Auch verliert man sich leicht im romantischen Retro-Look des Films; tatsächlich war dies der erste Hollywoodfilm, der komplett digital umgefärbt wurde. So kommt das ausnahmslos stilecht in Szene gesetzte Südstaatenkolorit erst richtig zur Geltung: urwüchsige Sumpflandschaften, Chaingangs auf staubigen Straßen, mit spanischem Moos behangene Baumriesen, weite Baumwollfelder, feudale Villen mit Säulenverandas. Die Ära der Great Depression drückt dem Film ihren Stempel auf: Wir werden Zeuge baptistischer Taufrituale, erleben populistischen Provinzwahlkampf, erhalten Einblick in eine 25-Watt-Radiostation. In dem Moment, als Everett und Co. dort in eine Dose singen, feiert der heimliche Hauptdarsteller des Films seinen Auftritt: die Musik.

Sie allein ist das Eintrittsgeld wert. Wer nicht wenigstens mit der Fußspitze wippt, wenn die Soggy Bottom Boys den Folk-Gassenhauer »I Am a Man of Constant Sorrow« zum Besten schmettern, der ist im falschen Film. Als mehr oder weniger out-of-fashion galten im Jahr 2000 jene alten Lieder des Bluegrass, die Südstaaten-Spirituals, die Balladen der Appalachian Music, die archaischen Stücke des Delta Blues, die frühen Hillbilly-Songs – bis »O Brother, Where Art Thou?« kam und dieser uramerikanischen Musik zu neuer Popularität verhalf: Der von T-Bone Burnett produzierte Soundtrack verkaufte sich allein in den Staaten mehr als sieben Millionen Mal und gewann drei Grammys, unter anderem als ›Album of the Year‹.

Coen Culture. Inspiration zum Konzept von »O Brother, Where Art Thou?« lieferte die Geschichte »A Dozen Tough Jobs« von Howard Waldrop, die die Prüfungen des Herkules in den Süden der 20er Jahre verlegte. Seinen merkwürdigen Titel, wie an anderer Stelle bereits erwähnt, borgt sich der Film aus Preston Sturges‘ Klassiker »Sullivan’s Travels«, in dem ein Regisseur einen sozialrealistischen Film diesen Titels zu drehen sich anschickt, aber niemals fertigstellt.