Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Väter und Söhne und »Focus« und »Spiegel«

Leipzig, 12. November 2013, 09:46 | von Marcuccio

Hammertext. Der Schweinsohr kauende Vater … Diese Väter-Söhne-Geschichten von Jens über Kohl bis Unseld und Wimbauer sind wirklich ein Verhaltens- und Kulturmotor ersten Ranges. Oft genug die reine Hypothek. Der eine verdaut den Vater offensiv, der nächste hyperaktiv, der dritte passiv – Sohn von Hildebrand Gurlitt zu sein, bedeutete ja auch, lebenslänglich Sohn zu sein. Da erbst du 1406 Kunstwerke und kannst sie doch nur deponieren. Einem Beruf gehst du erst gar nicht nach. Nur wenn die Knödelvorräte zur Neige gehen, verkaufst du halt mal wieder einen Schinken. Der Kunstmarkt spielt Jahrzehnte diskret mit. Wie schlecht die »Focus«-Story von vor einer Woche war, zeigte sich erst gestern. Man hat in der Sache nichts Substanzielles verpasst, wenn man erst den »Spiegel« las (S. 150–158). Lustig finde ich ja auch, dass »Paris Match« gelang, was »Bild«, SZ und »Abendzeitung« (»Servus aus München«) mit geballter Münchner Lokalmedienmacht nicht schafften. Gurlitt, der die ganze Zeit zu Hause war, zu Gesicht zu kriegen.
 


100-Seiten-Bücher – Teil 45
Peter Hacks: »Zur Romantik« (2001)

Berlin, 28. Dezember 2012, 09:03 | von Josik

Ganz nebenbei erfährt, wer im Biologieunterricht nicht aufgepasst hat, in diesem Buch Erstaunliches über das Sexualleben von See-Elefanten (S. 37f.). Gleich auf der ersten Seite aber legt Peter Hacks los mit einem Zitat aus dem »Spiegel« vom 5. April 1999, also jener Ausgabe, die das berühmte Interview enthielt, in welchem Sandra Bullock sagte: »Ich habe das Surfen aufgegeben. Die Entwicklung der virtuellen Welt hat mich wirklich erschreckt. Da draußen geht es zu wie im Wilden Westen.«

Mein Lieblingssatz in Hacks‘ Romantikbuch ist allerdings der mittlere der folgenden drei Sätze: »Aber auch Johnston hatte Vorgänger in der Kleistforschung. Ich erwähne die Namen. Es sind Reinhold Steig und August Fournier.« (S. 55) Natürlich hätte der Satz »Ich erwähne die Namen« ebensogut weggelassen werden können. Aber gerade das ist ja wahrscheinlich das Tolle an Hacks: dass er diesen Satz nicht weglässt, sondern uns seiner Offenbarungen teilhaftig werden lässt. Eine mir völlig unverständliche Aversion hegt Hacks jedoch gegen den schönen Namen Leberecht und verhunzt ihn sowohl im Falle Karl Immermanns (S. 40) als auch im Falle des Generalfeldmar­schalls von Blücher (S. 69) auf eine ganz entsetzliche Weise.

Das formvollendete Deutsch, das Peter Hacks zu schreiben pflegte, wurde schon oft gelobt. Ein Hacks indes bedarf des Lobes nicht, deshalb wäre es falsch, ihn mit noch mehr Lob zu überhäufen. Vielmehr ist es nun an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun und Peter-Hacks-Sätze als Musterbeispiele in Stilfibeln aufzunehmen. Da man aus Platzgründen leider nicht alle Peter-Hacks-Sätze wird nehmen können, wird man auswählen müssen. Ich rate zu diesen beiden: »Später wird es so hergehn, daß […] Hardenberg einen hohen Rang bei den Illuminaten bekleiden wird, während vom Freiherrn vom Stein zu sagen sein wird, daß sein Assistent Carl Wilhelm Koppe […] den Tugendbund […] formen wird.« (S. 64) Und: »Das Buch ist ein sowohl schwul als sadistischer Porno.« (S. 13)

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Hacks: Zur Romantik. Hamburg: Konkret Literatur Verlag 2001.

Peter Hacks: Zur Romantik. In: Ders.: Die Massgaben der Kunst III. Hacks Werke, Band 15. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2003. S. 5–107 (= 103 Text­seiten).

Peter Hacks: Zur Romantik. Berlin: Eulenspiegel-Verlag 2008. (Zitatgrundlage für oben. Diese Ausgabe erschien zeitlich parallel und seitengleich auch im Konkret Literatur Verlag.)

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Anlässlich der FAS vom 2. Dezember 2012:
Die extrem tolle deutsche Zeitungslandschaft

Chemnitz, 3. Dezember 2012, 00:16 | von Paco

Gegen 15 Uhr erwachte ich endlich aus tiefem Schlaf und hatte sofort extreme Lust darauf, die FAS zu lesen. Eine Stunde später saß ich im Michaelis und tat genau das. Das heutige Feuilleton war wieder mal gehobenste Spitzenklasse. Das fängt schon bei den Kolumnen an. Tobias Rüther (in Absprache mit Angus T. Jones) über »Two and a Half Men«: »Die Show ist wirklich der letzte Dreck.« Und Johanna Adorján mit einer erfahrungsgesättigten These zu Fahrradhelmen: »Beim Anblick von Fahrradfahrern, die einen Helm aufhaben, ergreift mich mittlerweile die nackte Angst. Sie ist nicht angeboren, sondern in zahlreichen Zweikampfsituationen qualvoll erlernt. Wer, sagen wir, älter als zwölf Jahre ist und sich zum Fahrradfahren einen Helm aufsetzt, fährt nämlich unfassbar schlecht Fahrrad. Ist so.«

Dabei dachte ich zunächst, ich hätte die falsche Zeitung und das falsche Jahrzehnt erwischt, denn in der Fußzeile der Feuilleton-Frontpage stand etwas von »Call of Duty 2«, das ja aber schon zu Weihnachten 2005 erschienen war. Es handelte sich aber eindeutig um die heutige Ausgabe, 2. Dezember 2012, also dachte ich als nächstes: ein Retro-Review? Warum nicht! Warum nicht einfach mal Bücher, Filme, Ego-Shooter besprechen, die schon vor sieben Jahren erschienen sind: sehr gute Idee! Dann ging es aber im Artikel selber natürlich um »CoD: Black Ops 2«, was der Beauftragte für die Gestaltung der Ankündigungsfußzeilen vergessen hatte zu erwähnen.

Die Rezension von Gregor Quack ist jedenfalls hervorragend, und zwar weil er gleichzeitig die momentane Unmöglichkeit mitkommuni­ziert, über einen so bombastisch inszenierten Ego-Shooter überhaupt urteilen zu können. Die Videospielbranche bräuchte genau jetzt einen IT-Lessing, der analog zur »Hamburgischen Dramaturgie« erst mal rausfindet, wie man über so eine ästhetische Revolution überhaupt angemessen schreiben kann: »Es gehört eigentlich zu den Aufgaben der Kulturkritik, hierfür das passende ästhetische Besteck zu schmieden. Und wir fangen auch damit an. Versprochen.«

Dann schreibt noch Volker Weidermann über 70 Jahre Peter Handke. Erst mal vermerkt er seine Freude darüber, dass Handkes »Jugosla­wien-Phase« vorbei sei und er nun wieder leise, filigrane Bücher wie den »Versuch über den Stillen Ort« schreibe. (Wobei sich ja mit wachsendem zeitlichen Abstand komischerweise irgendwie der Eindruck verstärkt, dass Handke das Scharmützel gegen die Jugoslawien- und Serbienfeinde damals haushoch gewonnen hat.) Anhand des frisch erschienenen Briefwechsels zwischen Handke und Unseld macht Weidermann übrigens die interessante Beobachtung, dass sich Unseld bei der Korrespondenz mit seinen Autoren (Koeppen, Frisch, Bernhard usw.) so lange runterputzen lässt, »bis es ihm irgendwann einmal reicht. Und zwar, so mein Eindruck – reichte es Unseld bei jedem seiner Autoren, die allesamt ihm gegenüber das Sozialverhalten von ungefähr Fünfjährigen an den Tag legten – genau einmal. Einmal im Leben schimpft er zurück.« Diese seltenen Unseld’schen Rückschimpf­briefe sollten unbedingt in einer bibliophilen Einzeledition erscheinen!

Im Medienressort ist noch ein Interview von Harald Staun mit Christoph Amend und Timm Klotzek zu lesen. Es geht da um die jeweils nächste Ausgabe des »Zeit«- und des »SZ«-Magazins, die nämlich beide das Titelthema »Konkurrenz« haben werden, und warum auch nicht.

Als ich fertig war mit Minztee, Stachelbeerbaiser und FAS, traf ich mich noch mit ein paar Leuten auf dem Weihnachtsmarkt. Irgendjemand berichtete, dass er nun endlich das Thielemann-Interview in der »Zeit« von neulich gelesen habe. Sofort zitierten alle ihre Lieblings­stellen, denn dieses Interview ist wohl das Feuilletonereignis des Jahres gewesen, so so geil, es ist wirklich immer noch nicht zu fassen, dass dieser Text gewordene Feuilletontraum tatsächlich gedruckt in einer Zeitung gestanden hat.

Als ich später nach Hause schlenderte, fiel mir ein, wie extrem toll es doch derzeit um die deutsche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft bestellt ist, und als ich dann zu Hause war, rief Dique an und fragte, ob ich den genialen »Spiegel« von morgen schon gelesen habe. Hatte ich da noch nicht, habe ich inzwischen aber nachgeholt: wunderbar!
 


Marlene Streeruwitz

Berlin, 5. September 2012, 10:49 | von Josik

In dem berühmten »Spiegel«-Interview mit Marlene Streeruwitz (Ausg. 48/2006, S. 173) ist übrigens wirklich jeder einzelne Satz spitze: »Ich will als handelndes und denkendes Subjekt nicht auf ein sprechendes Geschlechtsorgan reduziert werden.« Oder: »Das Theater hält sich selbst nicht für kritisierbar. Das muss besprochen werden.« Oder: »Wir sind damit wieder beim Hanswurst-Theater auf dem Marktplatz, von dem Lessing einst wegwollte.« Oder: »Ich bin telefonisch erreichbar.« Oder auf die Frage: »Sie bekennen sich zur Humorlosigkeit?« die schöne Antwort: »Ja.« Ach ach, ich könnte jahrzehntelang nichts anderes tun als aus diesem herrlichen Interview zitieren!
 


Alte Fälle der Feuilleton-Kriminalistik:
Luciana Glaser

Krakau, 17. August 2012, 14:10 | von Marcuccio

Hauptsache, man ist überhaupt irgendwie. Sichtbar und greifbar. Deswegen erinnert die Enthüllung von Per Johansson ein bisschen an den Fall Luciana Glaser, der aber in sich noch mal ganz anders gelagert war, auch weil der Verlag (Zsolnay) damals nicht mitspielte, sondern mit reingelegt wurde. Aber der Reihe nach, denn auch diese Autorin kam scheinbar aus dem Nichts:

»Nirgends hatte sie vorgelesen, nie hatte sie Stipendien beantragt oder Literaturpreise empfangen, nicht einmal im Rundfunk an irgendwelchen Diskussionsrunden zum traurigen Stand der Gegenwartsliteratur teilgenommen.«

Schreibt Willi Winkler im »Spiegel« 27/1990. Interessant, wie sehr die in die Jahre gekommene Bemerkung auch darüber Auskunft gibt, wie extrem literarische Identität damals noch an klassische Zugangswege gekoppelt war. Unvorstellbar ein Airen, der einfach mal so als Blogger da ist, entdeckt, plagiiert, berühmt wird.

Wer also war Luciana Glaser?

Ein Pseudonym. Eine Fake-Person. Aber zuallererst mal war sie eine angeblich 1952 geborene Südtiroler Autorin, die für ihre im Februar 1990 erschienene Erzählung »Winterende« gelobt wurde – in den höchsten Tönen: »Den Kritikern fielen nur erlauchte Namen ein, um vergleichsweise der vollkommen unbekannten Größe Glasers gerecht zu werden: Thomas Bernhard und Rilke und Hölderlin mußten es schon sein«, berichtet Winkler rückblickend in bewährt-süffiger »Spiegel«-Häme. Ansonsten gab es nur »eine biographische Notiz, nach der Luciana Glaser aus Rovereto stamme, Tochter eines österreichischen Vaters und einer italienischen Mutter sei und in Wien studiert habe. Mit dem Verlag verkehrte sie zeitweilig über eine c/o-Adresse in Innsbruck.«

Und ein Foto der 38-jährigen, das gab es auch nicht, offizielle Begründung: Sie lebe »in solcher Zurückgezogenheit, daß keine Photographie zur Verfügung steht«. Und überhaupt: Sie »habe eine Zeitlang in einem Verlag gearbeitet und dort lernen können, was es für einen Autor und mehr noch für eine Autorin bedeutet, sich auf diesen Markt der Körper zu begeben«. Hui. »Ich bin nicht in der psychischen Verfassung, mir das zuzutrauen«, verlautete, acht Jahre vor Erfindung des literarischen Fräuleinwunders, der O-Ton von Luciana Glaser im »Spiegel«.

Das ließ die feuilletonistische Kriminalistik nicht ungerührt, aber sie musste vor der Erfindung von Google noch richtig reisen. Noch mal Willi Winkler:

»Vor allem die österreichischen Literaturkritiker verwandelten sich über Nacht in nichtlizenzierte Detektive und forschten im Geburtenregister der Stadt Rovereto (eine Familie Glaser gibt es dort nicht), blätterten im Immatrikulationsverzeichnis der Universität Wien (unter diesem Namen hat niemand studiert). Es gab sie offenbar nicht. Das Rätsel verlieh der Erzählung eine Bedeutung, die sie gar nicht hatte.«

Und damit sind wir beim Thema, das Gregor Keuschnig angeschnitten hat. Die Bereitschaft, Texte ohne Paratexte, sprich: Literatur von Autoren ohne Herkunft, ohne Foto, ohne Identität zu akzeptieren, ist gering. Ob sie in der professionellen Kritik jemals stärker vorhanden war als heute, sei aber dahingestellt. Beim aktuellen Fall Johansson/Steinfeld war sie freilich nie einzufordern, denn ein Verlag, der Blurbs, Fake-Foto und Fake-Biografien so opulent arrangiert wie S. Fischer für Per Johansson, der will ja gerade einen außerliterarischen Referenzrahmen schaffen.
 


Irina Antonowa

Leipzig, 11. Juli 2012, 22:18 | von Paco

Als ich diese Woche den wieder mal randvoll mit sehr schönen Artikeln gefüllten »Spiegel« las, musste ich unweigerlich an »Curb Your Enthusiasm« denken, an die Folge »Chet’s Shirt« aus der 3. Staffel:

Larry kauft sich bei Caruso’s in Santa Monica dieses schwarz-cremefarbene Shirt, das er auf einem Foto des verstorbenen Chet gesehen hat. Als sich Ted Danson später lobend über dieses Kleidungsstück äußert, beschließt Larry, ein weiteres Exemplar zu besorgen und es Ted zu schenken. Bei der Geschenkübergabe stellt sich allerdings heraus, dass da ein Loch im Gewebe ist. Larry will das kaputte Shirt aber nicht zurücknehmen, lieber soll nun Ted wieder zu Caruso’s gehen und das Shirt ganzmachen lassen, es gehöre ja jetzt ihm, das Geschenk sei ja schon auf den Beschenkten übergegangen: »I don’t own this shirt anymore, as I see it. I gave it to you. It’s your responsibility.«

Worauf Ted Danson definiert: »You didn’t give me a gift. You gave me a defective shirt. It’s got a hole in it. (…) That’s a problem, not a gift

You call it a gift and I call it a problem. Also genau wie bei Ginger Rogers & Fred Astaire (»you say tomäjto and I say tomahto«). Und genau wie im aktuellen »Spiegel«. Denn darin ist auf den Seiten 80 bis 84 ein sehr hervorragendes Interview mit der 90-jährigen Immer-noch-Direktorin des Moskauer Puschkin-Museums abgedruckt. Und schon im Artikelvorspann rufen ihr die Autoren zu: You say Trophäenkunst and we say Beutekunst.

Ich habe den Text mittlerweile dreimal gelesen, einfach spitze von vorne bis hinten. Neben der Benennungsschlacht zwischen Beute- und Trophäenkunst startet Irina Antonowa in all ihrer Neunzigjährigkeit noch ein weiteres Scharmützel:

»Ein bei uns recht bekannter Künstler kam 1993 ins Puschkin-Museum und verrichtete vor einem Gemälde von van Gogh seine Notdurft. Das nennt sich dann Performance. Das ist doch keine Kunst, sondern eine Schweinerei. Ich denke, dass ihm drei Monate Gefängnis nicht geschadet hätten, um darüber nachzudenken, was er da getan hat.« (S. 81)

You say Performance and I say Schweinerei. An dieser Stelle heißt es dann bei Ginger & Fred: Let’s call the whole thing off. Aber das »Spiegel«-Interview geht weiter, immer weiter, in all seiner Herrlichkeit.
 


Aktuelle Roaming-Tarife der deutschen Presse

Krakau, 10. Mai 2012, 22:24 | von Marcuccio

Heute: Polen. Bei Empik (Kraków, Rynek Główny 5) im Angebot:

  • die FAS für 17 Zł / 4,20 €
  • die WamS für 19 Zł / 4,60 €
  • die »Zeit« vom Donnerstag letzter Woche: 25,50 Zł / 6,20 €
  • der »Spiegel« vom Montag dieser Woche: 29 Zł / 7,10 €

Immerhin: Die Sonntagszeitungen werden hier endlich mal wie Wochenzeitungen behandelt und bleiben die ganze Woche im Regal.

Viele Grüße,
Marek
 


Mit Siegfried Kracauer zu Rudolf Steiner

Konstanz, 9. April 2012, 23:36 | von Marcuccio

Nein, Kracauerfeuilleton muss nicht immer in Berlin spielen, obwohl das Stück »Friedrichsstraße 90« neulich im »Freitag« schon sehr hübsch war – und Straßenfeuilleton zurzeit ganz generell groß in Mode ist: vgl. die Torstraße in der FAS, den Durchschnitt im aktuellen »KulturSPIEGEL« …

Unser Osterspaziergang führte ins Vitra Design Museum nach Weil am Rhein. Die aktuelle Ausstellung »Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags« läuft noch bis Anfang Mai, tourt bereits seit 2010 durch die Lande – ist also in den aktuellen Feuilletons längst durch. Ein Grund mehr, der Arroganz der Gegenwart mit einer gut abgehangenen »Frankfurter Zeitung« beizukommen:

»Die Kosmogonie Steiners hier im einzelnen zu entfalten, erübrigt sich – umso eher, als trotz seiner genauen Bescheibung des Stufenpfades niemand außer ihm selber bisher in die übersinnlichen Bereiche eingedrungen ist. Immerhin mag erwähnt sein, daß er kraft seines Hellsehens von einem vor zwölftausend Jahren untergegangenem Kulturvolk zu berichten wußte, das in Luftfahrzeugen dicht über die Erde gefahren sei, und die Existenz zweier Jesusknaben behauptete, über die er mancherlei Mitteilung machte.«

Das schreibt Siegfried Kracauer in der FZ vom 18. April 1925. Soviel Spott in einem frischen Nachruf muss man sich erst mal trauen, wobei frisch heißt, dass Steiner am 30. März 1925 starb und Kracauers Nachruf erst knapp drei Wochen später erschien. Dabei war die FZ aber schon eine Tageszeitung, nennen wir es also ein retardierendes Moment in den Roaring Twenties.

In der Ausstellung

Der Stuttgarter Stuhl erinnert – nur rein namenstechnisch – irgendwie an den Ulmer Hocker. Der wiederum bringt uns über einen pindarischen Sprung zur Hollywoodschaukel und auf die Idee, dass es eigentlich mal höchste Zeit für eine rein onomastisch motivierte Sitzmöbelschau wäre. Ikea macht es im Grunde ja vor.

Biomorphe Formen in der ganzen Ausstellung. Ein bierbäuchiger Familienvater erklärt seinen asketischen Töchtern anthrosophisch. Sel isch halt, wenn d’Architekte koan rechte Winkel mäh machet. Oder so ähnlich. Und wir lernen Neues aus der Anstalt: Das frühere WDR-Signet von Paul Schatz war hochgradig eurythmisch: 19 Uhr 15: ein Senderlogo bei seiner eigenen Bewegungstherapie, sensationell.

An der Bushaltestelle

Wir überlegen kurz, zum großen Goethe-Osterei weiterzufahren (bei Kracauer 1925 nur der »verbrannte Tempel zu Dornach, dessen Wiedererrichtung jetzt droht«), halten uns dann aber lieber extralange an der Vitra-Design-Bushaltestelle (Jasper Morrison, 2006) auf. Die hat nämlich einen Teppich aus Teer, so weich wie Moos, noch nie haben wir einen so angenehmen Straßenbelag erlebt. Ist das jetzt das Osternest für unsere Füße? Eine Fußreflexzonenmassage, weil der Bus Verspätung hat? Auf jeden Fall ein astreines Stück Tiefbau, hebt die Schwerkraft jeder Warteminute auf.
 


Tobias-Meyer-Interview

Hamburg, 6. Februar 2012, 03:13 | von Dique

Der größte Hit gelang der FAZ am Samstag mit dem Tobias-Meyer-Interview, geführt von Rose-Maria Gropp. Von vorn bis hinten ein schönes Gespräch. Das liegt auch an Tobias Meyer, der einfach ein guter Fragenbeantworter ist und mit großer Lust einfach loserzählt. Der reinste Enthusiasmus schäumt da aus den Zeilen hervor, immer wieder mal gibt es emotionale Bestätigungen wie »Ja, natürlich!« oder »Und wie!« Das kennen wir schon aus dem »Spiegel«-Interview vom Januar 2006, »Let’s make it a million«. Im »Spiegel« war Meyer der »coolste Auktionator der Welt« und die FAZ spricht dagegen vom »elegantesten Mann am Pult des Auktionators«.

Neben dem wunderschönen Dahinerzählen bekommen wir auch ein paar Halbfakten endgültig aus erster Hand bestätigt. Ja, Ronald S. Lauder hat 135 Millionen Dollar für den güldenen Klimt gezahlt. Ja, kurze Zeit später wurde Pollocks »No. 5« für 140 Millionen Dollar verkauft. Geschickt tut Rose-Maria Gropp dabei immer ein wenig ungläubig. »Wenn Sie das sagen, dann glaube ich es von nun an auch«, sagt sie auf den Klimt, und auf den Pollock: »dann glaube ich Ihnen auch das«. Am Ende erzählt Meyer noch, dass er für sich selbst gern Kunstgewerbe aus dem 18. Jahrhundert kaufe, weil es einfach so billig sei, z. B. einen Becher von Höroldt für 2000 Euro, und da hat er doch einfach mal Recht.