Der Kaufland-Tip mit seiner 19-Millionen-Auflage kann doch nicht alles sein, was wir über Supermärkte zu lesen bekommen. Mag sich David Wagner gedacht haben und legt »Vier Äpfel« vor – Deutschlands ersten Supermarkt-Roman.
Der Plot ist schnell erzählt: David Wagner kauft sich keine nachtblaue Hose, wiegt aber vier Äpfel ab. Die bringen exakt 1000 Gramm auf die Kundenwaage – und den Gedanken: »Vielleicht ist heute ein besonderer Tag.« Nach 77 Seiten stellt sich heraus:
»Wahrscheinlich ist heute doch kein besonderer Tag, denn daß vier Supermarktäpfel zusammen genau tausend Gramm wiegen, kommt bestimmt gar nicht so selten vor. Äpfel werden sicher auf dieses Gewicht hin gezüchtet und nach der Ernte entsprechend sortiert (…).«
Nach 157 Seiten ist das Buch zu Ende – doch es werden natürlich nicht nur vier Äpfel gewogen. Im Gegenteil.
»Manchmal kommt es mir so vor, als könnte ich mich ans Jagen erinnern, einen Speer in der Hand, unterwegs in der Savanne. Eine Million Jahre Jagen und Sammeln, achttausend Jahre Landwirtschaft, neunzig Jahre Supermarkt. Kein Wunder, dass ich verwirrt bin, es ging doch alles ziemlich schnell.«
Genau so, möchte ich mal sagen, haben wir uns das mit dem Verbraucher-Feuilleton immer vorgestellt! Wer David Wagners Buch gelesen hat, wird Supermärkte neu entdecken, anders betreten, besser lieben und besser hassen. Ein Roman für …
1. Archäologen – Die Liste der verschwundenen Supermarkt-Dinge
2. Archivisten – Mit Liebeskummer in den Laden
3. Biografen – Generation Granny Smith
4. Ethnologen – Sex and the Supermarket
5. Galeristen – Action Painting, Art Basel, documenta
6. Germanisten – Wie heißt der Hund von Effi Briest?
7. Kunsthistoriker – Supermarktpointillismus
8. Politologen – Der Supermarkt als Apartheids-Regime
9. Psychologen – Das Kunden-Trennholz
10. Romantiker – Zum Milchschäumer-Vorführen zu mir
11. Serientäter – Stromberg – die Supermarkt-Version
12. Soziologen – Bourdieu auf Lebensmittelbasis
13. Systemtheoretiker – Kein Shampoo für normales Haar
14. Theologen – Der Supermarkt als Sündenfall
1. Der Supermarkt für Archäologen
So ein Kundenleben fängt im Einkaufswagen-Kinderklappsitz an. Und hört mit einem Rollator, der gleichzeitig Warenkorb ist, auf. Dazwischen geht in jeder Generation eine ganze Supermarkt-Kultur verschütt. David Wagner (Jg. 1971) hat mal ein paar Dinge ausgegraben, die allein schon, seit wir dabei sind, von der Bildfläche verschwunden sind:
- der Schutzkarton, der die Zahnpastatube bis zum Paradigmenwechsel zwischen Metall- und Plastiktube umgab (98)
- Kassenzettel ohne Produktzuordnung der Preise: »es stand ja nichts drauf, nur Zahlen, in einer langen Kolonne untereinander, es fehlte die Information, welcher Preis sich auf welches Produkt bezog« (150)
- Preisetiketten auf den Produkten: »Am Rand stand DM, das D über dem M und links daneben, in größeren Ziffern, der Preis. (…) Der Umriß dieser Etiketten sah einer bestimmten Sorte von Verbundpflastersteinen ähnlich, die nicht selten vor den Geschäften (…) verlegt waren.« (144 f.)
- die Etikettierpistole, »die wie eine Weltraumwaffe aussah, aber bloß kleine Preisschilder ausspuckte« (144)
- »der lange Samstag«! (101)
2. Der Supermarkt für Archivisten
»geträumt, mit meinem Einkaufswagen gegen einen anderen Einkaufswagen zu stoßen, in dem genau die gleichen Lebensmittel liegen wie in meinem.« (13)
Liebeskummer als Lizenz für das enzyklopädische Verfahren – was Moritz Baßler mal zu Stuckrad-Barres »Soloalbum« notierte, gilt auch für den Ich-Erzähler der »Vier Äpfel«. Er kauft ein, und sie ist weg. Und doch mit jedem Griff ins Regal präsent: »dass ich noch immer das Waschpulver kaufe, das L. gekauft hat«. Oder: »meine Marken sind noch bei mir, L. ist es nicht.« (69)
L. heißt der Einfachheit halber übrigens wirklich L., also (phonetisch) elle. Vordergründig wird eine gescheiterte Beziehung besungen, hintergründig wandern lauter Dinge ins kulturelle Archiv nach dem Motto: »Zahnpastatreu bin ich nie gewesen«. Und dann folgt ein astreiner Lebenslauf, erzählt anhand von Zahnpastasorten. (99) Popliteratur lebt!
3. Der Supermarkt für Biografen
David Wagners Supermarkt-Inspektion ist DIE apokryphe Schrift zur Generation Golf! Einfach weil die »Vier Äpfel« ein paar Dinge überliefern, die in den Illies-Evangelien schlichtweg fehlen. Zum Beispiel die Geschichte vom Apfel, der alt wurde.
Ja, Granny Smith (78 f.) war wirklich einmal so ›in‹ wie die 1980er makellos und giftgrün waren. Vielleicht auch nur als »Idee eines Apfels (…) – die Vorstellung, die ein Innenarchitekt von einem Apfel hat, der zu einer reinweißen Einrichtung passen soll«. Und deswegen war, wie David Wagner richtig notiert, Granny Smith natürlich auch die passende Apfel-Marke zu den Esprit und Benetton tragenden Neubaumädchen.
Heute, wo ein Apfel gar nicht streuobstgleich genug sein kann, wirkt der Granny Smith nur noch wie ein Schatten seiner selbst und wird denn auch in der Obsttheke »viel seltener und weniger prominent platziert«. Aber apfelkonsumgeschichtlich war er wahrscheinlich einfach eine notwendige Entwicklungsstufe: Man wollte und musste sich die Emanzipation vom Schrumpelapfel der Eltern und Großeltern leisten, da war ein gefühlter Retorten-Apfel gerade gut genug. Ob Granny Smith genauso Chancen gehabt hätte, wenn wir das mit Oma Schmidt schon damals gewusst hätten:
»Erst anderthalb Jahrzehnte später ist es mir gelungen, das Wort Granny, das ich als eine Kurzform für Großmutter kannte, auch als Bestandteil des Apfelnamens zu verstehen. All die Jahre hatte ich es einfach bloß als einen Klang wahr- und hingenommen (…).«
(Me too.)
4. Der Supermarkt für Ethnologen
Wagners Einkaufs-Ich ist Supermarkt-Single und wird es lange bleiben, denn
»tatsächlich (…) habe ich noch nie jemanden im Supermarkt kennengelernt. Ich habe Bekannte getroffen, ja vielleicht ist mir auch mal die Begleitung eines Bekannten oder der Freund einer Freundin vorgestellt worden, noch nie aber habe ich jemanden einfach so kennengelernt.« (13)
Eigentlich ist der Supermarkt ein absolut flirtfeindlicher Ort. Denn es gehört zur »Konvention des Supermarktverhaltens, (…) alle anderen zu übersehen, durch sie hindurchzublicken« (31).
Aber ein Bereich birgt dann doch so etwas wie Flirt-Potenzial, und das ist die »Kassenbrandung« (allein schon das: ein Wahnsinnswort), also da, wo das Einkaufen ins Bezahlen ausläuft und die Kundenströme in mehr oder weniger starken Wellen aus dem Laden schwappen. Wo die »Kassenloreley (…) über Wellen und Strom auf ihrem Terminalfelsen sitzt«. An ihr zerschellen männliche Kundenfantasien wie ein Ei auf einem Fels. Zumindest, wenn man den seitenlangen Bewusstseinsstrom liest, mit dem Wagners Supermarkt-Held sich in eine Art Warteschlangen-Tagtraum hineinmanövriert:
»meine Lieblingskassiererin (…) lächelt mich an, obwohl ich noch gar nicht an der Reihe bin, sie hat mich erkannt. (…) Ich habe mich schon einmal gefragt, ob ich sie mit einer Auswahl besonders ausgefallener Produkte beeindrucken könnte.«
Usw. usf. Irgendwann zieht sie gefällig seine Waren über den Scanner, alles super, und er innerlich schon bei der Frage: »Will es vielleicht mein Schicksal, dass ich heute hier um ihre Hand anhalte? Könnte ich dann endlich L. vergessen?« Da bringt sie den Satz, der einem Flirtstorno gleichkommt. Sie fragt ihn, »ob ich eine Kundenkarte hätte, immer fragt sie mich nach dieser Karte und immer schüttele ich den Kopf«.
Was für ein Moment der Desillusion, bis zum nächsten Einkauf, der ihn wieder glauben macht, in einer besonderen Beziehung zu seiner Lieblingskassiererin zu stehen. So viel fruchtlosen Frauendienst hat man lange nicht gelesen in der deutschen Literatur. Man könnte auch sagen: David Wagner verlegt die Hohe Minne an die Supermarktkasse.
5. Der Supermarkt für Galeristen
»Was sich nicht bewährt, verschwindet aus den Regalen, was sich nicht verkauft, fliegt aus dem Sortiment. Der Supermarkt ist ein Museum der Dinge und Marken, die sich gehalten haben, ja, der zeitgenössischste Ausstellungsraum überhaupt.« (96)
Und von wegen nur Eat Art! In David Wagners Supermarkt ist Action Painting angesagt: »Mit dem rechten Vorderrad meines Einkaufswagens fahre ich nun absichtlich durch den Sahnefleck, ziehe eine dünne Linie auf den Supermarktboden.«
In der Sonderpostenzone lauert das documenta-Déjà-vu: Ein »Stapel weißer Kartons (…), die sich mitten im Gang auftürmen«:
»In ihnen befinden sich Tresore, einer von ihnen steht zur Ansicht. Sieht aus wie einer der kleinen Safes, die in Hotelkleiderschränken eingebaut sind, denke ich und daß ich nicht wüßte, was ich in einen Safe aus dem Supermarkt hineinlegen sollte.«
Sperrige Aktionsware, mit der man wenig anfangen kann? Im Prinzip müsste dieser Turm voller Tresore nur zum Einsturz gebracht werden, dann wäre die documenta-Imitation perfekt. Das Supermarkt-Pendant zur Art Basel kann, schon vom Prestige her, natürlich nur die Frischfischtheke sein:
»Ein ganzer, rauchblau glänzender, gar nicht kleiner Lachs liegt da neben Forellen und Doraden. Die meisten Fische kann ich nur deshalb benennen, weil neben ihnen kleine Schildchen im Eis stecken (…). Es ist also fast wie in einer Gemäldegalerie (…).« (41)
Hier wie dort mag sich die dicksten Fische geschmacklich wie finanziell nicht jeder leisten. Aber nur mal kucken kann ja auch schon schön sein.
6. Der Supermarkt für Germanisten
Ganz genau: Rollo darf hier nicht hinein! Aber es gibt an manchen Unis ja diese berüchtigten Leselisten und Leselisten-Prüfungsfragen à la: »Wie heißt bei Theodor Fontane der Hund von Effi Briest?«
»Literaturwissenschaft auf Kreuzworträtsel-Niveau« nannte das der »Spiegel« damals, und die Fangfrage für das Prüfungsthema »Vier Äpfel« wird einmal sein: »Was kauft David Wagners Ich-Erzähler eigentlich alles ein?« Es sind mitnichten nur vier Äpfel! »Zählen Sie also bitte aus dem Kopf lückenlos alle Produkte auf und bestehen Sie damit die Zwischenprüfung.«
7. Der Supermarkt für Kunsthistoriker
»L. und ich besuchten einmal ein Museum, in dem neben anderen kuriosen Dingen auch alte Konservendosen ausgestellt wurden. Die Exponate durften angefasst werden (…).« (33)
Im Grunde sind Supermärkte, was Vielfalt, Buntheit, Fülle angeht, Wunderkammern! Es begegnen einem:
- … Parallelexistenzen von Lebensmitteln »in verschiedenen Aggregatszuständen«: »Erbsen in Dosen und Tiefkühlerbsen und, fast vergessen, weil so unpraktisch, getrocknete Erbsen zum Einweichen vor dem Kochen«
- … allerlei Assoziationen entlang des kulturellen Archivs: die Tiefkühltruhe als Schneewittchensarg, Spinat als Soylent Green … (17)
- … und die absolut geniale Idee, dass es eigentlich nur eine ästhetische Form der Supermarktaneignung gibt: »Die Regale um mich herum sind ein einziges verschwommenes Farbenmehr, es bräuchte, so ein Bild könnte mir gefallen, einen Supermarktpointillisten, um sie zu malen«. (106)
Dass Wagner an dieser Stelle des Buches natürlich längst selbst der Supermarkt-Seurat ist, den er einfordert – geschenkt: 144 Kurzkapitel auf 159 Seiten werfen viele kleine Schlaglichter auf das Paradigma Supermarkt. In der Summe vielleicht wirklich so was wie ein pointillistisches Sittengemälde. Alles wird punktuell, quasi im Vorbeigehen und insofern sehr supermarktstimmig erzählt/gemalt.
8. Der Supermarkt für Politologen
Apartheid ist vielleicht das falsche Wort, aber David Wagners Supermarkt-Held bekennt sich offensiv zur Warentrennung (Food vs. Non-Food), vor allem zu »den Drogerieartikeln, die ich nie im Supermarkt kaufe, weil ich sie nicht neben Wurst, Zitronen und Honig in meinem Wagen liegen haben will« (93).
Das Verbrauchervolk weiß er dabei auf seiner Seite: »Scheint so, daß es nicht nur mir so geht, viele Kunden trennen diese Einkaufssphären. Wie könnten sonst neben all den Supermärkten so viele Drogeriemärkte existieren?« (93)
9. Der Supermarkt für Psychologen
Schon wieder dieser Psychostress, bei jedem Einkauf die gleiche »beklemmende Verlegenheit«, dem Kunden, der an der Kasse hinter einem kommt, das Ding, für das so viele keinen Namen haben, vor die Waren zu legen!
»Schöner wäre es doch, wenn wir alle gemeinsam einkaufen und essen würden, ein Wunsch, bei dem es sich vermutlich um einen Höhlenatavismus handelt. Ich würde das große, zusammen erlegte Mammut lieber teilen und ein großes Festmahl feiern, statt dessen muss ich kleinlich Warentrenner legen.«
Tja, früher wären solche Typen in Woody-Allen-Filmen untergekommen. Heute werden sie von der Supermarktseelsorge direkt bedient: Bei der Schweizer Coop-Kette (Claim: Für mich und dich) haben sie die Kassen-Toblerone überhaupt nur für Therapiefälle wie ihn bedruckt. Nach der einen Seite steht ein freundliches: »Für mich.« Und nach der anderen: »Für Dich.« Diese Mischung aus Seelen-Wellness und We-are-Family-Marketing, das dürfte die Zukunft sein.
10. Der Supermarkt für Romantiker
David Wagner ist wirklich ein »Proust der Warenwelt« (Wolfgang Schneider/Börsenblatt), was die Poesie von Mangogabeln, Staubsaugerbeuteln oder Tiefkühltorten angeht. Meine romantische Lieblingsszene aber ist und bleibt das Date mit dem »Chrommilchschäumer« aus dem Sonderpostenregal:
»Zweimal habe ich ihn überhaupt nur benutzt, das erste Mal, als er neu war, das zweite Mal, als L., die ich gerade wiedergetroffen hatte, mit zu mir kam und ich ihr imponieren wollte. Ich stand am Herd und bewegte das Sieb sehr schnell durch die warme Milch auf und ab, so produzierst du also diesen tollen weißen Schaum, sagte L. und lachte und meinte dann, für mich mußt du das nicht machen, ich mag gar keine Milch.« (100)
11. Der Supermarkt für Serientäter
»Angenommen, ich war einmal pro Woche, früher mit meiner Mutter oder Großmutter einkaufen, dann war ich es mit fünfundreißig, fast sechsundreißig schon fünfundreißig-mal-zweiundfünfzig-mal, jedenfalls war ich in meinem Leben schon viel öfter im Supermarkt als in der Kirche.« (63 f.)
Dieses Buch sensibilisiert für so manches, nicht nur für die eigene Supermarkt-Sozialisation (Höllentrip bei Feinkost Zipp als Assoziation zur Wölfin an der Kasse auf S. 149), sondern auch für sämtliche Supermarkt-Beziehungen, die man in seinem Einkaufsleben schon so hatte:
David Wagner erinnert sich »an Rewe, Edeka, Coop, Metro, Aldi, Spar, Superspar, Reichelt, Franprix, Champion, Tesco, Kaisers, Bio Company, Price Chopper, Wal-Mart, Plus, Extra und an einen in Rumänien mit dem für meine Ohren sonderbaren Namen Angst.« (33) Hätte Wagner das Ganze noch ein bisschen umfassender sortiert und kapitelweise präsentiert – Rebecca Casatis Roman über einen Fick durchs Alphabet hätte sich ein Supermarkt-Fetisch-Ableger zugesellt.
Und warum hatten wir eigentlich noch nie eine richtig gute Supermarkt-Soap? Kenne ich nur keine oder gab es auch keine? Im Übrigen bin ich mir sicher, dass ein Stromberg auch als Filialleiter zur Hochform aufgelaufen wäre (im Übrigen hätte auch seine Büro-Jalousie Platz gehabt – kein Marktleiterkabuff ohne diese Spionage-Lamellen!).
Ernie wäre wohl wechselweise für die Pfandflaschenannahme und das Zurückrangieren der Einkaufswagen (vom Parkplatz in den Laden) zuständig. Erika die altgediente »Frischfleischfachkraft« und gute Seele des ganzen Supermarkts, die vertretungsweise auch Kühlregal auffüllen und Kasse kann. Dort säße in der Hauptsache natürlich Tanja, während ihr Ulf die Getränkeabteilung (Biernachschub und so) versorgt, wo er sich so richtig gut mit Ernie zoffen kann, denn der braucht ja immer eine Vertretung an der Leergut-Annahme, wenn er wieder Einkaufswagen einsammelt.
Und Stromberg? Streut jeden Tag Gerüchte, dass der vollautomatische Pfandautomat bald kommt, die Frischfleischtheke in SB umgewandelt wird usw. usf. Kunden? Hätte ein Supermarkt mit der Stromberg-Crew eigentlich kaum noch nötig.
12. Der Supermarkt für Soziologen
»In fremde Einkaufswagen zu starren gilt als ähnlich ungehörig, wie während der Wartezeit an einer roten Ampel in den Innenraum eines in der Nebenspur stehenden Wagens zu sehen.« (135)
Allein schon für diesen Intimsphärenvergleich muss man David Wagner lieben! Zeig mir, was du in den Wagen legst und ich sag dir, wer du bist. Wo bzw. wie sonst sollten sich die feinen Unterschiede besser studieren lassen. Wer zum Beispiel kauft so was:
»Eine Halbliterflasche frischgepresster Kiwi-Orangen-Saft aus der Kühltheke, zwei Fenchelknollen, eine Tüte Biomöhren, zwei Flaschen stilles Wasser mit Orangenaroma und Naturjoghurt im Glas.« (130)
Natürlich, klischeemäßig, eine Frau. Und tendenziell sexy: »ich rieche, ich kenne es, ihr Parfüm. Ich nehme Fahrt auf und eile dem Duft der Frau hinterher.« Anderer Einkaufswagen, andere Kundin. Sie bestellt Leberwurst an der Bedientheke:
»Im Einkaufswagen der Leberwurstfrau liegen zwei Packungen Knäckebrot, Kartoffeln, Margarine und eine Salatgurke. Sieht nicht so aus, als kaufte sie für eine Familie ein. Prompt stelle ich mir vor, wie sie am Abend an ihrem Esstisch im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt und isst, wahrscheinlich gegen sieben, vielleicht auch erst um acht.
Und ich stelle mir weiter vor, wie sie ganz spät in der Nacht, sie kann nicht schlafen und weiß nicht warum, in ihre kleine Küche geht und sich noch einmal eine Scheibe Knäckebrot mit Leberwurst schmiert, die Kaloriengrenze, die sie sich für jeden Tag setzt, hat sie damit wieder weit überschritten, ihr Gewicht zu halten fällt ihr schwer.« (46 f.)
Bei Max Frisch hieß es ja auch immer: »Ich stelle mir vor«, »Ich probiere Geschichten an wie Kleider«. David Wagner überträgt das Prinzip auf die dritte Person, sein Supermarkt-Held probiert an seinen Mitkunden die Weight-Watchers-Version von »Mein Name sei Gantenbein« aus.
Und auch das ist eine soziologische Erkenntnis: Wer über den Ladenbereich hinaus an Einkaufswagenladungen dranheftet, landet ganz schnell bei den »Randgruppen, die abseits der Supermärkte und ihrer Parkplätze mit Einkaufswagen unterwegs sind« (65).
13. Der Supermarkt für Systemtheoretiker
»Während des Einkaufens entwickelte L. gern Theorien« (75)
Shampoo-Shopping bitte immer nur im Drogeriemarkt (siehe Supermarkt-Apartheid). Und da passiert es: Unter »den hundertneunundachtzig verschiedenen Pflegeprodukten« findet der Erzähler eines Tages sein Stamm-Shampoo nicht mehr (115 f.):
»Wahrscheinlich wurde die Flasche, an deren Aussehen ich mich gerade erst gewöhnt hatte, schon wieder neugestaltet und ich erkenne sie nicht mehr. Aus der Pflegelinie, die ich davor verwendet habe, verschwand eines Tages das Shampoo für normales Haar. Erst dachte ich, es wäre nur nicht da, aber als ich die Woche darauf und später noch einmal und dann auch in anderen Drogeriemärkten danach suchte, fehlte es immer. Es gab das Shampoo für normales Haar nicht mehr.«
Luhmann hat nie über den Supermarkt der Gesellschaft geschrieben, leider. Denn David Wagner gibt allen Anlass für die Frage: Sieht die funktional differenzierte Gesellschaft ein Haarwaschmittel ohne Spezialfunktion überhaupt noch vor?
»Ich hätte mich für eine der Spezifikationen entscheiden müssen, von denen mir aber keine zusagte. Mein Haar braucht weder mehr Volumen noch einen Schutz vor Schuppen, und ich möchte auch kein Shampoo, auf dem ich lesen muß, dass ich sprödes oder schnell fettendes Haar habe. Ich will ein Haarwaschmittel für normales Haar.«
Das Sortiment als autopoietisches System. Ähnliche Auflösungserscheinungen des unmarkierten Normalzustands ja auch bei der Palette der ganzen Fleisch-, Kirsch-, Eier- und Cocktail-, Strauch-, Biostrauch-, Biokirsch- usw. -Tomaten (64). Von der Ausdifferenzierung ganzer Subsysteme (siehe wieder oben) ganz zu schweigen:
14. Der Supermarkt als Sündenfall
Das seltsame Verhalten Sahnebecher kaufender Kunden:
»Ich höre ein dumpfes Platschen, schaue auf und sehe, daß ein Becher Schlagsahne auf den Fußboden gefallen und aufgeplatzt ist. Er muß dem Mann mit dem Einkaufskorb vor der Kühltheke aus der Hand gerutscht sein, er sieht betroffen nach unten. Langsam, die Sahne fließt behäbig, wird der weiße Fleck neben seinen schwarzen, glänzenden Schuhen immer größer. Der Mann bückt sich, hebt den tropfenden Behälter auf, schaut sich verstohlen um, stellt ihn zurück ins Kühlregal und nimmt sich einen anderen, unversehrten Becher. Er kontrolliert das Haltbarkeitsdatum (…), legt ihn (…) zu zwei Weinflaschen und einem Radicchio-Salat und entfernt sich (…).« (28)
Eine Schlüsselszene des ganzen Supermarktromans! Aus Sicht der Moral-Theologie auf jeden Fall symptomatisch für die Ursünde aller Super- und modernen Warenmärkte überhaupt: die Anonymität. Anonymität schützt nicht nur Betrugsversuche des Systems Supermarkts am Kunden.
Anonymität deckt auch den Betrug des Kunden am Supermarkt. Und keiner redet hier von Diebstahl! Der zurückgestellte Sahne-Sabberbecher. Der Beutel Mozzarella, der kurz vor der Kasse doch noch auf der Strecke geblieben ist (›Wir machen doch kein Caprese!‹) und jetzt auf dem Sonderpostentisch (zwischen Skisocken!) versauert. Die Flasche Chardonnay, die irgendjemand im Weichspülerregal entsorgt hat. Lauter schöne Supermarkt-Findlinge.
Auch deswegen ist so ein gelegentlicher Supermarkt-Relaunch immer ein Traum: Wenn dann Wiedereröffnung ist und so ein ganzes Sortiment mal wieder kaufsündenfrei auf Kante steht … und kein erratischer Block, nirgends. Wahnsinn! Das Einkaufsparadies.