Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Der beste Investment-Essay aller Zeiten

London, 9. September 2007, 11:53 | von Dique

Die letzte Woche zerbrach ich mir den Kopf über aktive und passive Fonds und druckte mir einen über 100 Seiten langen Thread aus dem Wertpapier Forum aus. Schlauer bin ich jetzt auch nicht.

Unter dem Arm trage ich immer mal wieder mein zerfleddertes Exemplar von Grahams »Intelligent Investor«. Auch neulich beim »Spiegel«-Kauf bei meinem Newsagent hatte ich es dabei. Er nahm grinsend das Buch wahr und wies mich so nebenbei auf Kapitel 20 hin, »Margin of Safety«.

Das ist so wie in der »Nackten Kanone«, wenn sich Frank Drebbin immer wertvolle Tipps von einem Stiefelwichser auf der Straße holt. Wieso liest mein Newsagent Benjamin Graham?

Warren Buffet zufolge ist »Margin of Safety« der beste Investment-Essay aller Zeiten, so ähnlich hat er das mal bei einem Vortrag vor einer Horde MBA-Anwärtern gesagt, im roten Polo-Shirt, ich sah es auf YouTube.

Mir gefällt sehr die Bezeichnung »der beste Investment-Essay«. Mein Newsagent schien das auch so zu sehen, »the best, it’s really the best«. Ich erwähnte im Gegenzug Buffetts »The Superinvestors of Graham-and-Doddsville«. Auch sehr schön und kommt in aktuellen Graham-Ausgaben im Appendix gleich mit.

»This is also the best«, sagte mein Newsagent.


Der Matussek hinter dem Matussek

Konstanz, 8. September 2007, 10:36 | von Marcuccio

Erst mal finde ich: Wo die »Spiegel«-Woche sich dem Ende zuneigt, sollten wir hier noch ein Zeichen setzen und die von der Bio-Welle überschwemmte, eigentliche Titelstory (»Romantik ist der erste Pop«) nominieren!

Und dann, Paco, Feuilletonator: Deine Sympathiemomente für Matti Matussek teile ich absolut! Er wird ja in Medienkreisen gern zur Hassfigur stilisiert, ich glaube auch Gehrs hat ihn als geistigen Urheber von Rebecca Casatis Second-Life-Story schon mal weggewischt – so nach dem Motto: Der steht sowieso für alles Seichte beim »Spiegel«.

Und genau das stimmt so nicht: Wie er Safranskis Romantik-Studie für den gemeinen »Spiegel«-Leser mit den Koordinaten des Pop nacherzählt (die Leutragasse von Jena als historischer Vorläufer der Kommune 1, Novalis als schwarzer Prinz des Pop usw.), das hat alles Hand und Fuß und Wert.

Wobei, und das werden die Matussek-Kritiker ihm natürlich wieder vorwerfen, nicht ganz rauskommt, ob das im Einzelfall jeweils Safranski- oder Matussek-Gedanken sind. Aber egal, mit all dem, und auch mit dem Matussek-Safranski-Interview (die besten Sätze hier noch mal per »sms«) war das doch eine wunderbare Romantik-Woche im deutschen Feuilleton.

Bei all dem muss ich zugeben: Traditionell bin (war?) ich kein Matussek-Möger. Aber man kann Matussek hinter dem Matussek bei rebell.tv als Sympathieoffensive begreifen. Allein der .ch-Tonfall von sms grundiert einfach mal eine grundsympathische Gesprächssituation und versetzt Matussek in eine schöne Plauderlaune mit interessanten Aussagen.

Insofern ist dieses »fideo« fast schon ein kleines landmark event meiner bisherigen Matussek-Rezeption. Schön auch, wie der »Rebell« den Matussek mit seinen eigenen Klischees konfrontiert (»Man munkelt, der unbeliebteste ›Spiegel‹-Mitarbeiter seien Sie« usw.) und wie dann erst mal prompt die Macho-Szene mit der Sekreteuse kommt.

Und interessant last but not least, wie es im »Spiegel«-Hochhaus zugeht: Dass die Dokumentation da ganz unten sitzt, passt irgendwie in mein Bild von der Augstein/Aust-Festung.


KulturSPIEGEL XXL und CCC

Konstanz, 30. August 2007, 01:11 | von Marcuccio

A. R., Diplom-Ingenieur (60), hat nach 28 Jahren abbestellt. H. F., Oberstudienrat i. R. (71), sein Abo im 46. Bezugsjahrgang gekündigt. Und O. G., Austologe (39), sagt: »Hallo liebe Zielgruppe! Bitte auch nicht am Kiosk kaufen!«

So hätte es kommen können, nach der hier so treffend benannten »längsten Spiegelsommerpause ever«. Aber es ist »Goldrausch« angesagt, zumindest beim KulturSPIEGEL: 96 Seiten – soviel Abo-Beilage gab’s noch nie.

Wie ein zu groß gewordenes Kälbchen flutscht einem das Sabblemong für September aus dem aktuellen Mutterheft entgegen. Viele Storys, opulente Fotostrecken, Damien Hursts Diamanten-Schädel funkelt auf 1/1-Größe, und 38 Anzeigenseiten stellen 12 Jahre stabiler Heftumfänge à 48 Seiten in den Schatten.

Ich suche nach einer Hausmitteilung, die mir die voluminöse Verdopplung von einem Monat auf den nächsten erklärt. Fehlanzeige.

Stattdessen stechen die ebenfalls neuen, seitenlangen Kleinanzeigenmärkte im Terminteil ins Auge. Neben die gewohnte KulturSPIEGEL-Champions-League der Redaktion darf und soll sich jetzt also auch die Regionalliga ins Heft buchen.

Sinnbildlich sichtbar wird das in der Anzeige für das Panoramamuseum am Kyffhäuser, das sich mit seinem Werner-Tübke-Rundgemälde als »Sixtina des Nordens« empfiehlt. Na dann. Aber ob die durch den KulturSPIEGEL angetickten Massen dann auch noch die Sehenswürdigkeit im Museumscafé (hehe) zu Gesicht bekommen?

Eigentlich kann so eine Anzeigen- und Seiten-Expansion ja nur mit der Auflage zusammenhängen, und tatsächlich: Dem Impressum ist zu entnehmen, dass es diesmal statt der üblichen 460.000 doch glatt 1.051.000 KulturSPIEGEL gibt. Wörtlich steht da natürlich nur:

»Dieser KulturSPIEGEL liegt der Abonnenten- und Inlands-Einzelverkaufsauflage von 35/2007 bei. Sie erreichen den Abo-Service unter …« usw.

Auch wenn es vermutlich nur eine einmalige Aktion zur Abonnentenwerbung ist, so ist es die Erklärung für das Anzeigenwunder. Und ein printener KulturSPIEGEL für alle. Okay, fast alle. Damit aber auch dem Spiegel-Ausland nichts vorenthalten bleibt, zitieren wir hier mal aus der Schlusspassage des Interviews mit Produzenten-Legende Dino De Laurentiis:

»An Ruhestand denken Sie also nicht?

Ich gehe in den Ruhestand, wenn ich sterbe. Wissen Sie, in Italien sagt man, dass es auf die drei »C« ankommt: cuore, das Herz, cervello, das Hirn, und coglioni, die Eier. Bei mir funktioniert alles noch ganz gut.«

Na bitte. Und der »Spiegel« funktioniert ab dieser Woche auch wieder ganz gut, wobei ich finde, dass man neben Alexander Osang auch ruhig mal Namensvetter Smoltczyk erwähnen darf, und zwar sowohl aktuell (Roberto Saviano) wie generell (»Global Village« darf ja keiner so oft wie er).


Happenings und Grunge-Partys

London, 23. August 2007, 22:46 | von Dique

Was ist los beim großen Städte-Ranking. Die deutsche »Vanity Fair« lese ich nicht, aber dort wurde ja laut Oliver Gehrs München zur coolsten Stadt erklärt, und da ist man sich immerhin einig mit »Monocle«.

Wir kennen das alljährliche Städte-Ranking. Welche ist wohl die teuerste der Metropolen, und der aktuelle Gewinner ist Moskau. London ist auch immer oben dabei, und Zürich, und Genf, und New York, und Tokio, also die üblichen Verdächtigen.

Wo es sich dagegen wirklich gut lebt und warum, ist vielleicht eine andere Frage, und da hat »Monocle« mit einem relativ einleuchtenden System nach bestimmten Grundsätzen und Annehmlichkeiten einer Stadt eben besagtes München auf den Top-Platz gesetzt.

London fliegt raus wegen seines unzulänglichen öffentlichen Verkehrssystems, der vergleichsweise hohen Kriminalität und vor allem, weil man Probleme hat, nach um 11 noch irgendwo in relaxter Atmosphäre einen picheln zu gehen.

Stimmt zwar alles, aber mit dreihundertachtundvierzig Millionen Topmuseen und Galerien, ebenso vielen Theatern, einer Handvoll Opernhäuser und unzähligen Klassik-, Rock-, Pop-Events und Restaurants jeglicher Art und Qualität könnte man bestimmte Prioritäten bezüglich der Lebensqualität infrage stellen.

Aber gut, das ist Tyler Brûlé, und John Roxton hat sicher Recht mit seiner Beobachtung, dass Brûlé eben eine Schwäche für alles Feine, Saubere und gut Funktionierende hat, am besten mit skandinavisch-nordischem Einschlag, damit eben auch eine nachvollziehbare Liebe zu Zürich, München und Wien, aber auch zu Tokio und Kyoto.

Während »Monocle« einen Maßstab anlegt, welcher eins a erklärt wird, haut uns der »Spiegel« mit recht abstruser Begründung so genannte »second cities« um die Ohren, die sich aus dem Schatten der großen, jetzt uncoolen Städte erhoben haben.

So ist auch hier London out, und Berlin und Paris erst recht, aber die estnische Vierhunderttausendeinwohnerklitsche Tallinn ist in und hip und unter anderem hier vermuten die »Spiegel«-Redakteure den nächsten Steve Jobs und/oder Bill Gates.

Mal ganz kurz: Was genau ist eigentlich cool an einem Ort, der Leute wie Gates und Jobs ausspuckt. Ist Silicon Valley cool? Will da oder wollte dort irgendwer leben, der nichts mit Computern zu tun hat?

Warum der »Spiegel« auf Krampf versucht, Amsterdam zu empfehlen, bleibt auch unklar. Die Story hangelt sich an einer Kreativen entlang, die aus Fahrradschläuchen und Luftmatratzen Handtaschen näht und, ach wie toll, die Dinger werden sogar bei Guggenheims verscherbelt.

Ansonsten wohnt die Frau in irgendeinem subventionierten Zentrum für einhundert weitere Kreative, und das ist natürlich super und vor allem cool. Amsterdam ist cool, ja, aber das war es schon immer, und das ist es eher trotz als wegen der Fahrradschlauchtaschendesignerin.

Und dann noch mal Tallinn. »Projekte für die alternative Szene, Happenings und Grunge-Partys« steht da als Unterschrift unter zwei Bildern zum Text. Grunge-Partys, meine Güte, und Happenings.

Auf einem der Fotos aus einer Tallinner Diskothek sieht man zwei tanzende Mädchen, von denen eine einen grinsenden Teufel auf die Jeans genäht hat, eben cool, und am Ende des Textes erzählt uns Erich Follath, dass man über irgendeine Entertainmentfirma einen KGB-Abend einschließlich Verhaftung und Verhör mit anschließendem Wodka-Umtrunk buchen kann.

Das klingt ungefähr so attraktiv wie eine Fahrt mit dem Trabant durch Berlin und anschließendem Eintopfessen mit Erich Mielke im Stasimuseum.

Das ist die längste Spiegelsommerpause ever, erst wurde die Kunst vor 38.500 Jahren in Deutschland erfunden und dann ist Tallinn unter den fünf coolsten Städten Europas. Der einzig gute Artikel ist der auf Seite 126 über den sehr lustigen »Islamic Rage Boy«. Islamic Rage Boy, so ein edler Name, mit dem würde ich gern mal ins Museum für Morgenlandfahrer gehen.


Die große Oliver-Gehrs-Nacht

Leipzig, 23. August 2007, 06:23 | von Paco

Fast kein Mensch kennt WatchBerlin, und wer das da ist und was die da machen, scheint auch noch so ein Geheimnis zu sein, obwohl die Karten gut erkennbar auf dem Tisch liegen. Es ist mit Sicherheit kein neues 08/15-Videoportal nach dem youtube-sevenload-myvideo-Schema.

Die dort redaktionell betreuten Videoblogger sind die zurzeit besten Videoblogger around, das kann man ganz ohne Übertreibung mal hier hinschreiben, die Mischung ist rund und spicy, auch ein paar Duschbeutel sind dabei, aber die gehen schön unter.

Von Henryk M. Broder erscheint leider viel zu selten etwas Neues. Wenn man Harald Martenstein zuhört, weiß man endlich, dass man seine fetzigen Kolumnen langsam und bedächtig lesen muss, so wie er selber eben spricht, wenn er in seiner Küche vor der WatchBerlin-Kamera spricht.

Volker Weidermann bereitet sich in seiner schönen Videokolumne »Book.Book« hoffentlich auf Einsätze im Fernsehen vor, er wäre eine schöne Bereicherung zu den mittlerweile fast einzigen Buchmenschen im deutschen TV, Thea Dorn, Elke Heidenreich und Denis Scheck.

Und dann ist da noch die Rubrik »Blattschuss!«, in der Oliver Gehrs seit dem 30. April jeden Montag den neuen »Spiegel« kurz bespricht. Das ist so gut und so unterhaltsam, dass es im Prinzip auch ohne Kenntnis des kritisierten Gegenstands funktioniert.

Die 16 bisher geuploadeten Folgen ergeben bei einer durchschnittlichen Länge von 3 bis 5 Minuten einen kürzeren Spielfilm, und daher haben wir gestern Abend »Die große Oliver-Gehrs-Nacht« veranstaltet, im Bunkerkino im zweiten Stock.

Die Mädels waren hin und weg. Und das wöchentliche Verschwinden und Wiederauftauchen des Gehrs’schen 7-Tage-Barts war vielen schon Schauwert genug.

Das Kunststück von Gehrs ist es, immer grundsympathisch zu bleiben, obwohl er ja zuweilen recht beckmesserisch über das beste Magazin der Welt (so weit kann man immer mal wieder gehen) räsonniert, während die Handkamera um ihn herumtänzelt. Das könnte pedantisch bzw. total bescheuert wirken, tut es aber nicht.

Das Tolle ist ja, dass man sich über den »Spiegel« anders aufregt, als etwa über die »Bild«. Da haben Bezeichnungen wie »bodenlose Dämlichkeit« und »reinster Schrott«, die aus dem aktuellen Beitrag über die Titelstory »Europas coole Städte« stammen, noch eine unterscheidende Aussagekraft.

Gehrs lobt nämlich auch, meist zurecht, und dann plauzt eine »Spiegel«-Begeisterung aus ihm heraus, die jeder langjährige Leser kennt und die sofort ansteckt und besser wirkt als jeder Werbespot und jeder Titelbild-Aufsteller.

Trotz einiger Resonanz in der Blogosphäre – ganz vorn in der Gehrs-Berichterstattung liegt übrigens der popkulturjunkie Jens Schröder – fallen die Klickzahlen unverständlicherweise eher gering aus (immer so knapp oder auch mal etwas deutlicher über 1000). Immerhin habe ich im Institut schon mehrfach den Gehrs-Begrüßungstext »Hallo, liebe Zielgruppe« gehört, die Popularisierung schreitet also voran.


Beim Zahnarzt

Leipzig, 3. August 2007, 15:46 | von Paco

Ich gehe gern zum Zahnarzt, weil da immer (zumindest bei meiner Zahnärztin) jüngere bis mittelalte »Spiegel«-Ausgaben ausliegen. Da kann ich schön ein paar Texte nachholen, die ich wegen unterschiedlicher Prioritäten bei der Erstdurchsicht auslassen musste.

Angeteast durch das letztlich interessante Interview, das Julia Encke mit Monika Maron für die letzte FAS geführt hat, lese ich heute dann doch auch noch das im »Spiegel« Nr. 30 vom 23. Juli, S. 140–142. Schön wieder die Bemerkungen zum Ehemann in Marons neuem Roman »Ach Glück«, dem sogenannten »Kleist-Forscher«.

Aber das absolute Highlight ist die Eingangsfrage der »Spiegel-Leute«. Roman Leick & Volker Hage fragen da nämlich, ob »die Widmung Ihres Romans … einem Hund gilt«. Im Buch selber steht »Für B.«, und dass damit sowohl der Romanhund (»Bredow«) als auch Marons eigener wuscheliger Vierpföter (»Bruno«) gemeint ist, das erscheint nach den ersten Interviewfetzen so plausibel wie literarhistorisch innovativ.

Während ich so dahinlese, wird das Gespräch an der Anmeldetheke lauter. Da steht ein Mann vom Typus ›aufmüpfiger Zausel‹ und schreit beleidigt: »Wieso könn‘ Sie keinen 500-Euro-Schein wechseln! Ich hab ein Anrecht dadrauf!«

Die Thekendame betont wiederholt das Missverhältnis zwischen der 10-Euro-Praxisgebühr und dem irgendwie windigen Geldschein, den ihr der Zausel unterjubeln will. Am Ende sagt sie einfach, sie habe nicht so viel Wechselgeld und verschränkt brüsk ihre Arme.

Der Zausel flucht komische Flüche gegen sie und verlässt schließlich wütend die Praxis. Sie wedelt ihm mit seiner Krankenkassenkarte nach, »Ihre Karte, Sie haben Ihre Chipkarte vergessen!«

Er hört das noch, faselt aber etwas von hinten reinstecken und ist weg. Die Tür plauzt. Ok, war dann sicher nicht seine eigene Karte, die er da hingelegt hat. Und seine Zahnschmerzen waren dann sicher nur gefaket, so wie der 500-Euro-Schein.

Eigentlich könnte nun Ruhe einkehren, da entdecke ich am Ende des Interviews, S. 142, rechts unten, einen unfassbaren Fehler:

»Frau Maron, wie danken Ihnen für dieses Gespräch.«

Nicht nur, dass der »Spiegel« für diese Schlussformel »wir danken Ihnen für dieses Gespräch« berühmt ist. Das Magazin hat auch die beste Schlussredaktion der Welt.

Ich fühle mich sofort an den peinlichen »Rückname«Fehler vom August 2004 erinnert, aber weiter komme ich nicht in meinen Überlegungen, denn auf einmal werde ich ins Behandlungszimmer gerufen. Auch das noch. Dabei wollte ich noch schön den Technik-Teil komplettieren.

Habe mir dann gleich einen neuen Termin geben lassen.


Meine Jacke

Leipzig, 17. Juli 2007, 01:27 | von Paco

Ich wollte heute unbedingt schnell weg aus dem Institut, um endlich in Ruhe den »Spiegel« zuende zu lesen. Ich war gestern nacht und heute früh nur bis zum Bayreuth-Artikel von Moritz von Uslar, der Luhmann-NSDAP-Geschichte und dem Tarantino-Verriss von L.-O. Beier gelangt. Und nachdem Oliver Gehrs, der popkulturjunkie und ein Dutzend andere Kulturmenschen so vom F.-J.-Wagner-Artikel über Fauser geschwärmt hatten, wurde es auch für mich mal Zeit.

Es war wie immer zu früh um zu gehen, und jeder nagelt einem ja noch ein Gespräch ans Knie, wenn man fast als erster nach Hause strebt. Und ich will ja keine schlechte Stimmung verbreiten, deswegen lasse ich mich normalerweise darauf ein. Heute aber wollte ich nicht und griff auf den Trick für den Fall der Fälle zurück. Meine Jacke.

Obwohl es inzwischen ja derb heiß ist auf der Welt, habe ich immer noch eine Jacke im Institut hängen. Ich ziehe sie natürlich nie an und werfe sie mir nur zum Gehen kurz über. So eine offene Jacke, die sich nach hinten weg in die Stromlinien legt, die durch meine Hast erzeugt werden, ist irgendwie ein überzeugendes Signal dafür, dass ich es jetzt mit guten Gründen eilig habe wegzukommen.

Ich konnte wieder die langen Flure durchschreiten, ohne aufgehalten zu werden. Draußen gab ich die Jacke wie immer beim Pförtner ab, mit der Bitte, sie bis morgen aufzubewahren. Dann kurz in der Lucca-Bar, und den Fauser-Artikel kann man ja tatsächlich ruhig mal nominieren.

Er ist ein bisschen gewollt dreckat geschrieben (die Szene mit dem Flachmann bei der Beerdigung usw.), und ansonsten wird noch mal alles verwertet, was Pop ist: Kerouac und Kracht werden erwähnt, außerdem Reich-Ranicki, und die Hälfte des Textes (kleine Übertreibung) schreibt dann auch nicht Wagner, sondern Fauser selber, in Form von Bukowski-artigen Gedichtzitaten.

Und außerdem gibt es da diesen herrlichen Screenshot mit Westernhagen, aus der »Schneemann«-Verfilmung von 1985. Die Bildunterschrift ist wieder mal ein Hoch auf die Bildredaktion wert: Der auf den Schienen liegende Westernhagen wird kommentiert mit dem Reich-Radetzky-Zitat zu Fausers Klagenfurt-Auftritt 1984: »Er passt nicht hierher«.


Die Kunst ist ein Meister aus Deutschland

London, 5. Juli 2007, 00:47 | von Dique

In grosser Freude ueber das Antlitz des rotgewandeten Skythenmannes stosse ich wenige Seiten spaeter auf »Das magische Mammut«. Tatsaechlich ein erstaunlicher und grossartiger Fund, dieses geschnitzte Elfenbeintier unserer Vorfahren. Eine uebliche Misch-Masch Spiegelgeschichte wird daraus, die prima in die Weihnachtsausgabe passen wuerde, das liegt wohl an der Urlaubssaison.

Man haette allerdings auch hier vermutet, dass wenigstens ein festangestelltes Redaktionsmitglied im Buero geblieben ist, um den Praktikanten auf die Finger zu sehen, damit sie keinen Unfug in die Welt blasen. Doch da steht auf Seite 136:

»Umgerechnet in Echtzeit sind das 32500 bis 38500 Jahre. Weder in Asien noch in Afrika gibt es fruehere Bildnisse. Im Klartext: Die Kunst wurde in Deutschland erfunden.«

Die Kunst wurde in Deutschland erfunden, vor ca. 35000 Jahren.

In der gleichen Ausgabe, auf Seite 117, in dem Artikel ueber die Muslimbruderschaften, werden radikale Muslime in »freimaurerhaften Zeremonien« eingeschworen, puhhh.


Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Konstanz, 29. Juni 2007, 00:50 | von Marcuccio

Soeben die Literaturbeilage zur diesjährigen Leipziger Buchmesse ausgelesen, che palle! Aber in diesem Zusammenhang unbedingt noch erwähnenswert: Unsere formidable Johanna Adorján, ihres Zeichens Angehörige der ersten »Girlie«-Staffel im Spiegel (47/1994), an die sich längst keine der damals drei Beteiligten mehr erinnern mag. Naja, gleiches behaupten die Heerscharen der heutigen »Alpha-Mädels« in zehn Jahren wahrscheinlich auch. Aber egal.

Dem Umblätterer ist das Ex-Spiegel-Girlie, das es zum Alpha-Mädel der FAS gebracht hat, schon allein deshalb sympathisch, weil es das Umblättern besser beherrscht als jede andere ihrer Zunft. Wie Johanna Adorján in der besagten und eben bewältigten FAZ-Literaturbeilage vom 21. März ihren Uli Wickert durchblättert, überblättert und wegblättert, das hat trotz – oder gerade wegen – der völligen Irrelevanz des rezensierten Objekts bleibenden Witz und Charme:

»Das Buch heißt ›Gauner muss man Gauner nennen‹, und es handelt, so zumindest der Untertitel, ›von der Sehnsucht nach verlässlichen Werten‹. Ja, schon auf Seite 4 sehne ich mich nach verlässlichen Werten! Nach Werten wie Klarheit und Logik.«

Ab Seite 16 »schwirrt der Kopf«.

»Auf Seite 140 merkt man, dass Wickert bereits zwei Bücher zum Thema Werte geschrieben hat, denn langsam gehen ihm die Anekdötchen aus.«

Und so weiter und so fort – mit zunehmender Langeweile an Weinonkel Wickerts Weisheiten legt Adorjáns »Live-Rezension« einen Zahn zu. Am Ende gibt sie gar nichts anderes mehr vor, als so ein Buch überhaupt nur hastig blätternd rezipieren und rezensieren zu können. Ein Best-Practice-Beispiel für die bereits eingeleitete freundliche Übernahme der FAZ durch die FAS. Und irgendwie auch ein heimlicher Favorit für die Jahresendwahl, denn brächte weiteres Durch- und Wegblättern nicht allemal mehr Abwechslung in die Rezensionswüsten dieser Feuilletons?


Mister Motorino

Konstanz, 28. Juni 2007, 19:00 | von Marcuccio

Abbildung: Arbeit macht frei, letzte Woche auf der Kreuzung der Quattro Fontane in Rom.

Eigentlich schade, dass Pop zumindest insoweit fortgeschritten ist, als es die reinen Stilkritiken à la »Wie sehen Sie denn aus?« so nirgends mehr gibt. Nicht einmal Moritz von Uslar, erst kürzlich (Spiegel 23/2007) noch in der ihm eigenen Zuverlässigkeit mit Lang Langs adidas Y-3 beschäftigt, sah es als seine Aufgabe an, Priebkes Turnschuhe (dein Modell, Paco? ;-) mit den Slippern seines Avvocato zu vergleichen.