Archiv des Themenkreises ›Der Spiegel‹


Von Enzensberger zu Hans Hoffmann:
Der rote Pullunder und der fein gemalte Igel

New York, 6. November 2008, 23:50 | von Dique

Heute ein bisschen Starkult, wir gehen in Tom’s Restaurant auf der Upper West Side frühstücken. Es ist das Seinfeld-Diner (Monk’s Cafe), jedenfalls von außen, die Innenaufnahmen wurden woanders gedreht. An den Wänden hängen ein paar signierte Devotionalien, ansonsten ist es ein eher typisches Diner, und wir essen Eggs Benedict.

Der »Spiegel« kostet hier etwas über 8 Dollar, und man bekommt ihn am besten in irgendeinem Universal Press Store, von welchen es leider zu wenige gibt. Für die aktuelle Ausgabe (45/2008) haben sich Matthias Matussek und Markus Brauck mit Hans Magnus Enzensberger in dessen Münchner Wohnung getroffen (S. 76-78).

Die Konstellation Matussek/Enzensberger erlebten wir ja auch neulich im »Kulturtipp« (Folge 63, Trivia), als der SPON-Vlogger ebenfalls bei Enzensberger vorbeischaute, um sich nach dem Verbleib von ›Ding‹ zu erkundigen und auch Hinweise bekam.

Dieses Mal geht es bei der Begegnung aber um den Crash der Weltwirtschaft, das Chaos an den Börsen und die Krise des Kapitalismus. Passend zum Thema trägt Enzensberger einen blutroten Pullunder, und das erinnert mich an eines dieser wunderschönen Fotos von Tina Barney.

Wäre das Autorenfoto tatsächlich von ihr, würde es sicher den Titel »Der rote Pullunder« tragen und würde sich wunderbar in ihre »The Europeans«-Arbeiten einreihen. (Man vergleiche »The Yellow Wall«.) Das Enzensberger-Bild hat eine ähnlich »oszillierende Stille« und Ausgewogenheit wie ihre Portraits.

Enzensberger braucht eine Weile, bis er sich bei seinem Auftritt im Wirtschaftsfeuilleton des »Spiegel« wohl fühlt und beginnt skeptisch und zurückhaltend:

»Warum fragen Sie mich? (…) Ich habe noch nicht einmal Geld verloren. Also warum fragen Sie ausgerechnet mich?«

Das anfängliche Zögern weicht dann aber schnell der abgeklärten Analyse und einer gehörigen Portion Marx:

»Das ist doch grandios. Das ›Kapital‹ war immer ein tolles Buch. Stark in der Analyse, schwach in der Prophezeiung. Und im Kalten Krieg hätte ein solcher Satz noch einen Skandal ausgelöst. Heute dagegen kann der Kapitalismus damit sehr gut leben. Die Kritik ist es doch, was ihn am Leben hält. Hätte es die nicht gegeben, wäre er schon längst an die Wand gefahren.«

Die Tina-Barney-Assoziation schreit eigentlich nach einem Besuch des Museum of Modern Art, denn dort sollen ein paar ihrer Fotos hängen. Vor dem MoMA stehen aber leider immer irgendwie Schlangen und außerdem müssen wir noch mal ins Met, allerdings nicht, ohne uns vorher noch die Adele Bloch-Bauer von Klimt in der »Neuen Galerie« anzusehen.

Die »Neue Galerie« wurde von Ronald Lauder gegründet und widmet sich moderner Kunst aus dem deutschsprachigen Raum, neben Klimt und Schiele gibt es auch viele Objekte der Wiener Werkstätten. Der Teil, in dem normalerweise die Sammlung der deutschen Expressionisten hängt, ist mit einer Alfred-Kubin-Sonderaustellung belegt, also kein Kirchner heute.

Umso schneller gelangen wir ins Met und sehen uns endlich, wie angekündigt, die 300 ausgewählten Montebello-Ankäufe aus 30 Jahren an. Die Ankündigung in der New York Times hatte nicht zu viel versprochen, es handelt sich tatsächlich um »a wonder-cabinet situation, an exercise in proprietorial pride, an unabashed, if surprisingly low-key, display of fabulousness«.

Wir staunen uns durch die Räume, die kleine Duccio-Madonna ist sicher der größte Hit, 45 Millionen Dollar waren vor einigen Jahren für dieses um 1300 entstandene Werk bezahlt worden. James Beck, der Gründer von ArtWatch, bezeichnete das Stück in seinem Buch »From Duccio to Raphael. Connoisseurship in Crisis« als Fälschung, blieb mit dieser Meinung aber relativ allein, und wir wollen ihm auch keinen Glauben schenken.

Wir gehen dann weiter, und es gibt einige Wände mit Altmeisterzeichnungen, Leonardo, Bronzino, Parmigianino, und sogar eine von Jacques Bellange! Und dann passiert das Erstaunliche, ein paar Meter weiter an der gleichen Wand erweckt etwas meine Aufmerksamkeit, und ich nähere mich ungläubig der kleinen Gouache eines Igels, und dann gibt es keinen Zweifel mehr: Es ist ein Hans Hoffmann.

Hoffmann ist der wohl wichtigste Vertreter der so genannten Dürer-Renaissance und war im späten 16. Jahrhundert bei Rudolf II. in Prag tätig. Bekannt ist er vor allem durch seine feinen aquarellierten Tierzeichnungen, darunter einige Kopien, aber auch eigene Erfindungen.

Mehrere seiner Hasenbilder wurden in den letzten Jahren für hohe Summen versteigert. 2001 wurde in New York ein Hase, am Waldrand sitzend, für $2.4 Mio. an das Getty Museum verkauft, und Anfang dieses Jahres ging eine wunderschöne Kopie von Dürers Feldhasen bei Lempertz in Köln unter den Hammer. Und zwar ohne Skandal, obwohl sich dieser Feldhase ursprünglich in der Kunsthalle Bremen befunden hatte – nach dem Krieg geriet er dann »in die Hände der Russen – und war weg« (FAZ).

Der Hase tauchte unter dubiosen Umständen wieder auf und, ziemlich einmalig in so einem Fall, die Bremer ließen die Auktion durchgehen und kassierten dafür die Hälfte der ca. 700.000 ersteigerten Euro.

Wir bestaunen den wunderbaren Hoffmann-Igel und denken an unseren Lieblingssatz von Vasari, der natürlich einem anderen Zusammenhang entstammt und andere Werke meint:

»Diese werden von all denjenigen, die sich mit derartigen Dingen auskennen, wahrlich für wunderschön gehalten.«

Beim Abendessen erzähle ich einem befreundeten Kunstexperten von dem fein gemalten Igel im Met und will gerade noch die Postkarte zeigen, welche ich mir davon mitgenommen habe, da winkt er schon ab, denn nach seiner Ansicht sei das Bild nichts als eine Fälschung.

Es gebe zwei findige Italiener, die diese Art von Tiergouachen in hoher Qualität herstellen, in Renaissance-Rahmen fassen und dann verkaufen, und da komme es schnell mal zu Fehleinschätzungen bezüglich der Echtheit.

Mit einem Indianerblick à la Larry David versuche ich diese Aussagen im Gesicht meines Gegenübers zu verifizieren, aber es gelingt nicht, und niedergeschlagen kaue ich auf meinem Steak, American Beef French Style im Les Halles, Empfehlung von San Andreas und sogar aus Vor-Zagat-Zeiten, er besitze sogar ein Kochbuch des ehemaligen Chefs, Anthony Bourdain.

Bourdain ist ein rechter Rüpel, nachzulesen in seinem Wikipedia-Artikel. Er hat mal eine Kobra gegessen (komplett mit noch schlagendem Herzen), das Rektum eines Warzenschweins sowie den Augapfel eines Seehunds. Das Ekligste, das er je gegessen hat, war aber nach eigener Aussage ein Chicken McNugget.

Usw.


Dialektologie mit dem »Spiegel«

Konstanz, 18. Oktober 2008, 10:45 | von Marcuccio

Dass Leserbriefe für mich Feuilleton sind, dürfte sich ja mittlerweile herumgesprochen haben. Heute frage ich mich, ob ich neulich nicht eine Kategorie vergessen habe: das Bastian-Sick-Double, das nach gegenwärtiger Sachlage nur durch Matthias Matussek – und zwar mit Hilfe von Martin Walser –, nicht aber durch Alexander Osang gebannt werden kann. Doch immer schön der Reihe nach:

Auf S. 15 des aktuellen »Spiegel« (Nr. 42/2008) wird Alexander Osang von einem Leser aus Mainz für seine miserable Dialekt-Transkription kritisiert. Osang hatte in seiner Reportage »Pamelas Prinz« einen Pforzheimer Bordellbesitzer mit den Worten zitiert:

»Schöne Frau und schönes Auto. Pascht zusamme.«

»›Pascht zusamme‹ hat der Prinz mit Sicherheit nicht gesagt«, entrüstet sich nun der Leserbriefschreiber, nach unserer Typologie wohl eine Mischung aus Beschwerdeopportunist und Co-Referent, und erklärt:

»Das ist eine verbreitete Unart Norddeutscher, das süddeutsche Idiom misszuverstehen. Das ›sch–t‹ statt ›s–t‹ wird nicht bei allen Endungen verwendet. Das heißt ›passt‹ wie im Hochdeutschen, eventuell auch ›basst‹ – nie und nimmer aber ›pascht‹ –, vielleicht schon, weil man es ›sonscht‹ mit ›baschteln‹ oder ›Bascht‹ verwechseln könnte.«

Witzigerweise gibt es im selben »Spiegel«-Heft aber auch mal Norddeutsche, die es können. Auf S. 196 transkribiert Matthias Matussek einen Satz von Martin Walser:

»Das ischt doch alles Hysterie«.

Sagt der zur aktuellen Finanzkrise, und hier ist das »ischt« (unter Eingeborenen ja eigentlich nur »isch«) tadellos, ja sogar sehr gut beobachtet, weil nachgerade typisch: Nicht nur für Walser, sondern auch für Wolfgang Schäuble oder Volker Kauder, wenn sie Hochdeutsch intonieren, aber tatsächlich nur ihren Dialekt überkorrigieren.

»Der Spiegel«, diese Woche das deutsche Mundartmagazin.


»Schön!« — Mit Judith Hermann durch Berlin

Leipzig, 4. September 2008, 12:56 | von Paco

Die Leute von Literaturport.de haben einige bekanntere Berliner Autoren dazu gebracht, eine »Literatour« durch Berlin zu unternehmen und darüber zu texten. Auch Judith Hermann hat einen Text beigesteuert, und im Prinzip kann so etwas ja nur schiefgehen.

So wurde Ingo Schulze neulich im »Spiegel« dafür abgewatscht, dass er seinen Roman »Adam und Evelyn« offenbar als eine Art Auftragsarbeit für eine bestimmte geplante Reihe des Berlin Verlags unternommen hat, in der »große Mythenstoffe neu erzählt und gedeutet« werden. »Nicht von kreativem Drang, vielmehr von Marketing-Blabla beflügelt«, nannte das Urs Jenny (Nr. 33/2008, S. 142).

Der Titel des Hermann-Texts ist dann auch gleich in Maßen schrecklich: »Spazieren.Gehen.« – das wirkt etwas zu sehr gewollt experimentell poetisch. Der eigentliche Text dann gar nicht, es geht alles glatt, auch weil die Autorin es von Anfang an ablehnt, überhaupt ein Thema, einen Auftrag zu haben. So wandert sie themenlos einige Randgebiete des Prenzlauer Bergs entlang, die einzelnen Stellen sind auf der Webseite auch per eingebettetem Google Maps verortet.

Relativ schnell hat man dann wieder den Hermann-Sound im Ohr, vor allem, wenn man sich die Story gleich als MP3 von der Autorin vorlesen lässt.

Erst wundert man sich, dann nimmt man ihn hin, dann findet man ihn gut: einen wohlausgesuchten Manierismus, der sich schon nach 3 Absätzen festsetzt – die Erzählerin bezeichnet ihr Kind, das sie auf der Tour begleitet, stets als »mein Kind«:

»Wir nahmen, am Fuß des Berges angelangt, den asphaltierten Weg, ein Stückchen lang, und schlugen uns dann in die Büsche, die Abkürzung, ein Trampelpfad durch Dickicht und Sträucher, sehr steil aber kurz; wir gerieten außer Atem, worüber mein Kind froh war, weil es wusste, dass das zu einer Bergbesteigung dazu gehört.«

Eine ganz hervorragende Stelle, im Prinzip schon viel zu literarisch für den Approach des Literaturports, und ab hier beginnt »mein Kind« auch, zur literarischen Figur zu werden und der Text löst sich endgültig von seinem »Literatouren«-Kontext. Das gilt auch für den Fotografen, »eine Gestalt ganz nach meinen Wünschen, immer mit der Kamera vorm Auge und bereit zu sehen was ich sage«.

J. H. hat ihn also kurzerhand ins Figurenarsenal ihrer Geschichte reingenommen, und zwischen der Gelassenheit der Autorin und der Mentalität des motivsuchenden Fotografen gibt es ein interessantes Hin und Her:

»Schön, hatte der Fotograf gesagt. Ich hatte ihm am Telefon die Stationen des Spazierganges aufgezählt: Volkspark Prenzlauer Berg, den kannte er vom Hörensagen, Kleingarten Kolonie ›Grönland‹, dazu wollte er sich nicht äußern, Jüdischer Friedhof Weißensee, da sagte er: Schön!«

Das ist judith-hermann-haft knapp gefasst, gerahmt von diesem zweimaligen einverstandenen »Schön!«, ein schwer vertextbares Detail des Gesprächs sehr gut eingefangen, ohne weitere Worte ist alles klar, später wird das im Text noch mal aufgenommen:

»Der Fotograf hat mich nicht gefragt, warum gerade der Jüdische Friedhof Weißensee mit hinein soll in diesen Spaziergang, er hat Schön! gesagt und ich weiß, was er meint.«

Der Auftrag des Fotografen sah auch vor, ein Autorenfoto zu schießen:

»Es soll ja, sagt der Fotograf am Telefon, auch ein Foto gemacht werden. Das musste dir dann irgendwie aussuchen, das Foto, da sollst du drauf sein, wo willst du das machen.«

Man kann von J. H. nicht einfach so und ohne Umstände ein neues Autorenfoto machen! Das ist unmöglich: »ich stelle mich nicht auf den Berg vor die Aussicht nach Osten«. Im letzten Absatz geht es dann um dieses Paratext-Bewusstsein der Erzählerin, der Autorin, das ist ein sehr guter Schluss dieser Auftragsarbeit. Im Café Surprise soll es dann sein: »Ich setze mich ganz gerade hin und schaue mal am besten links aus dem Fenster.« Klick!


Auf den Spuren von Rami Fortis:
Leipzig — Barcelona

Girona, 26. Juli 2008, 18:12 | von Paco

Ryanair fliegt ja von Nobitz aus (nahe der Ingo-Schulze-Stadt Altenburg, also »bei« Leipzig) seit neuestem auch nach Barcelona. Und ich bin gerade in Girona, also »bei« Barcelona, angekommen und schieße über das erstbeste WLAN diesen Text hier ins Web.

Von Leipzig nach Barcelona trieb es (allerdings schon in den 80er-Jahren) auch Rami Fortis mit seiner damaligen Band Minimal Compact. Deren Europatour fand vor dem Fall of the Wall statt, als zwischen den beiden genannten Städten noch der Eiserne Vorhang zugezogen war.

Deshalb staunte ich nicht schlecht, als ich vor Zeiten einmal über einen Fortis-Song namens »Leipzig, Barcelona« (»לייפציג ברצלונה«) stolperte, der auf dem 1988er Album »Tales from the Box« (»סיפורים מהקופסא«) erschienen war.

(Ich habe den hebräischen Liedtext kurz mal für hebrewsongs.com transliteriert und rohübersetzt – hier –, allerdings nur ins Englische, da es auf Deutsch nicht wirklich nach irgendetwas klang. Originaltext ist hier.)

Leipzig war also schon vor den überquellenden Montagsdemonstrationen in der israelischen Rockmusik verortet, und das ist doch mal bemerkenswert. Europa vor der Wende scheint jedenfalls dunkel gewesen zu sein, sehr dunkel:

On the way between Leipzig and Barcelona,
The long black lane, and rain covers the picture,
Mustard bushes dazzle, no air to breathe,
We count the hours and await the rising of the sun,
The end of the tunnel.

Die Düsternis dieser Zeilen entspricht offenbar der Düsternis der 80er und der des geteilten Kontinents. Wenn Fortis den Song auf Konzerten brachte, meinte er übrigens manchmal, dass er missverstanden worden sei und die Tour eigentlich umgekehrt, von Barcelona nach Leipzig verlief, wie auch immer, das ist auf jeden Fall eine gute Anekdote.

Der Refrain geht ungefähr so:

You are broken, for a short while,
And you pull yourself together again
When the guitar saws through the night.

Ich bin auch broken (נשבר), weil ich zu den Druckluftschwankungen im Ryanairflieger den aktuellen »Spiegel« komplett zuende gelesen habe. Ich war ja gewarnt worden, aber ich musste das jetzt machen, schließlich hab ich noch genug andere Sachen zum fertiglesen. Zu Recht schwirrt mir jetzt der Kopf.

(Übrigens hat Ryanair die Strecke Altenburg–Girona, i. e. Leipzig–Barcelona, vor 2 Wochen komplett aus dem Winterflugplan gestrichen.)


Wyndham Lewis

London, 22. Juli 2008, 08:15 | von Dique

Eliot überall. Im Hofgarten und am gleichen Tag an der Themse, zwar bin ich nicht rezitierend am Flusse spaziert, aber dennoch hatte ich Eliot im Kopf und in »The Waste Land« heißt es auch passend:

Sweet Thames, run softly till I end my song,
Sweet Thames, run softly, for I speak not loud or long.

Am Embankment dann ein Stück aufwärts sind es nur ein paar Schritte bis zur National Portrait Gallery, und dort gibt es seit Anfang Juli eine Wyndham-Lewis-Ausstellung zu sehen und, mit Eliot befreundet, hat Lewis diesen auch häufig porträtiert.

Ich muss aber gestehen, dass mich die Porträts von Ezra Pound noch mehr anzogen, besonders eine schwungvolle Bleistiftzeichnung, welche auch in der FT Weekend im Artikel von Jackie Wullschlager, »An angular vision«, abgebildet war.

In der Ausstellung ist dann eine ganze Wand mit Ezra-Pound-Porträts zu sehen, und noch schöner als das Lockvogelbild aus der FT ist ein Gemälde, welches Pound schlafend zeigt, wohlig zurückgelehnt, eine Zeitung auf dem Tisch.

Und YouTube sei Dank kann man neben Eliot auch der vibrierenden Stimme von Pound lauschen, mit der er seine eigenen Cantos rezitiert. Beim Suchen fand ich dann eine Verwurstelung anscheinend von und auf jeden Fall mit Jonathan Meese, dessen Kunst mir zwar ziemlich schnuppe ist, aber an den ich gern denke, weil Moritz von Uslar ihn im »Spiegel« mal ganz wunderbar zitiert hat, wie er zu einer lebendigen Kuh liebevoll sagte: »Du süße Maus«, oder so ähnlich.

Jedenfalls gibt es da bei YouTube dieses Stück »Jonathan Meese – ›Ezra Pound‹«, und das klingt natürlich erstmal alles ganz schrecklich, ist es aber nicht. Zu Samples von »Der Räuber und der Prinz« von DAF hört man eine Rezitation von Pound (»Hugh Selwyn Mauberly, Part I«: »For three years, out of key with his time, / He strove to resusciate the dead art …«), und im Hintergrund hört man Schafe blöken.

Dazu führen Meese und Konsorten einen irren Tanz auf, und das ist einfach genau DAS GROSSE KINO, welches so gern und so oft herbeizitiert wird. Es scheint sich um einen Teil einer Aufführung an der Berliner Volksbühne zu handeln, mehr weiß ich nicht und google mir deswegen nicht die Finger wund.

Aber zurück in die Lewis-Ausstellung. Seine besten Bilder entstanden in und um die 20er-Jahre und erinnern ziemlich an die Neue Sachlichkeit. Eines seiner Selbstporträts könnte man bei flüchtigem Blick glatt für Christian Schad halten, aber auch futuristische und kubistische Elemente schwingen hinein und herum.

Aber gut, was soll die zeitliche Beschränkung, auch spätere Werke begeistern, wie zum Beispiel das 1943er Porträt von Edith Sitwell (auch im Sessel, in grünem Übermantel und mit leicht aufgetürmtem Hut), bei welchem er einfach die Hände weglässt. Das fällt nicht sofort auf, obwohl Sitwell der Meinung ist, dass diese ihr bestes Feature seien, wie man in der Bildunterschrift lesen kann.

Lewis hat aber nicht nur gemalt, sondern auch geschrieben, und das nicht zu knapp: ganze 17 Titel, mit denen er allerdings gehörig daneben gegriffen hat. Waldemar Januszczak schreibt in seinem Artikel »Wyndham Lewis’s big mistake« in der »Times« dazu:

Some people drop clangers. Lewis dropped the entire carillon of bells.

Sein Artikel beginnt folgendermaßen, und vielleicht hätte das auch hier etwas früher kommen sollen, der viel beschworene Wermutstropfen:

Wyndham Lewis supported Hitler. I mention it straightaway, because I don’t want it looming up later to shipwreck my praise. Supporting Hitler – writing books in favour of the Führer – was Lewis’s greatest mistake as a controversialist. It ruined his reputation as an artist, turned him into a national hate figure and ensured that nobody would ever again take him seriously as a thinker.

Im Untertitel zu diesem Artikel kommt Januszczak aber zu dem Schluss: »Yes, he was a fascist sympathiser, but the firebrand vorticist Wyndham Lewis is still one of our finest portraitists.« Und das stimmt eben auch.


Ratlosigkeit

München, 18. Juli 2008, 21:37 | von Paco

Wir trafen uns am Dienstagabend auf ein Eisbein beim Straubinger. Millek kam wieder mal 25 Minuten zu spät (ich nur 23). Irgendwann wurde der riesige Gute-Laune-Senftopf auf den Tisch gewuchtet, aber selbst er konnte unserer Ratlosigkeit nicht Einhalt gebieten: Wir hatten nämlich beide im Verlauf der letzten beiden Tage den neuen »Spiegel« durchgelesen (29/2008).

Also: Was ist mit der Kulturredaktion des »Spiegel« los? Es geht um den »etwas anderen Einbürgerungstest« von Thomas Tuma, S. 162-163. Wer genau hat dieses schmerzhaft unlustige Etwas passieren lassen? Das schien unser Wappentier, der Dunkelmann des Feuilletons, mit diesem vorwurfsvollen Blick zu fragen:

Vorwurfsvoller Blick

Alle anderen Medien hatten sich schon Wochen vorher über die kursierenden Details des geplanten Einbürgerungstests amüsiert – ich erinnere an die ganz super hervorragende Glosse auf der Frontpage der FAS vom 15. 6. (überhaupt ist diese FAS-Willkommensglosse eine der souveränsten Vertreter ihres Faches, dazu an anderer Stelle mehr).

Und jetzt kommt dann der »Spiegel« mit diesem Witzeschrott, auf den Oliver Gehrs ja auch schon mal hingewiesen hatte. Also: kleine »Spiegel«-Krise. Wobei das Heft ansonsten sehr gut ist: das Leon-De-Winter-Interview, das Flavio-Briatore-Porträt von Detlef Hacke, die Moskau-Titelstory von Erich Follath und Matthias Schepp. Usw.

Ansonsten schöne Grüße aus München, morgen startet hier das big Stadtfest zum 850sten. Werde mich aus diesem Anlass noch mal mit dem Stadtartikel im Zedler beschäftigen (Bd. 22, Sp. 299-303).


Der nicht existierende Zusammenhang:
Die Sachsen LB und Robert Graves

London, 13. Juli 2008, 21:54 | von Dique

Die FAS will Paco machen, er ist irgendwo in Tottenham verschollen, seiner alten Hood, ich fahre da nie hin, wer fährt schon gern nach Tottenham (oder T’nam, wie Leute von da immer sagen).

Dafür noch mal kurz zum »Spiegel«-Artikel über die Sachsen LB (Ausg. 28, S. 80 ff.), kurz bevor morgen offiziell die neue Ausgabe erscheint. Habe den mit großer Lust gelesen, inhaltlich und auch von der Schreibe her mehr als super, da stimme ich jedem, der das auch sagt, voll zu.

Irgendwo ist es natürlich auch gemein, wie da über die Provinz­banker abgelästert wird, andererseits schwingt ein Hauch Nick Leeson mit, obwohl es in dieser Geschichte keine schillernde Persönlichkeit gibt, die da allein auf die Kacke gehauen hat, außer vielleicht Wilsing, aber der kommt dann doch ein wenig zu sehr als smart ass rüber. Geil natürlich auch, wie da KPMG und PwC nichts so richtig gepeilt zu haben scheinen. »Casino provincial« ist auch schon ein geiler Titel für den Artikel.

Ich habe mir heute auf dem Flohmarkt zwei Bücher von Robert Graves gekauft, über: griechische Mythologie. Später im Kaffeehaus meiner Wahl habe ich dann festgestellt, dass das der Autor von »I, Claudius« ist. Ich werde das heute endlich mal anfangen zu kucken (Pacos Review hier).

Neulich sprach ich mit meinem Newsagent darüber, und der kannte die Serie noch aus seiner Kindheit, als sie zum ersten Mal auf BBC lief, und er befand sie ebenfalls für sehr gut. Ich habe ihm dann (erneut!) ans Herz gelegt, endlich »Rome« zu schauen. Aber wie immer sagt er nur etwas gelangweilt: »Erm, I don’t know.«


Feuilleton und Pornografie (Teil 4):
Ariadne von Schirach über die Generation Porno

London, 12. Juli 2008, 08:14 | von Paco

Buchstäblich aus dem Nichts kam der »Spiegel«-Essay einer bis dahin unbekannten Philosophiestudentin:

Ariadne von Schirach: Der Tanz um die Lust.
In: Der Spiegel 42/2005 (17. 10. 2005), S. 194-200.

Die These der Autorin lautet ungefähr so: Wenn sogar der niedliche Berlin-Mitte-Boy von nebenan (»stilecht mit Freitag-Umhängetasche«) ungeniert durch die Pornoabteilung einer Videothek surft, dann muss das etwas bedeuten. Nämlich: Porno ist überall, Porno ist gesellschaftsfähig.

Der Ariadne-v.-Schirach-Artikel mit dem wallend blonden Foto als Beweis der Autorschaft war ein Scoop für den »Spiegel«. Alle, wirklich alle wollten wissen, wer das ist – und was dieser Text eigentlich jetzt genau soll. Einordnungsversuch: Der Artikel und Schirachs daran anschließendes Buch »Der Tanz um die Lust« (Goldmann 2007) sind eine Art Porno-Edition von Illies‘ »Generation Golf«.

All die hoffnungsfrohen jungen Leute, die sich von einer ubiquitären Pornografie dominieren lassen, verlängern so ihre Jugend und zögern ihr endgültiges Erwachsenwerden hinaus. Wo Pornos sind, sind Singles, männliche vor allem, denn die sprichwörtlichen »Sexbomben mit Staatsexamen« sind schon noch an Bindung interessiert, befinden sich schon noch in Erwartung des Mr. Right und zeigen sich daher »ungehalten über mangelnde sexuelle Bereitschaft. Die Männer sind verunsichert und flüchten ins Internet.«

»Die Hinweise häufen sich. Rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung soll sich angeblich regelmäßig auf Sexseiten im Internet vergnügen. Es gibt Seiten, die ein komplettes Porno-Alphabet anbieten, jede nur erdenkliche Neigung, kunstvoll sortiert, der alte de Sade hätte seine helle Freude gehabt.«

Über Advanced Porn-Surfing hat übrigens Jens Friebe ein sehr schönes Lied geschrieben, es heißt »Gespenster«, stammt vom 2004er Album »Vorher Nachher Bilder« und wird hier später verhandelt.

Zurück zu Schirach. Ihr ist auf jeden Fall eine beeindruckende Phänomenologie der pornografisierten Gesellschaft gelungen. Der »Spiegel«-Text wird vor allem durch die unterhaltsame Beispielgebung getragen, angetreten ist »die Frau von der Triebabfuhr« (taz) aber auch, um irgendwie zu warnen: »Das Problem beginnt, wenn das pornografische Menschenbild zur Norm wird, und Gegenbilder fehlen«, sagte sie im SP*N-Interview. Wohin sie mit ihren Bedenken allerdings will, wird nicht so richtig deutlich.


Feuilleton und Pornografie (Teil 1):
Alexander Osang über Pornywood

London, 28. Juni 2008, 16:06 | von Paco

Hier werden ab heute (und danach in hoffentlich nicht allzu loser Folge) ein paar Standardartikel zum Thema vorgestellt, die man unbedingt gelesen haben muss. Damit es nicht zu lustig wird, starte ich mit diesem Text:

Alexander Osang: Männer sind knapp im Moment.
In: »Der Spiegel« 21 (17. 5. 2004), S. 142-146.

Osangs Reportage ist natürlich kein Loblied auf die US-amerikanische Pornoindustrie mit deren Hauptschauplatz San Fernando Valley, genannt Pornywood. Vom Tonfall bis zur Pointe zeichnet er ein eher dunkles Sittengemälde der Milliardenbranche.

Zwar werden genaue Berufsbilder vom Modelagenten über den Regisseur/Kameramann und den Produzenten bis zu den Darstellern gezeichnet. Als beruflicher Appetizer der FAZ-Beilage »Beruf & Chance« ließe sich der Text aber dennoch nicht verbraten. Das liegt vor allem am Aufhänger: dem HIV-Skandal, der Pornywood vor 4 Jahren erschütterte.

Während der empfohlenen 60-Tage-Quarantäne herrschte eine Knappheit an männlichen Darstellern, viel Zeit zur Besinnung schien aber nicht zu bleiben: »Die Frauen gehen gelangweilt ihrer Arbeit nach. Die Frauen hier wollen Männer. Für eine ›Girl-Girl‹-Szene gibt es 400 Dollar, für eine ›Boy-Girl‹-Szene doppelt so viel.«

Es waren solche Details, die auch noch Wochen nach dem Erscheinen des Textes Mitte Mai 2004 immer mal wieder Thema an irgendwelchen Nebentischen waren. Diese Nachhaltigkeit ist vor allem auch auf die literarische Grundhaltung des Autors zurück­zuführen: Schon aufgrund des Aufhängers war es Osang nicht möglich, seinen Bericht mit einem ironischen Unterton zu versehen, wie es Feuilletontexte über die Pornoszene sonst gern tun (Beispiele folgen).


Der Spiegel 23/2008 (2. 6. 2008):
Erlebte Rede und T-saster

Rom, 6. Juni 2008, 11:42 | von Paco

Das Schöne auf Reisen ist ja, dass man mal wieder Quality-Time mit dem »Spiegel« verbringen kann. Damit wir die Ausgabe nicht wieder zerreißen mussten (wie neulich), haben wir am Montag gleich 3 Exemplare gekauft. Das Gesine-Schwan-Interview hat Dique ja schon erwähnt. Was sonst noch geschah:

Es handelt sich um eine Oliver-Gehrs-Gedächtnis-Ausgabe, denn mit der Berichterstattung zur »Telekom-Bespitzelungsaffäre« (vgl. Wikipedia) ist dem »Spiegel« wieder ein echter »Spiegel«-Scoop gelungen, scheint’s. Und so eine Superstory hat ja Gehrs immer eingefordert, bevor er sich dann lieber dem Medien-Gemüsegarten widmete.

Die Story zum Heftthema »Big Bro·T·her – Der unheimliche Staatskonzern« befindet sich auf S. 20-33 (Überschrift: »Codename ›Phylax‹«). Gut zu lesen usw., wobei 2 Stellen herausstechen, die erste auf S. 23. Dem Überwachungswahn auf Seiten der Wirtschaft entsprächen auf Seiten der Politik

»Hardliner, die angesichts islamistischen Terrors am liebsten schon die Grundrechte einschränken würden, wenn es denn dem Schutz der Gesellschaft diente – und der Demokratie. Nur die wäre ihren Namen dann kaum noch wert, weil man sich auch zu Tode schützen kann.«

Ok, die wohlfeile Bemerkung, dass »man sich auch zu Tode schützen kann«, könnte man schon durchgehen lassen: am Stammtisch, in der Schülerzeitung, als Tagline von »Stasi 2.0«-Kritik, im Deutsch-Aufsatz usw., nur eben nicht im »Spiegel«. Denn wer spricht hier? Wer jubelt uns da seine Meinung unter? Ich dachte immer, dass die legendäre Schlussredaktion stets darauf achtet, dass die Form der erlebten Rede auf jeden Fall »Spiegel«-ironisch daherkommt und nicht so völlig ernstgemeint wie in dieser Passage.

Aber gut. Am Ende des Textes, für den 9 Autoren verantwortlich zeichnen, wird noch einmal rekapituliert, wie die Affäre Ende Mai eigentlich genau begann. Der Vorabend des Scoops wird so zusammengefasst: »Das T-saster beginnt.« In der S-Zeitung müsste so eine lustige Wortbildung als Überschrift herhalten, beim »Spiegel« steht sie im Text, und warum auch nicht.

Ansonsten …

… hat Juan Moreno eine sehr gut recherchierte und schön formulierte Reportage über die Poker-Szene geschrieben (»Auf der Jagd nach Boris«, S. 76-81).

Und Matthias Matussek taucht überraschenderweise im »Deutschland«-Ressort auf, mit einer Story über Gregor Gysi, über dessen Touren anlässlich der Kommunalwahl in Kiel und die perennierenden Stasi-Vorwürfe gegen ihn (S. 48-50). »Gregor Gysi ist Paris Hilton ohne Hündchen«, steht da unter anderem, und auch der Resttext ist literarisch in Hochform.

Auffällig ist außerdem, dass Matussek selber ein Foto von Gysi geschossen hat, das auch im Heft abgedruckt wurde (Gysi vor einer Reproduktion von Edward Hoppers »Nighthawks«, S. 50). Hat er dafür einfach seine Ixus genommen? Mit der Superfein-Einstellung? Wenn man genau hinsieht, kann man an den Objekträndern JPEG-Artefakte erkennen, aber vielleicht ist das auch nur Einbildung.

Wie auch immer, das Matussek-Foto ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Textjournalisten immer öfter selber draufhalten, der Umblätterer hat das ja immer mal wieder festgestellt (vgl. hier und passim).

So, »Spiegel« ist ausgelesen, es wird Zeit, dass die FAS kommt, hehe.