Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Unser Mann in New York: »It’s vild here!«

Lyon, 22. Februar 2010, 14:02 | von Charlemagne

Habe nach dem Mittagsschlaf, inspiriert durch David Wagners gerade bei Twitter stattfindenden Umzug, ein paar alte Ausgaben der »New York Review of Books« durchgearbeitet und bin dort auf einen lange vergessenen Aufsatz von Zadie Smith gestoßen, »Speaking in Tongues«. Wie immer bei Zadie Smith: sehr gut, im Ton wie im Inhalt usw. usf., aber besonders interessant war folgende Stelle, die sich am Obama-Wahlabend abspielt:

»I was at a lovely New York party, full of lovely people, almost all of whom were white, liberal, highly educated, and celebrating with one happy voice as the states turned blue. Just as they called Iowa my phone rang and a strident German voice said: ›Zadie! Come to Harlem! It’s vild here. I’m in za middle of a crazy Reggae bar – it’s so vonderful! Vy not come now!‹

I mention he was German only so we don’t run away with the idea that flexibility comes only to the beige, or gay, or otherwise marginalized. Flexibility is a choice, always open to all of us. (He was a writer, however. Make of that what you will.)«

Den Namen dieses deutschen Autors erwähnt Zadie Smith nicht. Ich hatte aber heute morgen ein bisschen in »Klage« geblättert und war beim Eintrag vom 19. April 2007 hängen geblieben.

Rainald Goetz hat diesen Eintrag mit »Holzfällen« überschrieben und also von Bernhard gehandelt sowie von einem fragenden Daniel Kehlmann, »der mit seinen praktisch textfreien Büchern die gehobene Angestelltenkultur vertritt«. Wie auch immer, in diesem Zusammen­hang fiel mir eine Interviewstelle wieder ein, siehe den »Spiegel« Nr. 46/2008, S. 175:

SPIEGEL: Herr Kehlmann, Sie sind extra nach New York geflogen. Wie haben Sie die Wahlnacht erlebt?

Kehlmann: Zunächst bei einer privaten Party auf der Upper East Side, dann auf einer großen Wahlparty in einem Lokal in Harlem. Es war überwältigend, in diesem Moment in Harlem zu sein, wirklich überwältigend. Das war ja nicht nur ein Augenblick, es dehnte sich über Stunden.

Soweit diese kleine Synopse zwischendurch, und egal, ob es nun vild oder vonderful oder einfach nur überwältigend war, eigentlich sollte man eine andere Stelle dieses kurzen Interviews genauer durchkauen, aber dazu hätte ich länger schlafen müssen.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2009

Leipzig, 12. Januar 2010, 06:35 | von Paco

Endlich kommt er wieder ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf, zum nunmehr *fünften* Mal:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2009:

1. Maxim Biller (FAS)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henryk M. Broder (Tagesspiegel/Spiegel)
4. Wolfgang Büscher (Zeit)
5. Hans Ulrich Gumbrecht (Literaturen)
6. Nora Reinhardt (Spiegel)
7. Tom Kummer (Freitag)
8. Birk Meinhardt (SZ)
9. Felicitas von Lovenberg (FAZ)
10. Dietmar Dath (FAS)

Der 2009er war wieder ein hervorragender Jahrgang des deutsch­sprachigen Feuilletons. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007 und 2008 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Auch in diesem Jahr hat sich das Consortium bei der Auswahl und beim Ranking auf ein paar Wochen hin verfeindet, hehe. Auf unserer Longlist standen noch andere unbedingt lesenswerte Feuilletontexte, etwa die ganz hervorragende Robert-Enke-Berichterstattung von Ralf Wiegand in der SZ, Alexander Smoltczyks »Ciao bella«-Artikel im »Spiegel«, Niklas Maaks Text über das Ende der deutschen »Vanity Fair« (FAS, 22. 2. 2009, S. 29), das Broder-Biller-Doppelinterview im SZ-Magazin oder Jochen-Martin Gutschs »Spiegel«-Artikel über Boris Becker.

Und dass die Schweiz 2009 so sehr mit sich selbst beschäftigt war (bröselndes Bankgeheimnis, Libyen-Affäre, Minarette), hat irgendwie auch das NZZ-Niveau gedrückt. Entdeckt haben wir aber Samuel Herzog, der zwar stets wenig Raum bekommt für seine Kunstbericht­erstattungsartikel in der NZZ, den aber ganz hervorragend ausfüllt.

Usw.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque


Deutschlands erster Supermarkt-Roman

Konstanz, 1. Dezember 2009, 01:35 | von Marcuccio

Vier Äpfel (Cover)Der Kaufland-Tip mit seiner 19-Millionen-Auflage kann doch nicht alles sein, was wir über Super­märkte zu lesen bekommen. Mag sich David Wagner gedacht haben und legt »Vier Äpfel« vor – Deutschlands ersten Super­markt-Roman.

Der Plot ist schnell erzählt: David Wagner kauft sich keine nachtblaue Hose, wiegt aber vier Äpfel ab. Die bringen exakt 1000 Gramm auf die Kundenwaage – und den Gedan­ken: »Vielleicht ist heute ein besonderer Tag.« Nach 77 Seiten stellt sich heraus:

»Wahrscheinlich ist heute doch kein besonderer Tag, denn daß vier Supermarktäpfel zusammen genau tausend Gramm wie­gen, kommt bestimmt gar nicht so selten vor. Äpfel werden sicher auf dieses Gewicht hin gezüchtet und nach der Ernte entsprechend sortiert (…).«

Nach 157 Seiten ist das Buch zu Ende – doch es werden natürlich nicht nur vier Äpfel gewogen. Im Gegenteil.

»Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich mich ans Jagen erinnern, einen Speer in der Hand, unterwegs in der Savanne. Eine Million Jahre Jagen und Sammeln, achttausend Jahre Landwirt­schaft, neunzig Jahre Supermarkt. Kein Wunder, dass ich verwirrt bin, es ging doch alles ziemlich schnell.«

Genau so, möchte ich mal sagen, haben wir uns das mit dem Verbraucher-Feuilleton immer vorgestellt! Wer David Wagners Buch gelesen hat, wird Supermärkte neu entdecken, anders betreten, besser lieben und besser hassen. Ein Roman für …

1. Archäologen   – Die Liste der verschwundenen Supermarkt-Dinge
2. Archivisten   – Mit Liebeskummer in den Laden
3. Biografen   – Generation Granny Smith
4. Ethnologen   – Sex and the Supermarket
5. Galeristen   – Action Painting, Art Basel, documenta
6. Germanisten   – Wie heißt der Hund von Effi Briest?
7. Kunsthistoriker   – Supermarktpointillismus
8. Politologen   – Der Supermarkt als Apartheids-Regime
9. Psychologen   – Das Kunden-Trennholz
10. Romantiker   – Zum Milchschäumer-Vorführen zu mir
11. Serientäter   – Stromberg – die Supermarkt-Version
12. Soziologen   – Bourdieu auf Lebensmittelbasis
13. Systemtheoretiker   – Kein Shampoo für normales Haar
14. Theologen   – Der Supermarkt als Sündenfall

1. Der Supermarkt für Archäologen

So ein Kundenleben fängt im Einkaufswagen-Kinderklappsitz an. Und hört mit einem Rollator, der gleichzeitig Warenkorb ist, auf. Dazwischen geht in jeder Generation eine ganze Supermarkt-Kultur verschütt. David Wagner (Jg. 1971) hat mal ein paar Dinge ausgegraben, die allein schon, seit wir dabei sind, von der Bildfläche verschwunden sind:

  • der Schutzkarton, der die Zahnpastatube bis zum Paradigmenwechsel zwischen Metall- und Plastiktube umgab (98)
  • Kassenzettel ohne Produktzuordnung der Preise: »es stand ja nichts drauf, nur Zahlen, in einer langen Kolonne untereinander, es fehlte die Information, welcher Preis sich auf welches Produkt bezog« (150)
  • Preisetiketten auf den Produkten: »Am Rand stand DM, das D über dem M und links daneben, in größeren Ziffern, der Preis. (…) Der Umriß dieser Etiketten sah einer bestimmten Sorte von Verbundpflastersteinen ähnlich, die nicht selten vor den Geschäften (…) verlegt waren.« (144 f.)
  • die Etikettierpistole, »die wie eine Weltraumwaffe aussah, aber bloß kleine Preisschilder ausspuckte« (144)
  • »der lange Samstag«! (101)

2. Der Supermarkt für Archivisten

»geträumt, mit meinem Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen zu stoßen, in dem genau die gleichen Lebensmittel liegen wie in meinem.« (13)

Liebeskummer als Lizenz für das enzyklopädische Verfahren – was Moritz Baßler mal zu Stuckrad-Barres »Soloalbum« notierte, gilt auch für den Ich-Erzähler der »Vier Äpfel«. Er kauft ein, und sie ist weg. Und doch mit jedem Griff ins Regal präsent: »dass ich noch immer das Waschpulver kaufe, das L. gekauft hat«. Oder: »meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht.« (69)

L. heißt der Einfachheit halber übrigens wirklich L., also (phonetisch) elle. Vordergründig wird eine gescheiterte Beziehung besungen, hintergründig wandern lauter Dinge ins kulturelle Archiv nach dem Motto: »Zahnpastatreu bin ich nie gewesen«. Und dann folgt ein astreiner Lebenslauf, erzählt anhand von Zahnpastasorten. (99) Popliteratur lebt!

3. Der Supermarkt für Biografen

David Wagners Supermarkt-Inspektion ist DIE apokryphe Schrift zur Generation Golf! Einfach weil die »Vier Äpfel« ein paar Dinge über­liefern, die in den Illies-Evangelien schlichtweg fehlen. Zum Beispiel die Geschichte vom Apfel, der alt wurde.

Ja, Granny Smith (78 f.) war wirklich einmal so ›in‹ wie die 1980er makellos und giftgrün waren. Vielleicht auch nur als »Idee eines Apfels (…) – die Vorstellung, die ein Innenarchitekt von einem Apfel hat, der zu einer reinweißen Einrichtung passen soll«. Und deswegen war, wie David Wagner richtig notiert, Granny Smith natürlich auch die passende Apfel-Marke zu den Esprit und Benetton tragenden Neubaumädchen.

Heute, wo ein Apfel gar nicht streuobstgleich genug sein kann, wirkt der Granny Smith nur noch wie ein Schatten seiner selbst und wird denn auch in der Obsttheke »viel seltener und weniger prominent platziert«. Aber apfelkonsumgeschichtlich war er wahrscheinlich einfach eine notwendige Entwicklungsstufe: Man wollte und musste sich die Emanzipation vom Schrumpelapfel der Eltern und Großeltern leisten, da war ein gefühlter Retorten-Apfel gerade gut genug. Ob Granny Smith genauso Chancen gehabt hätte, wenn wir das mit Oma Schmidt schon damals gewusst hätten:

»Erst anderthalb Jahrzehnte später ist es mir gelungen, das Wort Granny, das ich als eine Kurzform für Großmutter kannte, auch als Bestandteil des Apfelnamens zu verstehen. All die Jahre hatte ich es einfach bloß als einen Klang wahr- und hingenommen (…).«

(Me too.)

4. Der Supermarkt für Ethnologen

Wagners Einkaufs-Ich ist Supermarkt-Single und wird es lange bleiben, denn

»tatsächlich (…) habe ich noch nie jemanden im Supermarkt kennengelernt. Ich habe Bekannte getroffen, ja vielleicht ist mir auch mal die Begleitung eines Bekannten oder der Freund einer Freundin vorgestellt worden, noch nie aber habe ich jemanden einfach so kennengelernt.« (13)

Eigentlich ist der Supermarkt ein absolut flirtfeindlicher Ort. Denn es gehört zur »Konvention des Supermarktverhaltens, (…) alle anderen zu übersehen, durch sie hindurchzublicken« (31).

Aber ein Bereich birgt dann doch so etwas wie Flirt-Potenzial, und das ist die »Kassenbrandung« (allein schon das: ein Wahnsinnswort), also da, wo das Einkaufen ins Bezahlen ausläuft und die Kundenströme in mehr oder weniger starken Wellen aus dem Laden schwappen. Wo die »Kassenloreley (…) über Wellen und Strom auf ihrem Terminalfelsen sitzt«. An ihr zerschellen männliche Kundenfantasien wie ein Ei auf einem Fels. Zumindest, wenn man den seitenlangen Bewusstseins­strom liest, mit dem Wagners Supermarkt-Held sich in eine Art Warteschlangen-Tagtraum hineinmanövriert:

»meine Lieblingskassiererin (…) lächelt mich an, obwohl ich noch gar nicht an der Reihe bin, sie hat mich erkannt. (…) Ich habe mich schon einmal gefragt, ob ich sie mit einer Auswahl besonders ausgefallener Produkte beeindrucken könnte.«

Usw. usf. Irgendwann zieht sie gefällig seine Waren über den Scanner, alles super, und er innerlich schon bei der Frage: »Will es vielleicht mein Schicksal, dass ich heute hier um ihre Hand anhalte? Könnte ich dann endlich L. vergessen?« Da bringt sie den Satz, der einem Flirtstorno gleichkommt. Sie fragt ihn, »ob ich eine Kundenkarte hätte, immer fragt sie mich nach dieser Karte und immer schüttele ich den Kopf«.

Was für ein Moment der Desillusion, bis zum nächsten Einkauf, der ihn wieder glauben macht, in einer besonderen Beziehung zu seiner Lieblingskassiererin zu stehen. So viel fruchtlosen Frauendienst hat man lange nicht gelesen in der deutschen Literatur. Man könnte auch sagen: David Wagner verlegt die Hohe Minne an die Supermarktkasse.

5. Der Supermarkt für Galeristen

»Was sich nicht bewährt, verschwindet aus den Regalen, was sich nicht verkauft, fliegt aus dem Sortiment. Der Supermarkt ist ein Museum der Dinge und Marken, die sich gehalten haben, ja, der zeitgenössischste Ausstellungsraum überhaupt.« (96)

Und von wegen nur Eat Art! In David Wagners Supermarkt ist Action Painting angesagt: »Mit dem rechten Vorderrad meines Einkaufswagens fahre ich nun absichtlich durch den Sahnefleck, ziehe eine dünne Linie auf den Supermarktboden.«

In der Sonderpostenzone lauert das documenta-Déjà-vu: Ein »Stapel weißer Kartons (…), die sich mitten im Gang auftürmen«:

»In ihnen befinden sich Tresore, einer von ihnen steht zur Ansicht. Sieht aus wie einer der kleinen Safes, die in Hotelkleiderschränken eingebaut sind, denke ich und daß ich nicht wüßte, was ich in einen Safe aus dem Supermarkt hineinlegen sollte.«

Sperrige Aktionsware, mit der man wenig anfangen kann? Im Prinzip müsste dieser Turm voller Tresore nur zum Einsturz gebracht werden, dann wäre die documenta-Imitation perfekt. Das Supermarkt-Pendant zur Art Basel kann, schon vom Prestige her, natürlich nur die Frischfischtheke sein:

»Ein ganzer, rauchblau glänzender, gar nicht kleiner Lachs liegt da neben Forellen und Doraden. Die meisten Fische kann ich nur deshalb benennen, weil neben ihnen kleine Schildchen im Eis stecken (…). Es ist also fast wie in einer Gemäldegalerie (…).« (41)

Hier wie dort mag sich die dicksten Fische geschmacklich wie finanziell nicht jeder leisten. Aber nur mal kucken kann ja auch schon schön sein.

6. Der Supermarkt für Germanisten

Ganz genau: Rollo darf hier nicht hinein! Aber es gibt an manchen Unis ja diese berüchtigten Leselisten und Leselisten-Prüfungsfragen à la: »Wie heißt bei Theodor Fontane der Hund von Effi Briest?«

»Literaturwissenschaft auf Kreuzworträtsel-Niveau« nannte das der »Spiegel« damals, und die Fangfrage für das Prüfungsthema »Vier Äpfel« wird einmal sein: »Was kauft David Wagners Ich-Erzähler eigentlich alles ein?« Es sind mitnichten nur vier Äpfel! »Zählen Sie also bitte aus dem Kopf lückenlos alle Produkte auf und bestehen Sie damit die Zwischenprüfung.«

7. Der Supermarkt für Kunsthistoriker

»L. und ich besuchten einmal ein Museum, in dem neben anderen kuriosen Dingen auch alte Konservendosen ausgestellt wurden. Die Exponate durften angefasst werden (…).« (33)

Im Grunde sind Supermärkte, was Vielfalt, Buntheit, Fülle angeht, Wunderkammern! Es begegnen einem:

  • … Parallelexistenzen von Lebensmitteln »in verschiedenen Aggregats­zuständen«: »Erbsen in Dosen und Tiefkühlerbsen und, fast vergessen, weil so unpraktisch, getrocknete Erbsen zum Einweichen vor dem Kochen«
  • … allerlei Assoziationen entlang des kulturellen Archivs: die Tiefkühltruhe als Schneewittchensarg, Spinat als Soylent Green … (17)
  • … und die absolut geniale Idee, dass es eigentlich nur eine ästhetische Form der Supermarktaneignung gibt: »Die Regale um mich herum sind ein einziges verschwommenes Farbenmehr, es bräuchte, so ein Bild könnte mir gefallen, einen Supermarktpointillisten, um sie zu malen«. (106)

Dass Wagner an dieser Stelle des Buches natürlich längst selbst der Supermarkt-Seurat ist, den er einfordert – geschenkt: 144 Kurzkapitel auf 159 Seiten werfen viele kleine Schlaglichter auf das Paradigma Supermarkt. In der Summe vielleicht wirklich so was wie ein pointillistisches Sittengemälde. Alles wird punktuell, quasi im Vorbeigehen und insofern sehr supermarktstimmig erzählt/gemalt.

8. Der Supermarkt für Politologen

Apartheid ist vielleicht das falsche Wort, aber David Wagners Super­markt-Held bekennt sich offensiv zur Warentrennung (Food vs. Non-Food), vor allem zu »den Drogerieartikeln, die ich nie im Supermarkt kaufe, weil ich sie nicht neben Wurst, Zitronen und Honig in meinem Wagen liegen haben will« (93).

Das Verbrauchervolk weiß er dabei auf seiner Seite: »Scheint so, daß es nicht nur mir so geht, viele Kunden trennen diese Einkaufssphären. Wie könnten sonst neben all den Supermärkten so viele Drogerie­märkte existieren?« (93)

9. Der Supermarkt für Psychologen

Schon wieder dieser Psychostress, bei jedem Einkauf die gleiche »beklemmende Verlegenheit«, dem Kunden, der an der Kasse hinter einem kommt, das Ding, für das so viele keinen Namen haben, vor die Waren zu legen!

»Schöner wäre es doch, wenn wir alle gemeinsam einkaufen und essen würden, ein Wunsch, bei dem es sich vermutlich um einen Höhlenatavismus handelt. Ich würde das große, zusammen erlegte Mammut lieber teilen und ein großes Festmahl feiern, statt dessen muss ich kleinlich Warentrenner legen.«

Tja, früher wären solche Typen in Woody-Allen-Filmen untergekommen. Heute werden sie von der Supermarktseelsorge direkt bedient: Bei der Schweizer Coop-Kette (Claim: Für mich und dich) haben sie die Kassen-Toblerone überhaupt nur für Therapiefälle wie ihn bedruckt. Nach der einen Seite steht ein freundliches: »Für mich.« Und nach der anderen: »Für Dich.« Diese Mischung aus Seelen-Wellness und We-are-Family-Marketing, das dürfte die Zukunft sein.

10. Der Supermarkt für Romantiker

David Wagner ist wirklich ein »Proust der Warenwelt« (Wolfgang Schneider/Börsenblatt), was die Poesie von Mangogabeln, Staubsau­gerbeuteln oder Tiefkühltorten angeht. Meine romantische Lieblings­szene aber ist und bleibt das Date mit dem »Chrommilchschäumer« aus dem Sonderpostenregal:

»Zweimal habe ich ihn überhaupt nur benutzt, das erste Mal, als er neu war, das zweite Mal, als L., die ich gerade wiedergetroffen hatte, mit zu mir kam und ich ihr imponieren wollte. Ich stand am Herd und bewegte das Sieb sehr schnell durch die warme Milch auf und ab, so produzierst du also diesen tollen weißen Schaum, sagte L. und lachte und meinte dann, für mich mußt du das nicht machen, ich mag gar keine Milch.« (100)

11. Der Supermarkt für Serientäter

»Angenommen, ich war einmal pro Woche, früher mit meiner Mutter oder Großmutter einkaufen, dann war ich es mit fünfundreißig, fast sechsundreißig schon fünfundreißig-mal-zweiundfünfzig-mal, jedenfalls war ich in meinem Leben schon viel öfter im Supermarkt als in der Kirche.« (63 f.)

Dieses Buch sensibilisiert für so manches, nicht nur für die eigene Supermarkt-Sozialisation (Höllentrip bei Feinkost Zipp als Assoziation zur Wölfin an der Kasse auf S. 149), sondern auch für sämtliche Supermarkt-Beziehungen, die man in seinem Einkaufsleben schon so hatte:

David Wagner erinnert sich »an Rewe, Edeka, Coop, Metro, Aldi, Spar, Superspar, Reichelt, Franprix, Champion, Tesco, Kaisers, Bio Company, Price Chopper, Wal-Mart, Plus, Extra und an einen in Rumänien mit dem für meine Ohren sonderbaren Namen Angst.« (33) Hätte Wagner das Ganze noch ein bisschen umfassender sortiert und kapitelweise präsentiert – Rebecca Casatis Roman über einen Fick durchs Alphabet hätte sich ein Supermarkt-Fetisch-Ableger zugesellt.

Und warum hatten wir eigentlich noch nie eine richtig gute Supermarkt-Soap? Kenne ich nur keine oder gab es auch keine? Im Übrigen bin ich mir sicher, dass ein Stromberg auch als Filialleiter zur Hochform aufgelaufen wäre (im Übrigen hätte auch seine Büro-Jalousie Platz gehabt – kein Marktleiterkabuff ohne diese Spionage-Lamellen!).

Ernie wäre wohl wechselweise für die Pfandflaschenannahme und das Zurückrangieren der Einkaufswagen (vom Parkplatz in den Laden) zuständig. Erika die altgediente »Frischfleischfachkraft« und gute Seele des ganzen Supermarkts, die vertretungsweise auch Kühlregal auffüllen und Kasse kann. Dort säße in der Hauptsache natürlich Tanja, während ihr Ulf die Getränkeabteilung (Biernachschub und so) versorgt, wo er sich so richtig gut mit Ernie zoffen kann, denn der braucht ja immer eine Vertretung an der Leergut-Annahme, wenn er wieder Einkaufswagen einsammelt.

Und Stromberg? Streut jeden Tag Gerüchte, dass der vollautomatische Pfandautomat bald kommt, die Frischfleischtheke in SB umgewandelt wird usw. usf. Kunden? Hätte ein Supermarkt mit der Stromberg-Crew eigentlich kaum noch nötig.

12. Der Supermarkt für Soziologen

»In fremde Einkaufswagen zu starren gilt als ähnlich ungehörig, wie während der Wartezeit an einer roten Ampel in den Innenraum eines in der Nebenspur stehenden Wagens zu sehen.« (135)

Allein schon für diesen Intimsphärenvergleich muss man David Wagner lieben! Zeig mir, was du in den Wagen legst und ich sag dir, wer du bist. Wo bzw. wie sonst sollten sich die feinen Unterschiede besser studieren lassen. Wer zum Beispiel kauft so was:

»Eine Halbliterflasche frischgepresster Kiwi-Orangen-Saft aus der Kühltheke, zwei Fenchelknollen, eine Tüte Biomöhren, zwei Flaschen stilles Wasser mit Orangenaroma und Naturjoghurt im Glas.« (130)

Natürlich, klischeemäßig, eine Frau. Und tendenziell sexy: »ich rieche, ich kenne es, ihr Parfüm. Ich nehme Fahrt auf und eile dem Duft der Frau hinterher.« Anderer Einkaufswagen, andere Kundin. Sie bestellt Leberwurst an der Bedientheke:

»Im Einkaufswagen der Leberwurstfrau liegen zwei Packungen Knäckebrot, Kartoffeln, Margarine und eine Salatgurke. Sieht nicht so aus, als kaufte sie für eine Familie ein. Prompt stelle ich mir vor, wie sie am Abend an ihrem Esstisch im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt und isst, wahrscheinlich gegen sieben, vielleicht auch erst um acht.

Und ich stelle mir weiter vor, wie sie ganz spät in der Nacht, sie kann nicht schlafen und weiß nicht warum, in ihre kleine Küche geht und sich noch einmal eine Scheibe Knäckebrot mit Leberwurst schmiert, die Kaloriengrenze, die sie sich für jeden Tag setzt, hat sie damit wieder weit überschritten, ihr Gewicht zu halten fällt ihr schwer.« (46 f.)

Bei Max Frisch hieß es ja auch immer: »Ich stelle mir vor«, »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«. David Wagner überträgt das Prinzip auf die dritte Person, sein Supermarkt-Held probiert an seinen Mitkunden die Weight-Watchers-Version von »Mein Name sei Gantenbein« aus.

Und auch das ist eine soziologische Erkenntnis: Wer über den Ladenbereich hinaus an Einkaufswagenladungen dranheftet, landet ganz schnell bei den »Randgruppen, die abseits der Supermärkte und ihrer Parkplätze mit Einkaufswagen unterwegs sind« (65).

13. Der Supermarkt für Systemtheoretiker

»Während des Einkaufens entwickelte L. gern Theorien« (75)

Shampoo-Shopping bitte immer nur im Drogeriemarkt (siehe Supermarkt-Apartheid). Und da passiert es: Unter »den hundertneunundachtzig verschiedenen Pflegeprodukten« findet der Erzähler eines Tages sein Stamm-Shampoo nicht mehr (115 f.):

»Wahrscheinlich wurde die Flasche, an deren Aussehen ich mich gerade erst gewöhnt hatte, schon wieder neugestaltet und ich erkenne sie nicht mehr. Aus der Pflegelinie, die ich davor verwendet habe, verschwand eines Tages das Shampoo für normales Haar. Erst dachte ich, es wäre nur nicht da, aber als ich die Woche darauf und später noch einmal und dann auch in anderen Drogeriemärkten danach suchte, fehlte es immer. Es gab das Shampoo für normales Haar nicht mehr.«

Luhmann hat nie über den Supermarkt der Gesellschaft geschrieben, leider. Denn David Wagner gibt allen Anlass für die Frage: Sieht die funktional differenzierte Gesellschaft ein Haarwaschmittel ohne Spezialfunktion überhaupt noch vor?

»Ich hätte mich für eine der Spezifikationen entscheiden müssen, von denen mir aber keine zusagte. Mein Haar braucht weder mehr Volumen noch einen Schutz vor Schuppen, und ich möchte auch kein Shampoo, auf dem ich lesen muß, dass ich sprödes oder schnell fettendes Haar habe. Ich will ein Haarwaschmittel für normales Haar.«

Das Sortiment als autopoietisches System. Ähnliche Auflösungs­erscheinungen des unmarkierten Normalzustands ja auch bei der Palette der ganzen Fleisch-, Kirsch-, Eier- und Cocktail-, Strauch-, Biostrauch-, Biokirsch- usw. -Tomaten (64). Von der Ausdifferenzierung ganzer Subsysteme (siehe wieder oben) ganz zu schweigen:

14. Der Supermarkt als Sündenfall

Das seltsame Verhalten Sahnebecher kaufender Kunden:

»Ich höre ein dumpfes Platschen, schaue auf und sehe, daß ein Becher Schlagsahne auf den Fußboden gefallen und aufgeplatzt ist. Er muß dem Mann mit dem Einkaufskorb vor der Kühltheke aus der Hand gerutscht sein, er sieht betroffen nach unten. Langsam, die Sahne fließt behäbig, wird der weiße Fleck neben seinen schwarzen, glänzenden Schuhen immer größer. Der Mann bückt sich, hebt den tropfenden Behälter auf, schaut sich verstohlen um, stellt ihn zurück ins Kühlregal und nimmt sich einen anderen, unversehrten Becher. Er kontrolliert das Haltbarkeitsdatum (…), legt ihn (…) zu zwei Weinflaschen und einem Radicchio-Salat und entfernt sich (…).« (28)

Eine Schlüsselszene des ganzen Supermarktromans! Aus Sicht der Moral-Theologie auf jeden Fall symptomatisch für die Ursünde aller Super- und modernen Warenmärkte überhaupt: die Anonymität. Anonymität schützt nicht nur Betrugsversuche des Systems Supermarkts am Kunden.

Anonymität deckt auch den Betrug des Kunden am Supermarkt. Und keiner redet hier von Diebstahl! Der zurückgestellte Sahne-Sabberbecher. Der Beutel Mozzarella, der kurz vor der Kasse doch noch auf der Strecke geblieben ist (›Wir machen doch kein Caprese!‹) und jetzt auf dem Sonderpostentisch (zwischen Skisocken!) versauert. Die Flasche Chardonnay, die irgendjemand im Weichspülerregal entsorgt hat. Lauter schöne Supermarkt-Findlinge.

Auch deswegen ist so ein gelegentlicher Supermarkt-Relaunch immer ein Traum: Wenn dann Wiedereröffnung ist und so ein ganzes Sortiment mal wieder kaufsündenfrei auf Kante steht … und kein erratischer Block, nirgends. Wahnsinn! Das Einkaufsparadies.


Vier Nachrufe und ein Todesfall

Konstanz, 7. November 2009, 16:49 | von Marcuccio

Bestattungskultur und Feuilleton, das latente Novemberthema. Todesfall der Woche natürlich Claude Lévi-Strauss (»Strooß« in der Tagesschau des Schweizer Fernsehens; »Strauß« wie Franz Josef in der ARD-Tagesschau). Im Perlentaucher vom Donnerstag hieß es:

»In der FAZ erhält Claude Levi-Strauss ein dreiseitiges Staatsbegräbnis«

Und das war doch mal ein schönes Stück Teaser-Text. Mir gefällt wirklich nur dieses Bild, dieses Bild vom

»FAZ-Gegenstück eines Staatsbegräbnisses«

oder, platztechnisch gesprochen: »Titelfoto und dann ganze drei Feuilletonseiten«.

Und dann fällt mir Volker Hage ein, der neulich (wie angekündigt) sein Spektrometer literaturkritischer Textsorten vorgelegt hat. Das Buch enthält auch vier exemplarische Nekrologe. Wenn man Hages Nachrufe jetzt mal mit der Perlentaucher-Bestattungsmetaphorik kurzschließt, lassen sich folgende Ereignisse rekonstruieren:

Max Frisch († 1991) – bekam seinerzeit auch ein Staatsbegräbnis (4 Seiten in der ZEIT),

Jurek Becker († 1997) – eine ganz normale Erdbestattung (1 Seite im »Spiegel«),

John Updike († 2009) – eine Totenwache bei SPON.

Für Ulrich Plenzdorf († 2007) – aber blieb nur ein anonymes Urnen-Schließfach im »Spiegel«-Register (»Gestorben«).

 


Cinnabon

London, 31. August 2009, 16:13 | von Dique

Lange war ich achtlos an der Cinnabon-Filiale auf dem Queensway vorbeigegangen. Dann sah ich letzte Woche die Stand-up-Show »Chewed Up« von Louis C. K., der darin von diesen fetten Zimtbomben erzählt. Für alle, die wie ich bis vor kurzem keine Ahnung hatten, was ein Cinnabon ist – so beschreibt sie Louis C. K. in his very own words:

»It’s a six-foot high cinnamon-swirled cake made for one sad fat man. Even if you have a vagina, you’re a man if you are eating a Cinnabon. In that moment you are a man!«

Mit diesem Wissen ging ich heute wieder an der erwähnten Cinnabon-Filiale vorbei. Der Laden schien aber nicht wirklich einzuschlagen wie eine Bombe, er war gähnend leer, obwohl er laut Louis C. K. voll mit einer bestimmten Art Mensch sein sollte:

»It’s all dudes like me, or fatter, saying like, oh fuck, I’m getting a Cinnabon.«

Irgendwie ist in letzter Zeit alles Zimt. In Hamburg beim Bäcker gibt es überall Franzbrötchen. Die sehen aus wie überfahrene Croissants, aber eben mit Zimt, und sind tatsächlich Überlebende der napoléonischen Besatzung. Außerdem schaue ich ab und an die amerikanische Show »Man v. Food« mit Adam Richman, die eigentlich richtig fürchterlich ist, denn es geht um lukullisch-prollige Megalomanie. Irgendwann sah ich ihn, wie er ein über zwei Kilo schweres Steak aß und das tatsächlich irgendwie überstand. (Man vs. food! Man won!)

In einer der letzten Folgen war er in Texas, um den schärfsten Burger der Welt zu essen, den bisher nur drei Männer vor ihm schafften und, ohne groß Spannung erzeugen zu wollen, Richman wird der vierte im Bunde. Vorher war er aber noch in einer Bäckerei, in der sie auch Zimtrollen anbieten, nicht die world-famous Cinnabons, sondern eben eine lokale Variante, allerdings so groß und schwer, dass sie niemand allein bewältigen kann. Die Dinger wiegen auch mehrere Kilogramm und beim Anblick all der Butter, des Zuckers und des Zuckergusses wird einem ganz schwindelig.

Obwohl die Cinnabons deutlich kleiner sind als die texanischen Zimtbomben aus »Man v. Food«, musste ich an diese denken, als an mir vorbei eine Frau in die Cinnabon-Filiale schritt. Sie war mit ihrem Freund da und der wollte gar nicht so richtig ran an die Zimtriesen. Dem Akzent nach kam sie aus Amerika und war mit den Cinnabon­freuden anscheinend wohlvertraut, und durch die Scheibe sah ich, wie sie wirklich eine dieser zuckergussig glänzenden Zimtschnecken bestellte.

Und ich musste an Louis C. K. denken, und während die Frau schmatzend den Laden verließ, wurde sie tatsächlich vor meinen Augen zum Mann. Und obwohl ich eigentlich auch mit dem Gedanken gespielt hatte, so einen Cinnabon zu kosten, verging mir der Appetit, und ich bin dann einfach unverrichteter Dinge gegangen, und weil ich den »Economist« schon ausgelesen hatte, habe ich dann doch noch den Weltkriegs-»Spiegel« gekauft, obwohl ich das eigentlich vermeiden wollte. (Man vs. food! Man lost!)


Im »Spiegel« Nr. 22 (25. 5. 2009):
Kurbjuweit über Mißfelder

Paris, 30. Mai 2009, 07:18 | von Paco

Montag am Jardin du Luxembourg gewesen und endlich mal wieder den »Spiegel« gekauft (Nr. 22/2009). Es sollte eigentlich mein Roman für diese Woche werden, doch dann habe ich ihn gleich am Montag ausgelesen gehabt, im südlichen Bereich des Jardin, in der Nähe des triumphierenden Löwen von Auguste Caïn.

Ein komplettes Heft zu lesen, diese unendlich schöne Spiegel-Sprache, war wieder mal ein Moment höchster Erphyllung des Alphabetentums. Und neben der beinharten Titelstory über den Schuss des mittlerweile als Stasimensch enttarnten Polizisten auf Benno Ohnesorg gab es auf den Seiten 68 bis 75 einen weiteren absoluten Hammertext, der hier­mit automatisch für unsere 2009er Feuilleton-Top-Ten nominiert ist:

Der Schattenmann

Niemand hat so zielstrebig Karriere in der CDU
gemacht wie Philipp Mißfelder. Er ist auf dem Weg nach
ganz oben, aber dafür muss er sich ständig der
Kanzlerin anbiedern. Ein Bericht über den Zustand des
Menschen in der Politik. Von Dirk Kurbjuweit

Es ist ein exemplarischer Text über einen neuartigen homme politique. Mißfelder, der derzeitige JU-Vorsitzende, sei als Vertreter dieses Typus »die Zuspitzung, die Verdichtung des politischen Systems«.

Es geht auch um einen Zeitungsmoment, den »Tagesspiegel« vom 3. August 2003, in dem das Interview publiziert wurde, in dem Mißfelder den armen 85-Jährigen keine künstlichen Hüftgelenke auf Staatskosten mehr gönnen wollte. Und es geht um die drei Handys, mit denen der Parvenü ständig hantiert.

Kurbjuweit hat seine Langzeitstudie entlang der These geschrieben: »Die Leere des Menschen könnte bald zu einer Voraussetzung für den Erfolg in der Politik werden.« Und es gab sicher auch schon andere Texte über dieses Thema, Klagen über eine austauschbare, leiden­schaftslose Politikergeneration. Aber die Exemplarik des Kurbjuweit-Textes ist atemberaubend. Nie wieder muss jemand dieses Thema beackern, ein Link auf Kurbjuweit wird in Zukunft völlig ausreichen.

Usw.


Endlich verstehen:
Das Inhaltsverzeichnis des »Spiegel«

Konstanz, 4. März 2009, 22:12 | von Marcuccio

Nach welchem Prinzip rubriziert sich eigentlich der Inhalt in unser aller Nachrichtenmagazin? Oder anders gefragt: Was ist »Rund­funkfreiheit«: ein Kulturgut oder ein Medienrecht? Sonderbarer­weise hat der »Spiegel« dieser Woche (10/2009) den wichtigen Beitrag mit der herrlichen (wenn auch nur recycelten) Überschrift »Mainz bleibt meins« (S. 144 ff.) nämlich nicht als »Medien«-Thema gebracht, sondern in die »Kultur« gesteckt. Obwohl der Teaser-Text ja durchaus aufs »Medien«-Ressort schließen ließ, wo der Artikel über die ZDF-Personalie auch besser platziert gewesen wäre. Das Ganze lässt mindestens vier Interpretationen zu:

1. Der »Spiegel« feiert Fasnacht nach, aber den Aprilscherz vor. »Mainz bleibt meins« wäre dann (ähnlich wie der Basler Morgestraich) ein verspäteter Karnevalsbeitrag und als journalistisches »Brauchtum« im weitesten Sinne, natürlich, Kultur.

2. Die Rundfunkfreiheit ist ein so bedrohtes Kulturgut, dass sie jetzt tatsächlich am besten per Kulturkampf gegen den Parteien-Proporz verteidigt wird (in diesem Sinne ja auch Schirrmachers Feuilleton-Aufmacher neulich in der FAS).

3. Man brauchte im Kulturteil noch einen Aufmacher, und im Medien-Ressort hatte man schon Mathias Döpfner. Unwahrscheinlich! Denn in schlechteren »Spiegel«-Wochen haben es auch schon drei Kultur-Seiten Tracey Emin zum Aufmacher geschafft. Und wer sagt eigentlich, dass der Medien-Teil nicht mehr als einen ordentlichen Artikel haben darf.

4. Nicht die Sparten, sondern die Spalten sortieren den »Spiegel«. Genauer gesagt: Die Spalten im Inhaltsverzeichnis bestimmen die Ressort-Bestückung im »Spiegel«. Denn die zweite Außenbahn des Inhaltsverzeichnisses, oben rechts, soll vermutlich immer rotbalkig, also mit einem neuen Ressort beginnen. Ressort-Enjambements über den Seitenumbruch sind nicht vorgesehen, und auf der linken Außenbahn ganz unten scheint es diese Woche ganz so, als sei bei den »Medien« layouttechnisch schlicht kein Platz mehr gewesen.

Wahrscheinlich ist die willkürlich scheinende Themen-Rubrizierung aber einfach pure Avantgarde, hehe.


Volker Hages Kehlmann-Artikel vor Gericht

Konstanz, 6. Februar 2009, 17:27 | von Marcuccio

Literaturkritiker kennen sich aus im Gerichtssaal: Sie sind Ankläger und Anwälte der Literatur, fällen Urteile und gelten schon mal als »Dorfrichter Adam der Literaturszene« (Jochen Hörisch über MRR).

Aber wie gut kennen sich Gerichte eigentlich in der Literaturkritik aus? Danach fragt dieser Tage komischerweise keiner. Der Rowohlt-Verlag verklagt den »Spiegel« wegen Missachtung der Sperrfrist bezüglich des neuen Kehlmann-Buchs – eine Vertraulichkeits­erklärung hatte alle Empfänger eines Vorabexemplars verpflichtet, keine Besprechung vor dem 16. Januar zu veröffentlichen.

Die Feuilletons berichteten, am scharf­sinnigsten vielleicht die »Welt«, die feststellte, dass der Streitwert sicher nicht der vollen Konventionalstrafe (250.000 Euro) entspricht, »weil sich die verhohlene ›Ruhm‹-Rezension als Porträt tarnt. Insofern wird das Gericht sich auch zur Trennschärfe zwischen journalistischen Genres äußern müssen«.

Wohl wahr. Hochrichterlich verhandelt werden wird und muss also, zu welchen Teilen Volker Hage mit seinem Artikel eine Rezension und zu welchen Teilen er ein Porträt verfasst hat. Damit hat das Gericht etwas zu klären, was nicht mal innerhalb der Literatur­berichterstattung selbst klar ist, denn die Grenzen zwischen Personality und echter Kritik sind ja seit Jahren eigentlich an vielen Stellen fließend. Auch eine spezifische Genre-Theorie der Literatur­berichterstattung existiert bislang nicht, es gibt so gut wie keine Fachliteratur zum Thema.

Das Pikante an der Sache: Ausgerechnet (der symbolisch angeklagte) Volker Hage könnte vom Gericht nun als Sachver­ständiger, als Gutachter seiner selbst herangezogen werden. Für den August ist bei Suhrkamp nämlich sein Kompendium über »das breite Spektrum journalistischer Beschäftigung mit Literatur« angekündigt.

Und egal wie das Urteil ausfällt, die schriftliche Urteils­begründung wird ein prima Plädoyer für Hages Buch über Literatur­journalismus sein – die »Tätigkeit, die sich keineswegs nur auf das Rezensieren von Büchern beschränkt, sondern zugleich Textformen wie Porträt, Interview, Glosse, Leitartikel, Debatten­beiträge oder Nachrufe umfaßt. Ein solcher Leitfaden – nicht zuletzt für Studenten und Journalistenschüler – hat bisher gefehlt.« (Kurzbeschreibung)

Wenn sich das Gericht zur Prüfung der täterlichen Genre-Tatsachen jetzt nicht sofort ein Vorabexemplar kommen lässt, dann weiß ich auch nicht.

Und was ist eigentlich mit der FAS? Immerhin erschien der große Kehlmann-Report (in der Nr. 2/2009 vom 11. Januar) ja auch vor dem Erstverkaufstag 16. 1. – was die Frage aufwirft, ob hier entweder eigene Sperrfristen galten oder ob es mit der Institution Erstverkaufstag sowieso nicht so weit her ist, wie Rowohlt behauptet. Das Thema Sperrfrist brodelt also weiter – siehe auch den PT-Essay von Ekkehard Knörer.


Pflicht und Kür im Gedenkfeuilleton

Konstanz, 22. Januar 2009, 15:25 | von Marcuccio

Frankfurt, wir haben ein Problem. Die Kalenderfeuilleton-Novelle. Seit dem 5. Januar werden die Geburtstagsartikel einer FAZ-Woche immer montags auf der Feuilleton-Rückseite gebündelt, Todesnachrichten und andere wichtige Jubiläen bleiben weiterhin tagesaktuell vorn bei den Kollegen im Frontoffice.

Und gleich zum Auftakt dieser Patzer:

»Herwig Birg, dem großen Warner vor den Folgen der geburtenarmen und darum überalterten Gesellschaft, ist von uns gestern zum sechzigsten Geburtstag gratuliert worden. Er beging jedoch seinen siebzigsten. Wir bedauern den Fehler.« (FAZ vom 6. Januar)

Bürokratieabbau geht anders. Mag sich die FAS schon mal zwei Tage vor Inkrafttreten der neuen Jubiläumsartikel-Verwaltungs­richtlinie bei der FAZ gedacht haben und zeigte uns allen, wie es geht:

»So wird 2009 gewesen sein«
(FAS Nr. 1/2009 vom 4. Januar, S. 23)

Das war die Seite mit dem riesenroten Fake-»Spiegel«-Cover von der herrlichen Kat Menschik: eine zum Entkorken bereite Rotkäppchen-Sektflasche, darunter die Titel-Schlagzeile, die uns dieses Jahr in abgewandelter Form sicher noch blüht:

»Die Besser-Ossis. 20 Jahre nach dem Mauerfall:
Wo die Ossis die Nase vorn haben«

Im vorangehenden, echten »Spiegel« (Nr. 1/2009) stand ja diese Prosit-Mauerfall-Story (von und mit Matthias Matussek, S. 38-41), im Inhalt unter dem Rubrum

»Unternehmen: Die Sektkellerei Rotkäppchen
startet ins Jubiläumsjahr des Mauerfalls«

Außerdem enthielt dieses Heft das ominöse Nachrichten-Horoskop (»Was läuft 2009«). Bei der FAS muss man all das zusammenge­dacht haben, und statt der Jubiläumsartikel-Pflicht der FAZ gab es die Kür:

»Die wichtigsten Jubiläen des Jahres und wie
die Medien darauf reagieren werden«

Eine witzig-kreative Meta-Parade auf den Berichterstattungswahn zu runden Anlässen. Lauter Preziosen waren das, Thea Dorn als Running Gag und auch sonst viele feine Ideen, auf die der Umblätterer dann vielleicht mal unterm Jahr zurückkommen wird: »Aus Frankfurt nun die FAS-Jubiläumsvorhersage für morgen Mittwoch, den 500. Krönungstag von Heinrich VIII.«

Usw.


Nach dem Krieg

London, 21. November 2008, 13:22 | von Dique

Keiner hatte mehr damit gerechnet, aber Pacos »Aspects of Die Wohlgesinnten« hat jetzt nach 10 Teilen doch noch ein Ende gefunden. Passend dazu lese ich gerade endlich Dicks »The Man in the High Castle«, und da gibt es ja das alternative history book (»The Grasshopper Lies Heavy«) im alternative history book, in dem jemand beschreibt, wie die Welt wäre, wenn denn die Deutschen nicht den Krieg gewonnen hätten. Darauf sagt dann irgendein Ami (Wyndam-Matson) zu seiner Freundin, die von dem Buch begeistert ist:

No strategy on earth could have
defeated Erwin Rommel.

Doch eigentlich inspirierte mich zur Lektüre des Buches der letzte Roman von Christian Kracht, denn das Reduit ist ja wohl das High Castle der High Castles.

Den immer noch aktuellen »Spiegel« (47/2008) habe ich auch noch gelesen, gleich zuerst die Titelstory über die Weltkrise. Das Gute ist, dass dieser Titel das beste Zeichen dafür ist, dass die Krise bald vorbei ist. Denn auf den großen Ausbruch von Ebola warte ich auch schon seit Anfang der 90er, und nach den damaligen »Spiegel«-Artikeln zu urteilen, war es nur eine Frage von Monaten, hehe, also bleibt dieses Mal hoffentlich auch der richtig große Crash, der noch kommt, aus.

Dann habe ich diese Woche tatsächlich noch ein paar Fantômas-Filme gekuckt, aber lange hält man das nicht aus.

Dann noch den neuen Bond. Daniel Craig ist der schlechteste Bond ever, der Beckham-Bond oder einfach Proll-Bond, ohne Witz, ohne Charme und ohne Bond, der ganze Film erscheint wie ein ultra-schlechter Teil der »Bourne«-Reihe. Da sind auch noch die letzten Bond-Elemente herausgewaschen worden.

Dann war ich eben noch in der neuen Ausstellung der National Gallery, »Renaissance Faces: Van Eyck to Titian«. Das ist ein bisschen ein Nepp, weil zwei Drittel der Bilder eh in der NG hängen, aber wie schreibt Brian Sewell richtig in seiner ES-Kolumne:

no matter how many times we have all paused to examine Holbein’s Ambassadors and Jan Van Eyck’s Mr and Mrs Arnolfini with Fido at their Feet, we shall still find something in them.

Natürlich gibt es auch ein paar neue Stücke zu sehen, einen ganz neuen Pontormo zum Beispiel, sehr schönes Ding und schaffte es auf das Cover des aktuellen »Burlington Magazines«. Und dann noch, wenn auch nicht neu, mal wieder das vermeintliche Eyck-Selbstportrait mit rotem Turban. Der Turban ist einfach mal der Wahnsinn, das Bild hängt ja auch offiziell in der NG, und ich kenne es ganz gut, aber heute habe ich einfach diesen Turban gefeiert.

Dann noch »Headlong« von Michael Frayn zu Ende gelesen und für gut befunden, die letzten 400 Seiten des 400-seitigen Buches las ich nahezu in einem Rutsch. Ein Roman über einen Typen, der einen Bruegel findet oder vielleicht auch nicht, jedenfalls tief in das Thema eindringt, und damit bekommt diese Fiktion einen breiten sachbuchigen Hintergrund über niederländische Malerei und natürlich Bruegel im Besonderen.

Das Buch ordnet sich wunderbar ein zwischen Philip Moulds »Sleepers« und Jonathan Harrs »The Lost Painting«, den beiden anderen großen Büchern über die Lust am Finden verschollener Altmeistergemälde.

Usw.