Nach ich weiß nicht wievielen Jahren habe ich gestern mal wieder Baumanski getroffen. Er war gerade kurz in town und hatte sich ein bayerisches Essen in einem bayerischen Lokal in der Nähe der Stabi gewünscht, also rief ich im »Türkenhof« an und reservierte einen Tisch.
Wir bestellten beide den Klassiker, zwei Weißwürste, Senf, eine Breze, ein Helles. Er fragte mich sinngemäß, was es Neues gebe, ich jammerte ihn kurz voll, dass ich immer noch Probleme mit meinen Stimmbändern hätte, aber eben weil ich Probleme mit den Stimmbändern habe, jammerte ich nur kurz. Ich fragte ihn sinngemäß, was es Neues gebe, und natürlich machte er wie immer so viele Dinge gleichzeitig, dass ich schon beim bloßen Zuhören kaum folgen konnte.
Wenn ich es richtig verstanden habe, langweilen ihn inzwischen solche Bücher, die innen sehr viele Buchstaben enthalten, deswegen hatte er sich, ungefähr so wie damals Lenin, in den Lesesaal der Stabi schubkarrenweise irgendwelche Bände mit sowjetischen Plakaten liefern lassen, die er nun durchblätterte. Ein kleines Geschenk hatte ich ihm auch mitgebracht, nämlich die »Lettre« Nr. 139, ich zeigte ihm den Artikel »Stelldichein in Kiew – Revolutionsversuche in der Ukraine nach dem Ende der Belle Époque« von Philippe Videlier. Baumanski sagte höflich, er könne »die Lettre« wegen ihres albatrosartigen Formats leider nicht mitnehmen, sie habe nicht Platz in seiner Reisetasche.
Ich war etwas konsterniert, aber er löste das Problem auf eine geniale Weise: Er las den Artikel einfach sofort. Damit hatte ich ehrlich gesagt nicht gerechnet, denn nachdem wir uns nun fünfzehn Jahre lang oder so nicht gesehen hatten, gab es natürlich eine Menge Fragen, die ich ihm noch stellen wollte. Baumanski sagte beruhigend: »Ich lese nur quer«, und tatsächlich wurde ich nun im Folgenden Zeuge davon, wie stark er inzwischen in die Querleser-Szene abgedriftet ist: Schon nach wenigen Sekunden hatte er in der zweiten Spalte aus dem Augenwinkel den Satz erhascht: »Trotzki führte eine edle Feder.« – »Aha«, rief er in den Saal hinein, »dieser Autor, dieser Franzose, was ist denn das für ein spinöser Trotzkist!«
Ich fragte Baumanski, ob ich ihn, während er den Artikel gerne querliest, einfach weiter zutexten könne, aber er sagte, und nun zitiere ich ihn wörtlich und in voller Länge:
»Nein.«
Einerseits freute ich mich, dass er damit auch auf meine Stimmbänder Rücksicht nahm, andererseits wusste ich, dass der Artikel 16 (sechzehn) Riesenseiten lang war, denn ich hatte ihn ja schon gelesen. Ich wusste des Weiteren, dass Baumanski einen eng getakteten Zeitplan hatte, und überschlug im Kopf, dass ich, nachdem er die Querlektüre oder Lektüre beendet haben würde, in dreifacher Sprechgeschwindigkeit würde sprechen müssen, um ihm alles das zu erzählen, was ich ihm noch erzählen wollte.
Ich aß betont langsam meine Breze auf, während er nun etwa bei dieser Stelle angekommen gewesen sein dürfte: »Kiew war eine recht angenehme Stadt mit rosafarbigen oder weißen Häusern und grünen Dächern. Man aß kandierte Früchte und Schwarze-Johannisbeer-, Reineclauden- oder Grüne-Johannisbeer-Konfitüre«. Um das zu erfahren, hatte ich neulich in irgendeiner Bahnhofsbuchhandlung beim »Lettre«-Kauf 15 Euro ausgegeben, und obwohl Baumanski als Ukraine- und Reineclaudenkonfitürenexperte das ja wahrscheinlich schon wusste, hatte ich irgendwie gedacht, dass es eine gute Idee wäre, ihm dieses Heft zu schenken.
Er hingegen gab mir zu verstehen, dass ich ihm etwas viel Besseres geschenkt hatte, nämlich nicht das Heft, sondern die Lektüre des Hefts. Konnte man jemandem eine größere Ehre erweisen! Wenn man Leuten ein Buch schenkt, weiß man ja doch nie mit letztgültiger Sicherheit, ob diese Leute das Buch auch lesen werden. Wenn man aber jemandem ein Heft schenkt und der Jemand das Heft sofort querliest, weiß man sofort, dass das Heft quergelesen wurde.
Auf Seite 37, das heißt auf der vierten Seite des Artikels, sagte Baumanski halb empört, halb belustigt: »Ich dachte, es geht um Revolutionsversuche in Kyjiw, aber jetzt ist er noch immer nicht bei seinem Thema angekommen.« Ich wollte etwas sagen, oder nein, ich wollte nichts sagen. »›Oje, oje! Die Revolution! Welch eine große Sache!‹«, rief Baumanski nun wieder in den Saal hinein, eine Stelle auf der fünften Seite rezitierend. Der Herr, der allein am Nebentisch saß und ein Wiener Schnitzel von einem bayerischen Kalb verzehrte, tat so, als ob er es nicht gehört hätte. »›Oje, oje! Die Revolution!‹«, wiederholte Baumanski, »was ist das für ein Schreibstil! Wer ist dieser Autor!« Er tätigte diese Ausrufe, wie der Name schon sagt, mit Ausrufezeichen, ich hörte es genau.
Es gab nun tatsächlich ein gravierendes Problem, wir hatten die Weißwürste und die Brezen aufgegessen, ich durfte nicht sprechen, aber Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich. Baumanski hatte noch elf unendlich lange Seiten zum Querlesen vor sich, deshalb bestellte er ein Schokosouffle. Ich war auch nicht satt, wollte aber, um meine Individualität zu unterstreichen, nicht schon wieder das gleiche bestellen wie er, deshalb bestellte ich Apfelkücherl.
Also es war so, Schokosouffle und Apfelkücherl waren die einzigen beiden Desserts auf der Karte, und eigentlich widerte mich das Wort Apfelkücherl an, ein entsetzlicher Ekel ergriff mich, wer denkt sich so einen scheußlichen Diminutiv aus, außerdem ist das Wort Apfelkücherl auch ziemlich schwierig auszusprechen, vor allem wenn man Probleme mit den Stimmbändern hat.
»Lenin stampfte in Zürich mit den Füßen« (Seite sechs). Die Apfelkücherl schmeckten überraschend gut, sogar mein Bier hatte ich dann endlich ausgetrunken. Man denkt, Apfelkücherl und ein Helles, das passt doch überhaupt nicht zusammen, stimmt aber nicht, man kann beides sehr gut parallel zu sich nehmen. Baumanski blätterte um, eine sonderbare Erregung bemächtigte sich seiner, »Danach erschien die Sozialdemokratische Arbeiterpartei der Ukraine, zu der Wolodymyr Wynnytschenko und sonderbarerweise auch Simon Petljura gehörten«, zitierte er, Baumanski schrie nun geradezu in den Saal hinein: »Das war überhaupt nicht sonderbar, dass Petljura der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehörte!!! Das war nicht sonderbar, sondern das war ganz normal!!!!«, und korrigierte dergestalt den Autor, der allerdings, wie ich in der letzten Dreiviertelstunde genau beobachten konnte, im »Türkenhof« keineswegs anwesend war.
Baumanski schlug plötzlich das Heft zu und sagte, Polizist sei in Mexiko kein angesehener Beruf, er sei neulich in Mexiko gewesen, ein Polizist habe ihm irgendwas sagen wollen, woraufhin sich sofort umstehende Einheimische um ihn, Baumanski, geschart hätten, die den Polizisten weggejagt haben. Wir mussten los, weil Baumanski eine Verabredung mit den sowjetischen Plakaten hatte. Ich begleitete ihn noch bis zur Stabi, wo wir uns verabschiedeten, und auf dem Nachhauseweg überlegte ich die ganze Zeit, wie um Himmels willen er nun von Philippe Videliers Artikel auf diese Polizistenanekdote gekommen war, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Ach ja, natürlich, auch Trotzki ist ja einmal, genau wie Baumanski, nach Mexiko gereist.