Archiv des Themenkreises ›Darf man das lesen?‹


Darf man das lesen? (Teil 14):
Das D-Radio-Programmheft

Konstanz, 3. September 2008, 14:25 | von Marcuccio

Diesen Monat muss man das D-Radio-Programmheft sogar lesen, wenn man die ganze Wahrheit über uns Umblätterer erfahren will: »Ein guter Umblätterer ist ein Segen, ein schlechter ist ein Fluch«, heißt es im aktuellen September-Heft (S. 5). Und weiter:

»Die edle Kunst des Umblätterns beherrschen offenbar nicht viele. (…) Umblätterer bekommen keinen Applaus. Sie werden ignoriert, sind eigentlich nicht da. (…) Welche Fauxpas geschehen immer wieder? Und: Wie sehen Umblätterer-Karrieren aus? Die Musikszene gibt Einblick in eine unterschätzte Kunst.«

Die »Geschichten von Notenwendern und Blätterknechten« am kommenden Sonntag, 7. September, um 15:05 im Deutschland­funk …

Das D-Radio-Programmheft liest man also niemals nur aus den bekannten praktischen Gründen. Man muss es vor allem als monatliche Mythen-Beigabe lesen:

Zum Beispiel: Der Seewetterbericht

Wenn Jörg Kachelmann sich im Gastkommentar (# 8/2007) als Reformator des DLF-Wetterberichts bewirbt (Es »gäbe natürlich schon eine Welt jenseits des ›teils heiter, teils wolkig‹.«), dann denke ich: Wohl wahr, hehe, aber scheint ja nichts draus geworden zu sein … zum Glück für den (zumal am Binnengewässer) doch immer wieder gern gehörten, ominösen Seewetterbericht: »Östlich Fehmarn West bis Südwest 5 bis 6, Böen 7«. So geil.

Zum Beispiel: Die Mittagsfrau

Wenn Julia Franck auf der Promi-Seite des Programmhefts (# 12/2007) erklärt …

»Auch die Nachrichten sind meine Lieblingssendungen. Ihre Sprecher und Moderatoren kann ich größtenteils von den Stimmen her unterscheiden.«

… dann weiß ich, dass meine Favoritin auf jeden Fall die »Mittagsfrau« ist, die um 12 Uhr 50 immer die »Internationale Presseschau« spricht. Da wird »die Zeitung ›Die Welt‹« mit der gleichen öffentlich-rechtlichen Sorgfalt zitiert wie »Jyllands-Posten« oder der »New Zealand Herald«.

Zum Beispiel: Das Gesamtwerk

Hat eigentlich schon jemand gemerkt, dass das Deutschlandradio-Programmheft die Edition Suhrkamp unter den Rundfunk-Postillen ist? Man muss es nur lang genug abonnieren und archivieren, dann steht man irgendwann wie Siegfried Unseld vor seinem berühmten Spektral-Regal.

Deutschlandradio, Deutschlandfunk, Sammlung von Programmheften

Das schafft kein arte- und kein 3sat-Magazin. Und die kosten sogar noch extra, während das D-Radio-Heft, man sollte es eigentlich nur flüstern, immer noch für nichts als unsere Gebühren frei Haus geliefert wird. GEZ-Teilnehmer sollte man bei Abo-Abschluss freilich schon sein, es sei denn, man will sich gerade auf diese Art anmelden …


Darf man das lesen? (Teil 13):
»Bücher«

Konstanz, 25. Juni 2008, 07:55 | von Marcuccio

Na, selbstverständlich darf man Bücher lesen. Bei der gleich­namigen Zeitschrift ist eine gewisse Sigrid Löffler vermutlich anderer Meinung, schließlich hat sie ihr »Journal für Bücher und Themen« seinerzeit nicht umsonst »Literaturen« getauft (und die Domain-Posse mit Christian Kracht nahm ihren Lauf, aber das ist eine andere Geschichte …).

»Bücher. Das unabhängige Magazin zum Lesen« erscheint seit 2003, in einem Verlag, von dem der eine oder andere vielleicht schon mal die »blond«, das »snowboarder MBM« oder auch »Sylt geht aus« (stand hierzu nicht schon alles in »Faserland«?) in der Hand hatte.

Zur Optik nur soviel: Heft 3/2008, mit einer makellosen Nina Hoss auf dem Cover und dem Titelthema »Einsamkeit: Das Gefühl 2008«, könnte glatt als Klon des G&J-Titels »emotion« durchgehen.

Aber ich muss gestehen, ich fühle mich, seit ich das Magazin kenne, vom normalen Feuilleton ein wenig unterversorgt, denn mindestens vier feine »Bücher«-Rubriken gibt es, die es so sonst nirgends gibt:

1. Das »Cover-Ranking«

Please judge a book by its cover: Hier werden Bücher (und zwar jeweils zwei) endlich mal unter rein verpackungsästhetischen Gesichtspunkten rezensiert. »Denn das Auge liest mit« … Die in Heft 3/2008 gestellte Frage, warum ein- und dasselbe Cover (»a rose is a rose is a rose«) hier vollkommen in Ordnung und da total daneben geht, ist wirklich eine hübsche Idee, zumal für Paratext-Freunde.

2. »Wiederentdeckte Klassiker«

Das Prinzip der Buchpatenschaft als solches ist ja nichts Neues, die lit.Cologne hat ein eigenes Veranstaltungsformat draus gemacht und der »Spiegel« präsentiert allwöchentlich »Das Buch meines Lebens«. Ob es funktioniert, hängt wie im DLF bei »Klassik-Pop-et cetera« eben immer auch davon ab, wer den Paten macht. Hier schreibt Helmut Krausser, und das seit mittlerweile 28 Folgen – womit sich das Ganze schon jetzt als Steilvorlage für ein zukünftiges Bibliotheksporträt bei »Cicero« empfiehlt.

3. »Verhinderte Bestseller«

Egon Friedell als »Klassiker, der in diesen Ferien dran ist«? Was uns Peter Richter in der FAS empfiehlt (neben »Maschinenwinter« als Strandlektüre), steht vorher hier: Schon im letzten »Bücher«-Heft feierte Björn Vedder die »Kulturgeschichte der Neuzeit« (»ein barocker Überfluss an Wissen, eine virtuose One-Man-Show«) und ihren Autor gleich dazu:

»Seinen Künstlernamen Friedell trug er seit seiner Dissertation über ›Novalis als Philosoph‹ 1904. Sein Leben in der Wiener Boheme erforderte bald Kuren gegen Alkoholismus und Fettlebigkeit. Als am 16.03.1938 SA-Männer den ›Juden Friedell‹ abholen wollten, wie er selbst meinte, sprang er aus dem Fenster seiner Wohnung in den Tod – jedoch nicht, ohne die Passanten vor seinem Aufprall zu warnen.«

4. »Überschätzte Bücher«

Eine so überschriebene Seite als letzte Seite einer Zeitschrift namens »Bücher« – das ist doch mal ein super selbstironisches Heftfinale. Dabei versteht sich das Motto durchaus als seriös, nämlich als Gelegenheit, um zwischen allerlei akuten »Feuchtgebieten« und dem nicht zitierfähigen »Neid. Ein Privatroman« noch mal nachzufragen: Was war eigentlich dran an Elfriede Jelineks »Lust« vor fast 20 Jahren, was stand da drin? Klare Antwort von Andrea Neuhaus in Bücher 3/2008: Nichts, außer einem einzigen »Altherrenwitz, ausgebreitet auf mehr als 250 Seiten«.

Literaturhypes revisited, ein Gegengift zu mancher Feuilleton-Sause, das erst retrograd so richtig heilsam wirkt.


Darf man das lesen? (Teil 12):
»The Daily Reckoning«

London, 30. April 2008, 07:05 | von Dique

»In a surprising flash of crass commercialism, I interrupt this newsletter to introduce the latest ›gotta have it‹ item from Mogambo Interstellar Enterprises (MIS), which is a new diet program based on the idea that if you are always too frightened to eat or keep food down, then your caloric intake is reduced, and you should lose weight. Easy and brilliant!

This caloric-attenuation regimen is scientifically paired with an aerobic, cardio program to insure that you get a terrific exercise workout from merely cleaning up your own puke all the time.« (25. 4. 2008)

So liest sich der Mogambo Guru bei dailyreckoning.com, dem einzigen Newsletter, auf den ich mich freue. Der Mogambo Guru ist ein Goldbug. Und Goldbugs denken, dass bald schon – morgen, übermorgen oder eben einfach bald – das Finanzsystem zusammenbrechen wird und es vorbei sein wird mit dem breiten Wohlstand.

Sie denken das schon seit vielen Jahren (gut, der kontinuierliche Goldpreisanstieg gibt ihnen Recht), und dann wird Papiergeld keinen Pfifferling mehr wert sein, und das einzige richtige Geld wird, genau: Gold sein.

Welche Einstellung man auch immer zum Zustand des Währungs­systems haben mag, darum geht es erst in zweiter Linie. In erster sind da die »Angry Mogambo Tirades« (AMT), und manchmal wird er ganz schön böse und ballert diese herrlichen Abkürzungen heraus, so wie seine im Eingangszitat vorgestellte Diät, the Mogambo Diet Plan (MDP), entwickelt von den Mogambo Nutritional Laboratories (MNL), vorgestellt in the Rude Way Of The Mogambo (RWOTM) im Shadow Of A Freaking Doubt (SOAFD).

Und neulich gab es dann zur Abwechslung mal eine Ladung Immortal Mogambo Poetry (IMP). Herausgekommen ist dieses Gedicht, »which doesn’t have a title yet, but the opening stanza is:«

The governments have firepower out the wazoo,
Looking for something to do.
One of these days, in dozens of ways,
They’ll be coming after you, too, and you’ll be in deep doo-doo.

Diese naive Gelegenheitslyrik erinnert mich an einen der schönsten Dichtunfälle im öffentlichen Raum, ein Gedicht, welches dem »Café P.« des Panoramamuseums in Bad Frankenhausen gewidmet ist (Paco hat es vor Jahren mal für satt.org interpretiert).

Bleibt die Herkunft der naiven Dichtung des Museumscafés ungeklärt (mittlerweile ist es auch von der Homepage verschwunden), so schenkt uns der Mogambo Guru wenigstens reinen Wein ein und erklärt:

»Well, those who have any familiarity with poetry whatsoever recognize right away that I have absolutely no talent, and it is obvious that I spent less than twenty seconds writing it, including thinking up the original idea, writing it, re-writing it, then editing it before giving it that final polish that turns it into a shining gem of literature.«

Vielleicht hätte ich mir auch nur 20 Sekunden Zeit nehmen sollen, um zu sagen, dass man dailyreckoning.com mit gutem Gewissen lesen darf.


Darf man das lesen? (Teil 11: »getAbstract«)

Konstanz, 29. April 2008, 07:01 | von Marcuccio

Wer sich schon immer die Frage stellte, »wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat«, für den geht es heute mal um eine ganz spezielle Dienstleistung in der boomenden Branche: Es geht um Abstracts von »getAbstract« – also die Produkte des (nach eigenen Angaben) Weltmarktführers für Buch-Zusammenfassungen.

Das Prinzip

Jeder noch so dicke Wälzer der Wirtschafts- und Weltliteratur wird auf ein Standard-Format von fünf bzw. acht PDF-Seiten (oder entsprechende MP3-, Palm-, Blackberry-Äquivalente) komprimiert. »Heiße Luft aus Büchern rauslassen«, nannte Rolf Dobelli, der Mitbegründer von getAbstract, das Verfahren mal ganz treffend.

Content von brutto auf netto, sozusagen, wobei dieser Service, nur als Flatrate zu bekommen, nicht ganz billig ist: das Abstract-Abo für die Bibliothek der Wirtschaftsbücher kostet 299 €, das für die Klassiker 189 € pro Jahr. Vielleicht, hehe, fragen wir also besser nicht: »Darf man das lesen?« Sondern: »Möchte man sich das leisten?« Und: Kann das, was für Business-Bücher passen mag, für belletristische oder philosophische Werke überhaupt funktionieren?

Wir machen die Probe aufs Exempel und nehmen heute endlich das Abstract zu Nietzsches »Zarathustra« zur Kenntnis, das uns die NZZ seinerzeit als Gratis-Beilage zum legendären Sonntagstaucher-Frühstück servierte. (Als Promotion bzw. in Kooperation mit Printmedien lanciert getAbstract immer wieder solche Buchzusammenfassungen zum Sammeln. Aktuell kriegt man mit der NZZ am Sonntag die »Klassiker der Wirtschaftstheorie«, 2007 gab’s eine Philosophen-Serie und schon 2006 zwei Staffeln Belletristik.)

Also sprach Zarathustra kompakt – der netto 11 DIN A 5 Seiten (brutto 420 Buchseiten) umfassende Nietzsche hat folgende Inhaltsstoffe zu bieten:

Die »Buchinformation«

… bildet gewissermaßen vorneweg das Abstract des Abstracts. Bis auf die Allerwelts-Attribute, die begründen müssen, warum der »Zarathustra« überhaupt eine Buch-Zusammenfassung wert ist, geht der Satz in Ordnung:

»Das faszinierende und irritierende Hauptwerk Nietzsches, in dem er die Ideen des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr als Rettung für die Menschheit verkündet.«

Die »Take-Aways«

… heißen wirklich so und sollen, Bourdieu lässt grüßen, wohl so etwas wie eine Liste gesellschaftlich verwendbarer Stegreifsätze über das Werk anbieten. Nur klingen die meisten von ihnen eher nach der Sorte Floskeln, wie sie ahnungslose Lehramtsstudentinnen verfertigen, um sie für die nächste Prüfung auswendig zu lernen. Stilschublade G8 Abiturwissen, Grundkurs Reli respektive Philo:

»Zarathustra hatte besonders große Wirkung in der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst, weniger in der Philosophie.«

Oder hier, das Take Away zum Plot:

»Der Einsiedler Zarathustra steigt nach Jahren der Einsamkeit aus den Bergen herab, um den Menschen seine Weisheit mitzuteilen.«

Wüsste man es nicht besser, man könnte Nietzsche glatt für einen Märchenonkel halten.

Das eigentliche Abstract

Die banalisierende Sprache ist der Dreh- und Angelpunkt, ja vielleicht das eigentliche Problem eines solchen Abstracts, denn in ihr kommt der souveräne Umgang mit dem Gegenstand weiß Gott nicht immer zum Ausdruck: Wenn es etwa heißt, Nietzsche hätte »lange mit dem Nihilismus geliebäugelt«, dann ist das einfach mal das völlig falsche Verb zum richtigen Sachverhalt. Oder liebäugelt man mit Nihilismus wie man mit einem, sagen wir, Topfenstrudel in der Kaffeehausvitrine liebäugelt? Eben.

Umgekehrt gilt aber auch: Nicht alles ist schlecht. Was im hinteren Teil des Abstracts über Nietzsches Stellung in der modernen Philosophie zu lesen ist, hätte so oder so ähnlich in jedem Feuilletonartikel zum nächsten »Zarathustra«-Jubiläum Platz:

»Nietzsche hielt es für eine Illusion, alles Menschliche auf Basis der Vernunft zu konstruieren, weil die Vernunft nur ein Teil des Menschen ist: Wer sie auf ein Podest erhebt, missachtet den Körper und die Leidenschaften. Der Leib, der Rausch, der Impuls gehören genauso zum Menschen wie die Rationalität. Damit nahm der Philosoph die Grundgedanken Sigmund Freuds vorweg. (…) Der moderne Mensch ist auf sich selbst gestellt, absolute Gewissheiten und eine universelle Moral gibt es nicht mehr, insbesondere keine christliche.«

Fazit: »Gott ist tot«

Und der »Nietzsche kompakt« war nicht grad eine lebendige Lektüre. Ein bisschen so wie eine Tube pures Tomatenmark: ordentlich konzentriert wohl, aber als reine Masse fad schmeckend. Wer den »Zarathustra« gelesen hat, wird von diesem Konzentrat wenig überzeugt sein. Und wer das Buch nicht kennt wohl kaum zur Lektüre des Originals verführt.

Das viel bessere Abstract eines Buches versteckt sich manchmal ganz woanders, in einem anderen Buch zum Beispiel. Fabelhaft fasst etwa Rüdiger Safranski den »Zarathustra« zusammen, auf den Seiten 297-301 seines Romantik-Buchs gerät man ganz unversehens in eine süffige, bonmotreiche Paraphrase. Damit gelingt Safranski auf 4 Seiten, was getAbstract auf 11 nicht schafft: Kürze mit Würze.


Darf man das lesen? (Teil 10: »Jungle World«)

Leipzig, 18. März 2008, 12:37 | von Paco

Ja. Und das kann man ruhig mal mit Vorsatz machen (2,90 Euro), nicht nur zufällig per Google-Suchtermen oder Buchmesse-Freiexemplaren. Aber bitte wirklich nur das Feuilleton, das seit kurzem übrigens wieder »Dschungel« heißt, und das ist doch mal eine treffliche Metapher.

Im letzten Jahr hat die Wochenzeitung ihr zehnjähriges Jubiläum gefeiert, und Ivo Bozic hatte damals mal schön aufgeschrieben, wie es dazu kam, dass es plötzlich die Jungle World gab. (Nach einem redaktionsinternen Streit beim alten FDJ-Tageblatt »junge Welt« wurde sie ursprünglich als Streikzeitung gegründet.) Zusammen mit der Tatsache, dass die Independentzeitung mehr als 30 Herausgeber hat, ist das doch der abgefahrenste Gründungsmythos seit dem One-Man-Relaunch der »Fackel« im Jahre 1912.

Immer empfehlenswert waren die Literaturkritiken von Jörg Sundermeier (exemplarisch sein Aufsatz über die Veränderungen auf dem Buchmarkt) sowie die populär-germanistischen Artikel von Jan Süselbeck.

Immer wieder gab es auch überraschende outgesourcte Texte, z. B. den von Dietmar Dath über die popkulturellen Implikationen des Analverkehrs oder das vorabgedruckte Grünbein-Kapitel aus Steffen Jacobs’ »Lyrik-TÜV«. Legendär ist auch die Tagebuch-Fortsetzungsreihe von Detlef Kuhlbrodt in 1, 2, 3, 4, 5 Teilen (Februar/März 2002), da kann man immer mal wieder reinlesen.

Eine Augenweide, aber das nur nebenbei, ist auch das cleane Design der Homepage jungle-world.com mit der schönsten Druckansicht aller Onlineauftritte deutschsprachiger Zeitungen.

Usw.


Darf man das lesen? (Teil 9: »Der Aktionär«)

Madrid, 26. September 2007, 00:16 | von Dique

Ich habe mir dieses Heft nicht etwa gekauft. Nein, San Andreas brachte es speziell für mich von seinem Lufthansa-Flug mit.

Ohne lange zu fackeln, den »Aktionär« sollte man auf keinen Fall lesen.

Die wenigen längeren Artikel in diesem Magazin, zumindest in dieser Ausgabe (38/2007), unterbieten bezüglich des Informationsgehalts fast den »Focus« (hehe), bei dem man sich am Ende eines Artikels oft fragt, warum einem nichts zum Thema gesagt wurde.

Mit »Vollgas fürs Depot – Mit diesen Aktien starten Sie durch« werden parallel zur IAA in Frankfurt, welch ein Zufall, Automobilaktien als Schnäppchen angepriesen. Unter anderem die Aktie von General Motors, einem Konzern, der seit Jahren strauchelt und bei dem von jedem verkauften Auto 1.500 Dollar für Sozialleistungen ehemaliger Mitarbeiter aufgewendet werden müssen; die neue »Ökostrategie« wird daran wenig ändern. Danke für den Tipp.

Unter dem Titel »Das blaue Gold« liest man die üblichen Lobpreisungen auf den Wassersektor, der bei immer knapperem Wasservorrat und wachsender Weltbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten angeblich mit hoher Rendite lockt. Das ist sicher grundsätzlich nicht falsch, aber keinesfalls originell. Ich habe in den letzten Jahren bestimmt viertausend Artikel gleichen Inhalts gelesen. Und das lässt sich ebenso über den Beitrag über den Billionenmarkt Infrastruktur sagen.

Kurz, das Magazin ist das typische Branchenblatt und bläst die Trompete nicht für den Aktionär, sondern will diesen nur dazu animieren, ständig neuen Trends zu verfallen und, statt es langfristig anzulegen, sein Geld lieber für Transaktionskosten, Managementgebühren und Ausgabeaufschläge zu verplempern.

Bleibt die Frage, warum mir San Andreas dieses Heft angedreht hat. »Es war doch kostenlos«, hat er gesagt. Aber das sagt er immer.


Darf man das lesen? (Teil 8: »Mitteldeutsche Zeitung«)

Leipzig, 2. September 2007, 12:10 | von Paco

In Regionalzeitungen heißt ja das Feuilleton immer »Kultur« und ist auf eine Seite begrenzt. Wie auch immer, Die MZ hat mit Andreas Hillger und Andreas Montag mindestens zwei sehr gute Redakteure, die es schaffen, mit dem wenigen Platz, den sie auf der Kultur- und der Medien-Seite haben, Feuilleton zu machen.

Als Beispiel dient jetzt mal die Literatur-Seite (V 4) der Wochenendbeilage »Blick« von gestern, 1. 9. 2007. Was der S- oder der F-Zeitung Stoff für eine Woche wäre, wird hier auf einer Seite abgehandelt, insgesamt 8 kürzere und längere Texte, darunter:

  • Ein Hinweis auf den Katalog zu den New Yorker und Brühler Neo-Rauch-Ausstellungen, inkl. einer Reproduktion der natürlich gut gemalten »Goldgrube«.
  • Eine schöne Rezension von Stefan Maelck zu Michael Kleebergs »Karlmann« mit einer schlagenden Inhaltsangabe: »Fünf ausführliche Episoden aus den Jahren zwischen 1985 und 1989 gliedern die Kapitel, denen man am liebsten Namen geben möchte: Liebe und Sport, Der Autohändler als Psychoanalytiker, Sex 3, Gesellschaft und feine Gesellschaften, Ende und Anfang.«
  • Eine Rezension von Oliver Seifert zum Gleba/Schumacher-Band »Pop seit 1964«, in der immerhin ein fünfzeiliges Goetz-Zitat Platz hat, der Satz mit dem »Big Sinn« aus »Subito«. Außerdem wird dem Artikel ein dpa-Foto von Rolf Dieter Brinkmann im Anzug spendiert.
  • Ein kleiner Hinweisblock zum Schawinski-Buch »Die TV-Falle«.
  • Also, das südliche Sachsen-Anhalt wird mit dieser Regionalzeitung nicht behaupten können, es wäre vom Big Sinn abgeschnitten.


    Darf man das lesen? (Teil 7: »Vanity Fair«)

    auf Reisen, 28. August 2007, 10:02 | von Paco

    Man will ja die deutschsprachige »Vanity Fair« schon wegen einiger ihrer Kritiker gut finden. Wer aber auch nur halbwegs mit dem konform geht, was Vargas Llosa neulich in »El País« (und etwas später auch in der S-Zeitung) geschrieben hat, wird die VF nicht lesen dürfen. Darin wird nun mal genau das Entertainment (als Gegenteil von Information, Meinung, Kritik) geliefert, das der zornige Autor anprangert. Aber langsam, erst mal die Basics:

    Jede VF-Ausgabe besteht aus den 4 Teilen »Leute«, »Agenda«, »Kultur« und »Stil«. Den ersten Teil, den ganzen »Leute«-Kappes und Jetset-Ennui sollte man gleich übergehen, eine Rubrik wie »Die Partys der Woche« ist nicht mehr als der Vorhof zur »Was macht eigentlich …«-Hölle. Auf den vielen zerhäckselten Seiten mit Fotos und irgendwelchen Ein-Satz-Zitaten von Schauspielerinnen kann man sich auch nicht lange aufhalten, da hat naturgemäß kein Gedanke Platz.

    Die IN&OUT-Doppelseite ist übrigens die Hochform dieser Häckselkunst. Dort gibt es ganz rechts außen immerhin einen Pressespiegel, in dem auch mal ein »Merkur«-Artikel erwähnt wird (Nr. 29, S. 15!) – an solchen versteckten Stellen wird deutlich, dass eben Ulf Poschardt Chefredakteur ist und nicht Hinz oder Kunz.

    Trotzdem werden die wenigen Feuilleton-Themen, die sich die VF leistet, mitunter extrem boulevardisiert, siehe die Botho-Strauß-Homestory von neulich. Das sind dann oft die im falschen Stil verfassten Texte zum falschen Thema im falschen Medium. Es gibt dann aber doch genügend Ausnahmen, etwa Rainald Goetz‘ Bericht über Peter Steins »Wallenstein«.

    Und damit zum Schluss noch das Gute und die Beantwortung der obigen Frage mit »ja«: Die Storys, bei denen der Text auch mal länger ist als eine Seite, sind ein guter Grund dafür, regelmäßiger »Vanity Fair« zu lesen – etwa die Übersetzung des VF-Original-Artikels von Todd Purdum über die »84«, die Bushs, die US-Präsidenten Nr. 41+43 (Nr. 28 vom 5. 7. 2007).

    Die VF hat mit ihrem »Kultur«-Chef Volker Corsten, mit Robin Alexander und Andreas Rosenfelder ein paar sehr gute Feuilletonisten dabei. Bei Ingeborg Harms werden sogar einige (leider nicht alle) der Society-Porträts zum interessanten Gegenstand, z. B. das über den römischen Designer (in der VF heißt das freilich durchgehend »Couturier«, hehe) Valentino Garavani – 10 Seiten Fotos und immerhin 2 Seiten Text.

    Und Rosenfelders Artikel über die Witwe von Hunter S. Thompson behandelt zwar nicht gerade ein Top-notch-Thema, wäre aber so auch in der »SZ am Wochenende« oder der FAS denkbar. Und der herrliche Artikel von Robin Alexander, der den Bundespräsidenten auf den Balkan begleitet hat (Nr. 29, S. 74-79), könnte genauso gut auch auf der »Seite 3« der S-Zeitung stehen.


    Darf man das lesen? (Teil 6: »Börsenblatt für den deutschen Buchhandel«)

    Konstanz, 24. August 2007, 21:59 | von Marcuccio

    Es führt die böse Börse nur im Namen und ist nicht mit (schl)echten Börsenblättern wie etwa dem »Effecten Spiegel« zu verwechseln.

    Von dem war dieser Tage zu lesen, weil Bolko Hoffmann gestorben ist: der Mann, der vor allem durch seine Anzeigen gegen den Euro bekannt wurde. Sein Vorname lebt im Hund Bolko von PR-Berater Moritz Hunzinger weiter, wie Hans Leyendecker in der S-Zeitung schreibt. Doch das nur nebenbei.

    Und dann also dieses Börsenblatt für den Buchhandel: Wieso eigentlich Börse, haben die nicht Ladenpreisbindung, also quasi Planwirtschaft fürs gute Buch? Schon. Aber Buch-Börsianer funktionieren eben anders … Wer wissen will wie, wirft donnerstags einen Klickblick [PDF] in die Gutenberg-Galaxis hinein (oder freitags in die Perlentaucher-Rubrik Die Buchmacher).

    Meistens merkt’s natürlich keiner, wenn das Börsenblatt ein bisschen Feuilleton spielt und Schiffsschreiber Matthias Politicky nach seiner Weltumrundung exklusivinterviewt [PDF]. Oder den Mann unter die Lupe nimmt, der uns als »Karlmann« einen guten Bücherherbst bereiten könnte.

    Und dann gibt es sogar einen Börsenblatt-Korrespondenten: Nils Kahlefendt, der immer Schönes über die Buchmesse und andere Dinge (zuletzt: das Kunstbuch zum Kunstboom [PDF]) aus Leipzig zu berichten weiß.


    Darf man das lesen? (Teil 5: »Frankfurter Rundschau«)

    Konstanz, 7. Juli 2007, 01:19 | von Marcuccio

    Gestern musste sich der Umblätterer diese Frage stellen, denn gestern war Deutschlands erstes Tabloid-Feuilleton in seinem Element, wie in alten Zeiten: Es war wieder ganz beseelt davon, vom »Gerechtigkeitsgefühl« her gegen die »FAZ« zu sein. Und so bekam auch Thierry Chervel, der Perlentaucher, der »zu seiner Verteidigung kein Printmedium zu[r] Verfügung hat«, sein Anti-»FAZ«-Forum.

    Aber reicht Anti allein heute noch aus? Schließlich leben wir nicht mehr im Zeitalter des Noelle-Neumann-Diktums vom Vier-Mächte-Block zwischen »FAZ«, »SZ«, »FR« und »Welt«. Damals las gefühlt jeder vierte Zeitungsabonnenent die »Rundschau«, und Frankfurt (am Main mo sogn, nä?) war Feuilletonnabel dieser Welt.

    Doch wie es so ist: Die Zeiten ändern sich. Wo der »Perlentaucher« seit 2000 so etwas wie die werktägliche Familienzusammenführung des deutschsprachigen Feuilletons (4+1) veranstaltet, nimmt sich der Umblätterer die Freiheit, die erste und bislang einzige Exzellenz-Initiative unseres heutigen Patchwork-Feuilletons (n+1) auszurichten.

    Alle Statistik spricht dagegen, dass die »FR« in unserem fairen, aber harten Wettbewerb noch mal eine Chance haben wird. Und wenn doch, dann wird es eine Folge unserer Exzellenz-Initiative sein. Bis dahin wettet der Umblätterer, dass es 2007, wie schon 2005 und 2006, kein »FR«-Beitrag unter die Top 10 schaffen wird.