Nein, es weihnachtet grade nicht, aber es raddatzt sehr. Zu verdanken ist das Elke Heidenreich. Im »Literaturclub« ging sie fehlerhaft mit einer Heidegger-Wortfolge um und wollte sich diese Fehlerhaftigkeit auch vom Moderator Stefan Zweifel nicht kaputtmachen lassen. Nachdem der widerborstig-impertinente Stefan Zweifel seine Mitdiskutantin Elke Heidenreich auf die Fehlerhaftigkeit ihrer Heidegger-Wortfolge hingewiesen hatte, schmiss sie feingeistig den besprochenen Heideggerband auf den Tisch (YouTube is your friend).
Stefan Zweifel wurde daraufhin seiner Pflichten als Moderator entbunden und viele Kommentatoren (darunter hier der und möglicherweise indirekt auch hier der) fordern nun, nicht auf ihn, sondern auf Elke Heidenreich solle der erste bzw. zweite Stein geworfen werden. Und sie führen den Fall Raddatz als Beispiel dafür an, wie die Zeiten sich verändert hätten: 1985 sei es noch so gewesen, dass nicht derjenige rausgeschmissen wurde, der die Fehlerhaftigkeit eines Zitats erkannt hat, sondern derjenige, der einem Falschzitat aufgesessen ist.
Benedict Neff schreibt in der »Basler Zeitung«: »Wie heikel solche falschen Zitate auch im Kulturbetrieb sein können, zeigt das Beispiel des einstigen Feuilleton-Chefs der Zeit, Fritz J. Raddatz.« Und Jürg Altwegg erinnert in der »FAZ« daran, dass die »Basler Zeitung« an Fritz J. Raddatz erinnert.
Philologisch gänzlich unverantwortlich und absolut fahrlässig wird hier aber ersichtlich mit zweierlei Maß gemessen. Denn erstens ist einem Interview, das Elke Heidenreich vor einiger Zeit dem Magazin »Cicero« gab, zu entnehmen, dass sie ihre Arbeit sehr wohl immer nach bestem Wissen und Gewissen verrichtet: »Es ist (…) wichtig«, sagte sie dort, »sich auch intellektuell mit Texten und Büchern auseinanderzusetzen, und das kann nur das Feuilleton. Da kann man die Sätze nachlesen, da kann man schwierige Texte noch mal überprüfen.«
Und zweitens ist es seit rund drei Jahrzehnten Communis Opinio, dass Raddatz’ fehlerhafter Umgang mit Zitaten eine Lappalie, mithin sein Rausschmiss bei der »Zeit« nicht gerechtfertigt war. Also, d’accord: Damals wäre es richtig gewesen, Raddatz auf seinem Posten zu belassen! Aber heute soll es falsch sein, Elke Heidenreich auf ihrem Posten zu belassen? Beide sind fehlerhaft mit Zitaten umgegangen. Doch was einem renommierten Intellektuellen, einem Germanistikprofessor, einem Universalgenie, aber letztlich eben auch einem Menschen wie Raddatz passieren kann, soll ebenfalls einem Menschen und immerhin einer gestandenen Trägerin des Medienpreises für Sprachkultur wie Elke Heidenreich nicht passieren dürfen?
Im Fall Raddatz sprach Peter Voß von einem »Fehler, von dem man eigentlich sagen kann, der nicht der Rede wert ist«. Raddatz selbst berichtet, wie er auf einer Geburtstagsfeier bei den Henkels am 25. Oktober 1985 von vielen Geistesgrößen angesprochen worden sei: »Von Scheel zu Hamm-Brücher, von Höfer bis Ehmke, von Liebermann bis Ledig: Was wollen die überhaupt, wieso verteidigen die Sie nicht, das alles wegen eines läppischen Fehlers? Man kann NIRGENDS begreifen, daß eine solche Lappalie überhaupt ernst genommen wird.« Ja, sogar Steuerrechtsexperte Theo Sommer selbst nennt das Ganze inzwischen eine »Lappalie«!
Im Fall Raddatz spricht auch Lothar Struck von einem »lächerlichen Fehlerchen«, im Fall Heidenreich spricht derselbe Lothar Struck jetzt aber plötzlich von der »Aufgabe jeglicher intellektuellen Redlichkeit (Falschzitat)«.
Man muss vielleicht doch noch einmal daran erinnern, was Robert Gernhardt 1985 im »Spiegel« über Raddatz schrieb: »Er hat uns mehr über Grammatik, Geographie, Bildende Kunst und (…) auch Philologie beigebracht als so manches andere staubgründliche Feuilleton.« Klar ist, dass ein unabhängiger Geist wie Raddatz sich von solch anbiederndem Lob nicht beeindrucken lässt. Noch sechs Jahre nach Gernhardts Tod urteilte Raddatz: »Die Deutschen lieben ihre selbstfabrizierten Mythen, lauwarm weichgespült mögen sie bitte nicht von den kühlen Wassern der Vernunft gereinigt werden. (…) So halten sie Robert Gernhardt für einen fast genialen Lyriker – der doch in Wahrheit über Schülerzeitungsreime à la ›Den Mistkerl hab ich rangekriegt. Er hat sie in den Mund gefickt‹ nie hinausgelangte«, und auch in einer Kritik, die laut »Zeit Online« bereits vom 31. Dezember 1899 stammt, verglich Raddatz in einem Totalverriss, einen brillanten Gedanken variierend, Gernhardts dichterische Potenz mit »der parodistischen Energie eines Schülerzeitungs-Redakteurs«.
Doch zurück zu Elke Heidenreich: Wollen wir allen Ernstes den Fehler, der anno 1985 im Fall Raddatz begangen wurde, wiederholen? Wollen wir denn gar nichts aus der Geschichte lernen? Wollen wir wirklich über Elke Heidenreich den Stab brechen? Was ist mit den Idealen der Toleranz und des Miteinanders? Stattdessen werden weiterhin Hass, Wut und schlechte Laune gepredigt. Warum nur ergötzen Menschen sich so lustvoll am Unglück anderer? Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren, zu Erbarmen – gar Barmherzigkeit? Die Botschaft von Barmherzigkeit trifft auf taube Herzen, ist dahingeschmolzen wie die Kerzen am Baum. Statt des Gebots »Liebe deinen Nächsten« liest man die Umtauschgarantie. Es zählen nur noch Gütesiegel – keine Güte mehr. Wahrlich, wir leben in finsteren Zeiten.