Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Zebra

Palma de Mallorca, 1. März 2024, 19:26 | von Dique

Danke, hab ich grad in den Messenger gesprachnachricht. Paco hat mir vor zwei Stunden einen SPIEGEL+-Geschenkartikel geschickt, den hier:

»Das Doppelleben von Ex-Wirecard-Manager Marsalek«

Was für ein Filou der Maršáboy. Und der »Spiegel«, wow, quasi seit 2015 nicht mehr in ihn reingeschaut und noch immer beginnen die Geschichten in zum Beispiel einem Hafen, wo der Mann mit den kurzen Haaren und im schwarzen Anzug an einem sonnigen Tag seine Komplizin trifft und dann irgendeine Yacht besteigt. So mitreißend wie die Romane von Frederick Forsyth, oder wie der Autor von »Die Akte Odessa« heißt?

Aber egal, der Content ist Trumpf, und ich nutze einfach mal die Vorlesefunktion, weil einen 45-Minuten-Text am Handy oder Bildschirm lesen, ich bin nicht wahnsinnig.

»Die beiden suchen den Nervenkitzel, so beschreiben Bekannte das Verhältnis. Er nennt sie angeblich ›Zebra‹. Auch sie soll ihm einen Tiernamen gegeben haben.«

Welchen, das wird nicht verraten, und das Thema wird gewechselt.

Und die »Spiegel«-Automatenstimme ist ein Traum, da bekommt man zum Spionagestoff noch ein bisschen Comedy, wenn Rémy Martin im Mandarin Oriental weggezischt wird.
 


Was vom Tage 73 übrig blieb:
Katelbach, Ottensen

Hamburg, 12. November 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:15 Uhr.

🎶 Robert Miles: Children

Kleine Sonnabendrunde, und damit hinein ins …

Katelbach
Große Brunnenstraße 60
(Ottensen)

Espresso: €2,70.

Im heute erschienenen »Spiegel« (46/2022) schreibt Nora Bossong drei Seiten über ihr zehntägiges Internship bei der Bundeswehr, lese ich sofort weg. Trotz fehlender Vorerfahrung wurde sie offenbar gleich als Oberleutnant eingestellt. Der Text beginnt damit, dass sie eine Patrone des Kalibers 5,56 mm aus dem G36 jagt, peng. Insgesamt bildet sie die Bundeswehr-Lingo ganz gut ab und räsoniert im zweiten Teil ihres Textes ein bisschen allgemein über Militär und Gewalt: »Der Erfinder der Zivilisation, so hat es General Samanns in Anlehnung an Freud beschrieben, sei jener gewesen, der als Erster sein Gegenüber nur beschimpft und nicht umgebracht habe.«

Viel weiter komme ich erst mal nicht, da sehe ich eine Frau mit roter Lederjacke ins Katelbach treten. Ich sitze zwischen Tür und Tresen und höre also mit, dass die Frau fragt, ob sie hier den »Spiegel« haben. Sieht nicht so aus, und leise frage ich »Wieso?« und halte mein Exemplar hoch in die Luft. Sie sieht das Titelbild und winkt ab, sie suche wegen eines bestimmten Artikels den »Spiegel« von voriger Woche, den es ja nun nicht mehr zu kaufen gebe, und ich bewundere ihre smarte Idee, die alte Ausgabe im nächstbesten Café suchen zu gehen. (Leider habe ich vergessen zu fragen, um welchen interessanten Artikel es sich handelt.)

Die SZ habe ich wie immer auch noch dabei und lese später im Stadtpark David Steinitz‘ Artikel über Jennifer Coolidges Rolle der Tanya McQuoid in »The White Lotus«. Der Artikel enthält unter anderem diese Offenlegung: »Man wird im Smalltalk immer ein bisschen schief angeschaut, wenn man sagt, dass man ›American Pie‹ für einen großen Film hält, zumal als Filmkritiker.« – Okay, Coolidge ist ja glücklicherweise trotz Schauplatzwechsel von Hawaii nach Sizilien als Stammgästin des »White Lotus« auch in Staffel 2 wieder mit dabei, morgen Abend Folge 3 auf HBO.

Am Spätnachmittag tut sich noch ein kleines Zeitenster auf und es reicht für einen Artikel in der FAZ, Paul Ingendaay über Proust als humorigen Erzähler. Untermalt mit einem witzigen Foto Prousts, auf dem er einen Bürstenhaarschnitt trägt und etwas unklar lächelt.

Abends noch zwei Folgen der neuen Staffel »Die Discounter« und danach ganz überraschend die ersten 20 Minuten des DEFA-Films »Fahrschule« (1986), der irgendwie aus der ARD Mediathek auf den Screen schwappt, schöne Dresden-Vibes.
 


Was vom Tage 40 übrig blieb:
Café Leonar, Rotherbaum

Hamburg, 10. Oktober 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:15 Uhr.

Zum letzten Mal war ich hier am 21. März 2008, als es zum Kaffeehaus des Monats erklärt wurde, das …

Café Leonar
Grindelhof 59
(Rotherbaum)

Espresso: €2,30.

Im nestele den aktuellen »Spiegel« hervor und lese aus spontanem Interesse den Artikel über die vierte Staffel »Babylon Berlin«, die gerade anläuft. Zum Gespräch geladen haben die Regisseure Henk Handloegten, Achim von Borries und Tom Tykwer, und es geht zu ihrem Leidwesen erwartungsgemäß vor allem um den Hauptdarsteller Volker Bruch und seine Fisimatenten: »zurzeit gibt der Schauspieler keine Interviews. Muss er ruhig sein, um Vermarktung und Erfolg der Serie nicht zu gefährden?«

Der ganze Artikel trägt den vielleicht irgendwie sogar guten, aber irgendwie auch schlechten Titel »Der Bruch in der Gesellschaft«, und konstatiert wird: »Die Zukunft der Serie wird auch davon abhängen, wie die Regisseure ihren irrlichternden Star Bruch wieder in den Diskurs zu ihrer hochpolitischen Serie zurückholen.«

In der Bieberstraße kommt ein mittelalter Skater auf uns zugefahren, plötzlich rutscht ihm das Brett schräg nach vorne weg und rollt unter einen Bauzaun. Nix passiert, er lacht, und ich lache mit, und dann hebt er kurz ein Stück vom Zaun aus dem Betonsockel und holt sich das flüchtige Skateboard zurück.

Im Alsterpark tigere ich eins, zwei Minuten über eine Slackline und sowieso ist es ein schöner Herbsttag.

Erst sehr spät am Abend wieder Zeit für Lektüre, aber nicht mehr so viel Elan. Ich lese in der FAZ Kaubes Nachruf auf Bruno Latour, in dem er unter anderem die Studie über die »clef berlinoise« erwähnt. »Es mit der Modernität nicht übertreiben war Latours Devise.« – In der SZ erinnert Julian Müller an Latour sowie an den von ihm ins Spiel gebrachten neuen »politischen und sozialen Akteur«, die Mikrobe (aus seiner Studie über Louis Pasteur). – Ich habe Latour nur einmal live gesehen, bei seiner Opening Keynote zur DH2014 an der EPFL in Lausanne.

Ok, noch einen Artikel, und so übermäßig interessieren mich die Revolutionsjahre 1848/49 nun auch nicht, aber neulich angepiekst vom »Spiegel«-Porträt über Jörg Bong lese ich noch Joachim Käppners Rezension zu dessen Buch »Die Flammen der Freiheit«. Käppner füllt fast die Hälfte seines Artikels mit einem Abriss der Biografie von Carl Schurz, sehr interessant, und lobt ebenso wie Kurbjuweit im »Spiegel« den Autor Jörg Bong in allerhöchsten Tönen.

Nebenbei bemerkt, Verzeihung, gibt es im Text übrigens einen kleinen Jahreszahlenfehler (ed. in der Online-Ausgabe inzwischen korrigiert). Es ist von den »Freiheitskämpfern und -kämpferinnen (denn es waren auch etliche Frauen darunter) von 1948/49« die Rede, und ich würde das nicht aufspießen, wenn ich nicht ein bisschen positiv überrascht davon gewesen wäre, wie ich komplett übernächtigt und nur noch mit schwankendem Auge lesend so ein Detail erhaschen konnte!
 


Was vom Tage 31 übrig blieb:
Schlosshotel Dresden-Pillnitz

Dresden, 1. Oktober 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:00 Uhr.

Eigentlich am Wochenende kein Karenzzeitespresso, ausnahmsweise aber heute eine Sonnabend-Extraausgabe, denn wir sind im …

Schlosshotel Dresden-Pillnitz
August-Böckstiegel-Straße 10

Espresso: €2,80.

Morgens noch schnell den aktuellen »Spiegel« gekauft und fix durchgeblättert, irgendwie nirgends so richtig hängengeblieben, lese dann aber doch Dirk Kurbjuweits Porträt von Jörg Bong, der gerade bei KiWi Band 1 seiner auf drei Bände angelegten Geschichte der deutschen Revolution von 1848/49 vorgelegt hat. Er habe sie »als Fan geschrieben, als Fan der wahren Demokraten jener Tage«. Im weiteren Text folgt ein empirischer Nachweis: »Als Bong über [Joseph] Fickler redet, sagt er plötzlich, er habe eine Gänsehaut, und zeigt seinen Arm vor. Gänsehaut, tatsächlich.«

Und noch schnell Johann Grolle zu AlphaFold, »jene KI-Software, die den Durchbruch bei der Aufklärung von Proteinstrukturen vollbracht hat«. Den Breakthrough Prize haben die Entwickler gerade bekommen – das Nobelkomitee werde nächsten Mittwoch wohl nicht so mutig sein, als Chemiepreisträger mal eine Software zu küren, auch weil sie auf dem Code fachfremder Informatiker basiert.

Ansonsten liebe Grüße aus Dresden, Montag ist ja Einheitsfeiertag, dann also bis Dienstag back in Hamburg!
 


Was vom Tage 26 übrig blieb:
Café Paulette, Uhlenhorst

Hamburg, 26. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:15 Uhr.

Avanti popolo, schaut vorbei im …

Café Paulette
Flotowstraße 22
(Uhlenhorst)

… und bestellt dort bitte einen Ristretto. Erklärung folgt gleich.

Heute wird witterungsbedingt ein neuer Wollwalk-Overall spazieren geführt (von hessnatur), Farbe: Himbeer bzw. offiziell Fuchsia, wieder courtesy of ebay Kleinanzeigen.

Espresso: €2,40.

Im aktuellen »Spiegel« (Ausgabe 39/2022) lese ich schnell das Interview mit Bully Herbig zu seiner Verfilmung der Relotius-Affäre: »Wir haben eine Marktforschung in Auftrag gegeben, und etwa 70 Prozent der Befragten haben von dem Fall noch nie gehört. Das ist für den Film schön, weil die nicht wissen, wie er ausgeht.«

Ich blättere noch etwas in der SZ, lese ein bisschen den Kraftklub-Artikel von Cornelius Pollmer. (Pollmer, der in seinem Buch »Heut ist irgendwie ein komischer Tag« über eine Begegnung mit Peer und mir im Fontane-Archiv berichtet. Ich hätte die Begegnung vermutlich irgendwie anders geschildert, aber wenigstens hat so mein Faserriss, den ich mir in der Limestone-Kletterhalle am Lesnorjadskij Pereulok zugezogen hatte, noch einen Auftritt.)

Dann aber in der FAZ, verschlinge Kaubes Rezension der ersten Operninszenierung von Claudia Bauer, »Les Contes d’Hoffmann« in Kassel. Kaube erinnert daran, dass die Oper mit den Worten »je suis la bière« beginnt, über das schlimme Libretto hatte Georg Klein am Freitag im Literaturhaus Berlin noch gerantet.

Jetzt zum Ristretto. Normalerweise steht ja der Espresso am Anfang der Preisliste in deutschen Cafés, hier nicht, hier der Ristretto (€2,20). Allerdings wurde dieser Posten im vergangenen Jahr nur ein einziges Mal aufgerufen, und damit er seinen Platz auf der Liste behaupten kann, sollte man, wie gesagt, ins Café Paulette gehen und proaktiv einen Ristretto bestellen.
 


Was vom Tage 5 übrig blieb:
Eclair au Café, Winterhude

Hamburg, 5. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 7:00 Uhr.

In der aktuellen »Hinz & Kunzt« (Ausgabe 355, September 2022) ein Artikel über den Sachsenwald, geschrieben von Frank Keil. Kronzeuge mit viel Waldwissen ist der Diplompädagoge und freiberufliche Kulturwissenschaftler Nikolaj Müller-Wusterwitz, super. Einer der Fun Facts: Bismarcks Ururenkel Gregor Fürst von Bismarck hat sich »jüngst zum Waldtherapeuten ausbilden« lassen, ok.

Neue Woche, die dunkelblaue Artipoppe-Trage geschultert, meist auch den Teutonia dabei, Modell BeYou 12, beides mit Dank an eBay Kleinanzeigen.

Zickzack durch den Stadtpark Richtung Winterhude. An einem Kiosk am Lattenstieg kauf ich den SPIEGEL (Ausgabe 36/2022). In einem kleinen Seitenweg ist eine Filiale der Boulangerie …

Eclair au Café
Lattenstieg 4
(Winterhude)

Espresso: €2,50.

Im SPIEGEL erst das Interview mit Lilly Blaudszun. Dann das Carsten-Schneider-Porträt von Markus Feldenkirchen. Schneider, geb. 1976 in Erfurt, war ja 1998 der jüngste Bundestagsabgeordnete ever, mittlerweile unter anderem Ostbeauftragter der Bundesregierung, »einer von 16 Millionen Ostdeutschen«, wie Feldenkirchen, einer von ich weiß nicht wie vielen Westdeutschen schreibt. Die Reise führt Schneider und Reporter auch ins Erfurter Neubaugebiet Herrenberg, wo Schneider aufgewachsen ist und wo er nun »die Unterschiede der einzelnen Plattenbauweisen« erklärt. Siehe dazu auch Peter G. Richters Dissertation, betreut von Martin Warnke.

Passend zum Wald-Special der »Hinz & Kunzt« schaukeln auf dem Waldspielplatz im Stadtpark. Beim Weiterlaufen fallen mir zum ersten Mal die Warnschilder auf:

»Vorsicht! Allergiegefahr durch EICHENPROZESSIONSSPINNER! Bitte Raupen und Nester nicht berühren.«

Daneben die Hundeauslaufzone, dort eine Weile zuschauen.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2021

München, 11. Januar 2022, 06:00 | von Josik

Wer hätte das gedacht, nach einer langjährigen Pause verleihen wir heute zum *dreizehnten* Mal seit 2005 den Goldenen Maulwurf, für den Feuilleton­jahrgang 2021:

Der 13. Goldene Maulwurf

Wie jedes Jahr war die Konkurrenz so stark wie seit Jahren nicht. Das deutschsprachige Feuilleton des gerade abgelaufenen Jahres 2021 war wieder voller Geistesblitze und Bramarbasse, es war voller Sturm und – auch nicht zu vergessen – voller Drang und es regnete herrlichste Artikel. Apropos Feuilleton und apropos deutschsprachig – wie schrieb Diedrich Diederichsen im Septemberheft des natürlich nicht mit dem »Münchner Merkur« zu verwechselnden Berliner »Merkur«:

»Anders als in den meisten Kulturen der Welt sind es nicht soziale Medien, universitäre Debatten oder offen politisch geführte Auseinandersetzungen, die das Medium der Deutschsprachigen und ihrer Streits ausmachen. Es ist das, was nur noch in ihrer Kultur einen hohen Wert und gesellschaftlichen Einfluss hat, das Feuilleton. In diesem haben bestimmte Männer das Sagen, die gern im Genre des Machtworts etwas zurechtrücken.«

Dieser letzte Satz stimmt wahrscheinlich, obwohl wir ihn natürlich für falsch halten. Aber dass Feuilleton, wie Diederichsen schreibt, ein Medium ist, wenigstens das ist zweifellos richtig. – – –

So oder so ähnlich klangen viele Jahre lang die Vorworte zum Goldenen Maulwurf. Der Golden Mole war ein Preis für die angeblich™ besten Feuilletontexte des Jahres, der immer am zweiten Januardienstag verliehen wurde, damals, als es noch Leute gab, die (nicht als Investoren, sondern am Kiosk) Zeitungen gekauft haben. Ja, und es ist nun über ein halbes Jahrzehnt her, dass wir zum ersten Mal zum letzten Mal den Goldenen Maulwurf verliehen haben. Und tatsächlich ist der Goldene Maulwurf Geschichte. Allerdings war es unabdingbar herauszufinden, welche Schreiberlinge diesen Preis gewonnen hätten, wenn es ihn noch gäbe.

Und daher sind jetzt alle extremst herzlich eingeladen, auf die Gewinnerlinge des Goldenen Maulwurfs 2021 zu klicken:

1. Clemens Setz (SZ)
2. Marlene Streeruwitz (Standard) / Benedict Neff (NZZ)
3. Fabian Wolff (Time) / Maxim Biller (Zeit)
4. Jérôme Buske (Jungle World)
5. Mareike Nieberding (SZ-Magazin)
6. Elfriede Jelinek (junge Welt) / Peter Handke (FAZ)
7. Gregor Dotzauer (Tagesspiegel)
8. Michael Maar/Sebastian Hammelehle/Claudia Voigt (Spiegel)
9. Erik Zielke (nd)
10. Peter Richter (SZ)

Besonders interessant ist ja, dass das Feuilleton des Jahres 2021 vor allem auch ein Feuilleton der Literat*innen war. Daraus kann man schließen, dass das Feuilleton und die Literatur mittlerweile die genau gleiche gesamtgesellschaft­liche Bedeutung haben, zwar nicht unbedingt im Diederichsen’schen Sinne, aber doch in irgendeinem anderen.

Übrigens war die Auswahl dieses Mal außerordentlich schwierig, da auf der Longlist einundfünfzig (51) Texte standen: Mit anderen Worten, nie zuvor war unsere Longlist so long.

So long,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 

p.s. Diese ist die regulär 13. Ausgabe des Goldenen Maulwurfs. Die 12. Aus­gabe, unsere Preisverleihung für das Feuilletonjahr 2016, wurde leider Anfang Januar 2017 aus Zeitgründen gekippt. Wir haben die Ergebnisse aber (allerdings ohne Laudationes) im Oktober 2021 nachgereicht. Da die 2016er Preisverleihung nun gleichzeitig stattgefunden und nicht stattgefunden hat, wird sie von uns intern als Schrödingers Maulwurf bezeichnet. Na jedenfalls herzlichen Glückwunsch, Danilo Scholz, der demgemäß unser 12. Preisträger ist.

p.p.s. Die ausgebliebenen Preisverleihungen für die Jahre 2017 bis 2020 sind so zu erklären, dass wir eine längere Feuilletonpause eingelegt haben.

 


Tag in Tula

Moskau, 21. März 2018, 22:54 | von Paco

Samstagmorgen, der Tag vor der Präsidentschaftswahl, und wir fuhren mit der Lastotschka nach Tula. Das dauert von Moskau aus nur zwei Stunden und schon ist man im gefährlichen Tula, denn es ist Eiszapfensaison und, anders als in Moskau, waren noch nicht alle Eiszapfen kontrolliert abgeschmolzen oder abgedroschen worden. An die Häuser waren A4-Zettel mit Warnungen geklebt: Achtung vor dem Eiszapfen! Zehn-Kilo-Eispickel hingen tropfend von maroden Dachrinnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis.

Im Beloussow-Park fuhren wir eine Weile Ski, vielleicht die letzte ordentliche Skifahrt diesen Winter, und in der parkeigenen Brasserie »Pjotr Petrowitsch«, benannt nach dem Parkgründer, gab es dann lauter gute Sachen zur Erfrischung.

Um etwas Zeit zu überbrücken, gingen wir ins »Eremitage« geheißene Theater. Dort gab es einen Tschechow-Abend, und gerade, als wir verspätet hineinschneiten, begann die Aufführung der Zwei-Seiten-Erzählung »Datschniki«, die von ungebetenen Gästen handelt, und die von der Truppe irgendwie auf 20 Minuten gestreckt wurde.

Es war aber noch mehr los im Haus. In der Etage drüber gab es ein Jazzkonzert, und die Band stand vor einer frühneuzeitlichen Weltkarte, und zwar der doppelhemisphärischen von Claes Janszoon Visscher, Mitte 17. Jahrhundert, die durch den Jazz hindurch zu mir herüberschimmerte. Nach dem Konzert trat ich näher heran, die Weltkarte stellte sich als riesiges Puzzlespiel heraus, das irgendjemand erfolgreich zusammengesteckt und dann aufgeklebt, eingerahmt und mit Glasscheibe versehen hatte.

Dann wurde es Zeit, schließlich war Salsa Night in der »Stetschkin«-Bar, die benannt ist nach dem berühmten, in Tula ansässig gewesenen Waffenkonstrukteur Igor Jakowlewitsch Stetschkin. Wir trafen einige Leute, die uns unter anderem kopfschüttelnd erzählen hörten, dass wir »in diesem bescheuerten Theater« gewesen seien, aber uns hatte es dort ja gefallen.

Die Salsa Night selber kann man jetzt schlecht beschreiben, jedenfalls waren wir wie geplant um 3 Uhr morgens wieder am Bahnhof und nahmen den Zug zurück nach Moskau, und unterwegs las ich hot-off-the-presses die krasse Berghain-Story im aktuellen »Spiegel«: »Tod in Berlin«, unheimlich aufgeschrieben von Alexander Osang, bleibt erst mal im Hirn wie ein Fincher-Film.

In Moskau angekommen war alles beim Alten und wir schliefen in den späten Nachmittag hinein, um uns von dem Ausflug nach Tula zu erholen.
 


15 Stunden M.M.M.:
Medienkonsum zwischen Montréal und Moskau

Moskau, 19. August 2017, 15:05 | von Paco

Nun bin ich wieder zu Hause, von Tür zu Tür in 15 Stunden, da war genug Zeit, um zwischen einigen Powernaps verschiedenste Medien zu konsumieren.

Im 747er-Bus vom Hotel Bonaventure zum Aéroport Montréal-Trudeau las ich schnell noch den »Spiegel« Nr. 32 zu Ende, wofür in den beiden Wochen davor keine Zeit gewesen war. Check-in und Sicherheitskontrolle reichten dann genau, um die Sommersnippets von »Fest & Flauschig« zu hören, sind ja nicht so viele und jedes nur ein paar Minuten lang.

Kleiner Jumpcut ins Innere des Lufthansafliegers, wo vor dem Start ein Steward lieblos versucht, die FAZ und SZ vom Freitag zu verteilen, aber in ausgeklapptem Zustand riesenhafte Printprodukte will ja niemand mehr wirklich haben, niemand außer mir. Die FAZ war dann in 30 Minuten ausgelesen, Harald Schmidt war darin von Timo Frasch zum 60. gelobhudelt worden, mit einem Seitenhieb gegen Böhmermann und dessen angeblich nur »drittklassigen« Stand-up-Qualitäten, hehe.

Doch nun richtete sich meine Aufmerksamkeit auf den vor mir schwebenden Monitor mit den Medienangeboten der Lufthansa, und als erstes sah ich dort die ziemlich gute Krausser-Verfilmung »Einsamkeit und Sex und Mitleid«, Regie: Lars Montag, ein tiefer sexualkundlicher Blick in unsere breite Gegenwart, thematisch gespickt mit den typischen Krausser-Obsessionen. Nach einem Jahrzehnt extremer Krausser-Müdigkeit kam das eigentlich wieder mal ganz gut. Die Kamera hat mich ein wenig an »Finsterworld« erinnert mit ihrem Interesse an urdeutschen Dingen, einfach mal draufhalten auf das blau-plüschige Interieur eines ICE!

Als nächstes holte ich die letzten beiden »Twin Peaks«-Folgen nach, 3×13 und 3×14, und empfand dabei wieder das große, große Glück, dass es diese neue »Twin Peaks«-Staffel gibt: »Coffee for the great Dougie Jones!«

Dann war der »Spiegel« Nr. 33/2017 dran, denn bei der Zwischenlandung in Frankfurt würde schon die neue Ausgabe erhältlich sein, also sollte die alte noch verarztet sein, bevor der Atlantik überquert war. Und … done! Doch wie nun weiter, vielleicht noch ein Film? Ich entschied mich für »Guardians of the Galaxy Vol. 2« und habe es nicht bereut.

In Frankfurt dann der angekündigte »Spiegel«-Kauf, Nr. 34/2017, für €4,90! Ich las als erstes das Interview mit Frauke Petry und Kurbjuweits Hommage an Lobo Antunes und dessen Übersetzerin Maralde Meyer-Minnemann, schön sind da auch die Abschnitte zum periphrastischen Infinitiv. Nun jedoch widmete ich mich endlich voller Lesedrang dem Stück über den Flughafenmoloch BER: »Made in Germany«. Und na ja, »BER«, das ultimative Airportdesaster – will man nach einem halben Jahrzehnt voller lahmer BER-Witze (pars pro toto »Der Postillon«: »Neue Zeitform Futur III eingeführt, um Gespräche über Flughafen BER zu ermöglichen«) wirklich noch was darüber lesen? Aber ja und unbedingt, und zwar wenn es im »Spiegel« steht »und mit 20 Seiten so lang ist wie kaum eine SPIEGEL-Geschichte zuvor«.

Bitte lest alle diesen Artikel, er ist supergut, auch wenn ich eine widersprüchliche Stelle gefunden habe, die mich sicher noch lange beschäftigen wird. Und zwar steht in der Hausmitteilung auf Seite 9, dass die »Spiegel«-Leute »sieben Monate lang für ihre Recherchen benötigten«, und dann habe aber laut Seite 66 »[e]in Team von SPIEGEL-Redakteuren […] acht Monate lang recherchiert«. Was stimmt nun? Sieben oder acht?

Hoch über Weißrussland war der neuste »Spiegel« schließlich ausgelesen, aber ich hatte noch die Season-Premiere-Folge der fünften und letzten Staffel von »Episodes« im Gepäck, und die schaute ich auch noch an, sehr gut, wie immer, Tamsin Greig, Stephen Mangan und Matt »How you doin’?« LeBlanc. In einem offenen Browserfenster wartete auch noch das Interview, das Michele d’Angelo vom »Freitag« mit Ellen Kositza geführt hat, und ich war jedenfalls dermaßen im Leserausch, dass ich auch noch alle anderen geöffneten Browserfenster runterlas, meist Artikel von »heise online« und »Ars Technica«, die da seit Wochen herumlagen.

Aber noch mal zum »Spiegel«. Alle sagen ja immer: Der Spiegel, Der Spiegel. Wer lese den denn noch. Der habe doch an Bedeutung usw. verloren. Aber ich sage euch: Ich lese den noch, und habe seit schätzungsweise 2004 keine einzige Ausgabe verpasst. Ich wäre auch bereit, mich dazu einmal interviewen zu lassen, um über meine Gefühle beim wöchentlichen Lesen dieses herrlichen alten Wurschtblattes zu sprechen, denn es ist schon immer wieder eine hübsche Achterbahnfahrt, Motion Sickness inklusive, aber man muss doch den »Spiegel« lesen, denke ich immer, und ich bin damit auch nicht ganz allein, wenn ihr mal an Diques unfassbare »Spiegel«-Eloge denkt, die seinen gerade erschienenen Feuilletonband »Abenteuer im Kaffeehaus« beschließt: Diese Eloge ist, natürlich unter gänzlich anderen Voraussetzungen, der würdige Nachfolger von Enzensbergers »Die Sprache des Spiegel«, und Zeit wurde es, denn das Enzensberger-Ding ist ja schon 1957 erschienen, aber wie auch immer, ich bin jetzt wieder zu Hause in Moskau und sah grad vor ein paar Minuten noch, wie unten in der Metro Kurskaja, beim Übergang zur blauen Linie, wie dort ein Mitarbeiter in Monteurskluft ein wuchtiges Reliefbild mit dem Stationsnamen putzte, doch nun, Jetlag und so, werde ich eine Runde schlafen, »sieben, acht / gute Nacht«.
 


Die Interviewkrise

Moskau, 29. Juni 2016, 12:09 | von Paco

Gerade finden viele missglückte Interviews statt. Ein paar Beispiele. Zum Erscheinen der deutschen Übersetzung seines Sammelbandes »Distant Reading« hat »Spiegel Online« ein Interview mit Franco Moretti geführt. Der Satz mit dem »aktuellsten heißen Scheiß« klingt wie Bento meets VICE gone awry. Auch inhaltlich ist es etwas dürftig, wenn nämlich Andreas »Fahrstuhl« Bernard den Band in der FAS als »das interessanteste literaturtheoretische Buch, das seit vielen Jahren erschienen ist«, zelebriert und im SPON-Interview der technische Stand von vor tausend Jahren abgefeiert wird. Dazu Arne: »Aha. Franco Moretti macht also Named Entity Recognition, Sentiment Analysis und CSV-Dateien mit Locationdata«.

Weiteres Beispiel. Gerade hat im Palais de Tokyo eine Ausstellung mit Fotos von Houellebecq eröffnet. Und der Dichterfotograf erklärt im »Spiegel«-Interview seine Bilder (Ausg. 25/2016, S. 122–127). Das tut richtig dolle weh. Zum Eröffnungsbild der Ausstellung, das »einen dunklen Wolkenhimmel über der Stadt« zeigt, sagt Höllebeck: »Der Himmel hängt voller Versprechen und Gefahren.« Díos mío, Houellebecq ist als Mehrfachbegabung noch peinlicher als James Franco, hugh! (An dieser Stelle noch mal der Hinweis auf das ultimative James-Franco-Debunking im »stern«. Katharina Link, übernehmen Sie!)

Kleine Interviewkrise also. Dazu passt auch der von Olli Schulz in »Fest & Flauschig« 6 vorgebrachte Interviewhass, Zitat (nach ca. 1:01h): »Ich les mir keine Kackinterviews durch, wo [jemand] mal ne witzige Antwort auf ne uninspirierte Frage gibt, weil Interviews sind scheißelangweilig, […]. Meinst du, ich les mir noch ein Benjamin-von-Stuckrad-Barre- oder ein Ronja-von-Rönne-[Interview durch]!«

Daher jetzt Interviewpause, mindestens eine Woche. In der Zwischenzeit als Ersatzleistung: imaginäre Interviews! Jochen Schmidt schrieb vor fast genau zehn Jahren in der »taz«: »Eine Nobelpreisrede von Beckett wäre schlicht undenkbar, genau wie ein Spiegel-Gespräch mit Kafka.« Und das stelle ich mir jetzt vor. Volker Weidermann interviewt den großen Prager Obersekretär im nächsten »Spiegel«: »Herr Kafka, in Ihrem letzten Romanfragment behandeln Sie die Unerreichbarkeit eines Gebäudes, in diesem Fall eines Schlosses.« – Kafka: »Na ja.« Usw. usw.