Archiv des Themenkreises ›Die Welt‹


Döpfner-Porträt

Berlin, 31. Januar 2014, 01:42 | von Josik

Es war also soweit alles in Butter. Bis dann am Montag plötzlich ein sechsseitiges, von »Spiegel«-Gesellschaftschef Matthias Geyer gezeichnetes Mathias-Döpfner-Porträt auf uns herniederging. An diesem Porträt wurde inzwischen derart herumgehackt, dass ich es heute in aller Ruhe ein zweites Mal las, um mir eine unabhängige Meinung darüber zu bilden, ob es denn wirklich so schlecht ist, wie alle sagen.

Nach der ersten Lektüre war ich einfach nur enttäuscht, weil es da hauptsächlich um Döpfner als Verleger ging, aber so gut wie gar nicht um Döpfner als Journalist. Das jedoch hätte mich viel mehr interessiert, war mir doch immer noch die untoppbare neoklassische Antithese in Erinnerung, die Döpfner in seinem Nachruf auf Marcel Reich-Ranicki untergebracht hatte: »dass sein Tod zur Hauptschlagzeile sogar der ›Bild‹-Zeitung wurde … ist ein Lebenswerk für sich«. UMBL-intern gibt es seit diesem Nachruf eine rege Diskussion darüber, ob wir statt den vossianischen Antonomasien, die uns ja allen schon langsam zum Hals heraushängen, nicht viel lieber neoklassische Antithesen sammeln sollten.

Doch zurück zu Matthias Geyer. Nach der zweiten Lektüre des besagten »Spiegel«-Artikels lautet nun mein Fazit: Es scheint, als ob hier wieder einmal ein Missverständnis vorliegt. Denn die Frage ist natürlich immer, mit welchen Erwartungen man an einen solchen Artikel herangeht. Erwartet man ein feuilletonistisches Glanzstück, einen Meilenstein des impressionistischen Journalismus, eine vitale, anregende, beflügelnde, zwischen Dichtung und Wahrheit oszillierende Darstellung, der man in jeder Silbe anmerkt, dass die Schreibkraft Geyer von der Muse geküsst wurde, so ist dieses Porträt in der Tat rundum misslungen, eine Katastrophe ohnegleichen, der letzte Dreck. Erwartet man aber nichts weiter als hard facts, so ist dieser Artikel über jeden Zweifel erhaben.

Karl Kraus hat geschrieben, Zweck der Zeitungen sei es, »Tatsachen wiederzugeben« (Fackel 378, S. 26), und an der »nützlichen und unerläßlichen Funktion, Tatsachen zu sammeln« (Fackel 890, S. 22), hat er nie einen Zweifel gelassen. Gemessen an diesem Anspruch also, muss der überragende faktenorientierte Nachrichtenwert des Geyer-Artikels noch mal nachdrücklich verteidigt werden.

Der Berliner Wintermorgen, an dem Döpfner in ein Flugzeug stieg, war »lichtlos«. Döpfners Lesebrille hat »goldfarbene« Bügel. Döpfner trägt einen »schwarzen« Anzug und ein »weißes« Hemd.

An seinem Jackett steckt ein Namensschild mit einem »roten« Balken. Gegenüber von Döpfner sitzt ein Mann mit einem »grünen« Balken auf dem Namensschild. Die Haare dieses Mannes »wellen« sich im Nacken »in die Höhe«.

Döpfner trägt einen weiten »schwarzen« Mantel. Friede Springer setzt sich vorsichtig auf einen »cremefarbenen« Sessel. Sie hält eine »abgegriffene Ledertasche« mit »beiden« Händen auf ihrem Schoß.

Sie »greift« ihre »Ledertasche«. Döpfner fällt in »weiches, beigefarbenes« Leder. Das Kostüm, das Friede Springer trägt, ist »tadellos gebügelt«.

Wenn man mit Easyjet fliegt, bedient einen »der Typ mit dem Teewagen«. Im Learjet holt Döpfner »Dosenbier« und »Nüsse« aus dem Kühlschrank. Döpfner lässt das Bier nicht, wie naive Leser erwartet hätten, angebrochen stehen, sondern: »Er trinkt das Bier aus«.

Zuvor war Döpfner mit »elastischen« Schritten in die Ankunftshalle gelaufen. (Und wie anders als in der Luft sind die Verhältnisse zu Lande: Ein Kleinbus »ruckelt« über die »löchrigen« Berliner »Straßen«.) Das »Tischchen« vor Döpfner ist aus »poliertem« »Wurzelholz«.

Friede Springer und Mathias Döpfner treffen einen Asiaten, der »akzentfrei« Deutsch spricht. Die Wände in Friede Springers Büro sind mit dem »dunklen« Holz der »Douglasfichte« verkleidet. Der »Bourdeaux« (Hölderlin), den Döpfner in der Paris Bar bestellt, ist »gut«.

Döpfner scheint eine »Welt«-Tüte »wie eine Erinnerung« bei sich zu tragen. Das Verlagshaus Springer hat »Stammzellen« »ausgespuckt« (was auch biologisch interessant ist!) »wie verdorbenes Essen«. Ein Fünfsternehotel, in dem eine Roadshow stattfindet, muss man sich vorstellen »wie einen Luxuspuff«.

Irgendwo steht die Zahl 920.000.000 »wie ein Appetitanreger«. Der Mann, dessen Haare sich im Nacken »in die Höhe« »wellen«, blättert in einem Ringbuch »wie in einer einfallslosen Speisekarte«. Stefan Aust steht neben Döpfner »wie sein persönlicher Journalistenpreis«.

In Friede Springers Büro bedecken alte, in »Leder« gebundene Bücher mit »Goldschnitt« die Wände »wie Schlingpflanzen«. Friede Springer lebt in ihrem Büro »wie eine stille Museumswärterin«.

Von hinten betrachtet sieht Mathias Döpfner aus »wie ein Kardinal«. Alfred Neven DuMont sitzt hinter seinem Schreibtisch »wie ein König«.

Aus Neven DuMonts Westentasche hängt die »goldene« Kette einer Taschenuhr. Neven DuMonts Beine liegen auf einem großen Kissen, das mit »weichem Leder« bezogen ist.

»Manche Begriffe pfiffen wie Kugeln durch den Raum«. »Pfff.«

Aus rechtlichen Gründen kann hier leider nicht der komplette Artikel zitiert werden.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


100-Seiten-Bücher – Teil 106
»Lebensbeschreibung des Ritters Götz von Berlichingen« (1731)

Leipzig, 9. Januar 2014, 09:00 | von Marcuccio

Dieser Hundertseiter wurde um 1560 einem Pfarrer zur Mitschrift diktiert – und klar: Wer will schon einen Tausendseiter beichten? Also hat Gottfried von Berlichingen sich diszipliniert mit der Idee: »Meine Sachen und Händel, die ich geführt habe, kurz abzufassen und niederzuschreiben«.

Dass ein Ritter aus dem späten Mittelalter überhaupt Memoiren hinterlässt, war ungewöhnlich genug, hat wohl auch damit zu tun, dass er zu Lebzeiten doch allerhand Zoff hatte und sich noch mal rechtfertigen wollte. Ein Reichs-Cavalier von der rauflustigen Sorte: Wenn Leute Pech hatten (wie der Nürnberger Kaufmann auf S. 51 der Reclam-Ausgabe), wurden sie von Götz gleich dreimal innerhalb eines halben Jahres gefangen genommen und ausgeraubt.

Wem 100 Seiten voller Fehderecht, das eigentlich schon abgeschafft war, zuviel sind, der bekommt auf Seite 28 übrigens das ganze Buch in einem Satz: »Händel und Scharmützel hatten wir überall genug«. Darauf könnte man’s beschränken, wenn man nicht das Wichtigste verpassen würde. Zum Beispiel den Moment, in dem Götz »bemerkte, daß die Hand [seine leibliche] nur noch lose an der Haut hing« (S. 29). Autsch. Doch weiter, immer weiter. Noch im Wundfieber ersinnt sich Götz die Prothesenhand.

»Gern hab ich nicht gesengt und gebrannt«, lässt uns Götz später im Showdown wissen, doch weil er »wollte, daß der Amtmann herausrücken sollte« (aus der Burg Krautheim), musste er die Sache ein bisschen anfeuern: »Aber der Amtmann schrie, während ich unten brannte, nur von der Mauer herab, und ich rief zurück, er möchte mich hinten lecken.« (S. 64)

Götz hat, soviel ist sicher, ein Gespür für Geschichten, die auf den Punkt kommen. Nur als Anführer im Bauernkrieg verheddert er sich ein wenig. Damit sein Buch aber nicht mit dieser Niederlage endet (wie später bei Goethe), und damit der Reclam-Hundertseiter auch voll wird, sattelt unser Ritter mit der eisernen Hand ab Seite 91 noch Bonustracks drauf: »Einige Reiterstücke außerhalb der Fehden«. Tatsächlich ist Götz, der für seine Zeit biblisch alt wurde (82 Jahre!), noch mit 62 gegen die Türken nach Wien geritten und mit 64 an der Seite von Karl V. gegen Frankreich. In dem Alter liegen andere faul auf der Couch!

Noch herrlicher als dieser Hundertseiter war eigentlich nur mein Burgschmaus mit dem leibhaftigen Götz von Berlichingen. Denn ja, er lebt. Hat zwei heile Hände. Und heißt wirklich so: »Wenn bei irgendwelchen Stadtschulmeisterschaften mein Name über den Lautsprecher kam, hat immer das ganze Stadion gelacht.«

Länge des Buches: ca. 177.000 Zeichen. – Ausgaben:

Götz von Berlichingen: Lebens-Beschreibung Herrn Gözens von Berlichingen, Zugenannt mit der Eisern Hand, […]. Mit verschiedenen Anmerckungen erläutert, und Mit einem vollständigen Indice versehen, zum Drück befördert, von Verono Franck von Steigerwald […]. Nürnberg: Feißecker 1731. S. 1–252 (= 252 Textseiten). (online)

Götz von Berlichingen: Lebens-Beschreibung des Herrn Gözens von Berlichingen. Abdruck der Original-Ausgabe von Steigerwald, Nürnberg 1731. Halle: Niemeyer 1886. S. 3–111 (= 109 Textseiten). (online)

Götz von Berlichingen: Lebensbeschreibung des Ritters Götz von Berlichingen. Ins Neuhochdeutsche übertragen von Karl Müller. Nachwort von Hermann Missenharter. Stuttgart: Reclam 1993. S. 3–100 (= 98 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 15):
»Lügner von Beruf« (1987)

New Haven, 15. Dezember 2013, 08:20 | von Srifo

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 94)

Logo der Raddatz-Festwochen

(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Keine der zwei Bibliotheken der Ostküste, die es in irgendeinem Außenmagazin haben, verlieh »Lügner von Beruf« und erst nach langem Warten kam dann ein tadelloses Exemplar aus der Regenstein Library in Chicago. Gerade um dieses Buch hatten sie sich hier nicht gerissen. Dass es einen zu dem Mann aus Robbe-Grillets »Jalousie« macht, der stets halb mit den Lamellen vor dem Fenster, halb mit dem Geschehen draußen konfrontiert wird, das wäre dem Pursuit of Happiness nicht zuträglich gewesen.

Im »Lügner von Beruf« gibt es Lamellen von langen Faulknerpassagen, verschränkt mit Raddatz’ eigenen Erlebnissen »auf den Spuren William Faulkners«. Und es ist ganz unklar, worauf man jetzt jaloux sein soll, ob auf die Faulknertexte, die man gern ganz gelesen hätte, oder auf die Raddatz-Reise, bei der man gern schon von Seite 7 an – »Der Mississippi beginnt am Pont-Neuf« – dabeigewesen wäre.

Es ist jedenfalls 1987, Baudrillard hat grade »Amérique« rausgebracht, Keanu Reeves steht kurz vor seinem breakthrough mit »Bill & Ted’s Excellent Adventure« (»History is about to be rewritten by two guys who can’t spell«) und so gonzojournalismiert Raddatz durch die Südstaaten. Vom Jardin du Luxembourg ist es nach New Orleans gegangen, weiter nach Oxford, MS, wo Faulkner liegt, davor gab es noch einen nördlichen Abstecher rüber nach Tennessee zu Presleys Graceland: »Hier wackeln gleichsam die Accessoires noch mit den Hüften, die rosa Rüschenhemden und samtenen Hös’chen und die goldene Badezimmerwaage mit Pelzbezug (viel zu klein für einen fetten Nascher).« (S. 116) Elvis ist nur dick, nicht verdrogt, die Postmoderne genießt ihr fear and loathing, vor Faulkners Grabstein angekommen nennt FJR den Nobelpreisträger einen »Hurenbock« (S. 120), was schon damals sicher so affirmativ gemeint war wie vor ein paar Tagen sein Meinungsbeitrag in der »Welt« (»Honey, are you going to the Puff tonight?«).

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 76–128 (= 53 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 10):
»Das Tage-Buch« (1981)

Düsseldorf, 10. Dezember 2013, 08:10 | von Luisa

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 89)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Neulich erzählte FJR in der LW, wie sehr er den Baron de Charlus bewundere, seines unfehlbaren Geschmacks wegen. Wem käme da nicht gleich das ebenso elegante wie unauffällige complet in den Sinn, in dem der Baron in Balbec vor die Leser tritt? Jedoch: »Ein dunkelgrüner Faden im Gewebe des Hosenstoffs war (…) auf das Streifenmuster der Strümpfe mit einem Raffinement abgestimmt, das deutlich eine sonst überall bezähmte Neigung verriet«. Eine eingewebte Enthüllung also, ein dezentes Fadenverrätertum, das Marcel natürlich sofort entdeckte.

Da der Sinn für solche Feinheiten inzwischen ausgestorben ist, konnte FJR bei seinem großen Fernsehauftritt mit Peter Voss bedenkenlos rote Socken tragen. Ob er damit etwas verriet, weiß ich nicht. Die dunkelgrünen, kaschierten Leinenfäden des 78-Seiters »Das Tage-Buch« signalisieren jedenfalls Seriosität, und die ist, im Gegensatz zu FJRs lärmend-losem 938-Seiter »Tagebücher«, tatsächlich die Grundlage dieser kleinen Schrift. »Das Tage-Buch« war eine 1920 gegründete Zeitschrift, deren Herausgeber und Autor Leopold Schwarzschild nach Paris und später in die USA fliehen musste. Schwarzschilds Artikel und Urteile waren klarsichtig, Thomas Mann und andere Schriftsteller publizierten dort, trotzdem ist die Zeitschrift längst nicht so berühmt geworden wie Ossietzkys »Weltbühne«. FJR erinnert an sie, zitiert und huldigt, und dafür soll er gepriesen sein auch dann noch, wenn Socken und Sottisen längst dahin sind.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Das Tage-Buch. Porträt einer Zeitschrift. Königstein (Ts.): Athenäum 1981. S. 3–78 (= 76 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 8):
»Heine. Ein deutsches Märchen« (1977)

Freiburg, 8. Dezember 2013, 08:15 | von Mynaral

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 87)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Mal wieder so einen längeren Essay von Fritz J. Raddatz zu lesen ist spätestens seit der Abrechnung von Hellmuth »Was kostet der Fisch?« Karasek ein lohnenswertes Wagnis. Und wer sich, jetzt wo die Tage wieder trüber geworden sind, auch ab und zu fragt, welche Augenfarbe Heinrich Heine eigentlich hatte, der kommt an Raddatz einfach nicht vorbei. Heine sei »von strahlender Blauäugigkeit und mit stechend schwarzem Semitenblick« (S. 10) gewesen, wird da zusammenzitiert, und seine Todesursache ist ebenso unumstritten: an Syphilis sei er gestorben, wie jeder halbwegs große Stilist eben.

So geht es weiter, so werden hundert Seiten herrlich runtergelabert, wobei – in Zeiten von Online-Praktikanten-Zwischen-Überschriften – die komplette Nichtstrukturierung des Textes besonders angenehm auffällt. Am schönsten ist es natürlich, wenn die Zusammenhänge komplett reißen, Raddatz eine Seite über das großartige Leben des patriarchalisch-sozialistischen Barthélemy Prosper Enfantin referiert oder der Proust’sche Swann von ihm für die Beschreibung des Heine’schen Ehelebens in Beschlag genommen und gute fünfzehn Zeilen später – mit einem »und auch wieder nicht« (S. 30) – schon wieder verworfen wird.

Noch schöner, wenn wir mit ihm kurz vom Sturz Napoleons »in die ferne Gegenwart schweifen« (S. 17), wenn er dann noch die interessante Information unterbringt, dass »ja ein Condom üblicherweise gerade gewisse Gefahren zu verhindern« (S. 26) pflege, und sogar »noch im Archivexemplar einer Dissertation« – in welcher die Benachteiligung der Juden nach den Freiheitskriegen geschildert wird – findet, »wie sich ein Anonymus unserer Tage mit einem Bleistift-Fragezeichen verewigt« hat (S. 17). Usw.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Hamburg: Hoffmann und Campe 1977.

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Essay. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1979. S. 3–135 (= 133 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Heine. Ein deutsches Märchen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Willi Winkler und der Ulf-Poschardt-Mythos

Leipzig, 23. März 2013, 12:52 | von Josik

Die Feuilletonforschung muss ihr Arbeitsgebiet nunmehr auch auf die Glamour-Zeitschrift GALA ausdehnen. Am vergangenen Sonntag, gerade als die Buchmesse dabei war, zu Ende zu gehen, machte Marcuccio in irgendeiner zwischen dem Café Puschkin und dem Hotel Seeblick gelegenen, komplett atmofreien Bäckerei mich nämlich darauf aufmerksam, dass der Aufmacher der damals aktuellen GALA von niemand Geringerem als Willi Winkler stammt.

Auf Wikipedia steht, das Motto der Zeitschrift GALA sei: »Gute Nachrichten und schöne Bilder statt negativer Schlagzeilen und Leid«. Und es bestätigt sich hier wieder einmal, dass man Wikipedia grundsätzlich nichts glauben soll. Denn wie nicht anders zu erwarten, führt Willi Winkler das besagte Motto gewohnt subversiv ad absurdum. Gute Nachrichten gibt es in seiner Titelgeschichte schlichtweg nicht, geht es darin doch um den gereiften, aber auch um den jungen Karl-Theodor zu Guttenberg.

Der erste, von der GALA-Redaktion stammende Satz unter einem Foto von Willi Winkler lautet: »Willi Winkler ist einer der renommiertesten deutschen Autoren.« Was die GALA-Redaktion dann aber im zweiten Satz dieser Bildunterschrift über Willi Winkler schreibt, ist die Tatsachenbehauptung des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts. Dort steht: »Exklusiv für GALA arbeitet er sich am Guttenberg-Mythos ab«. Der Witz dabei ist, dass Willi Winkler sich exklusiv für GALA eigentlich weniger am Karl-Theodor-zu-Guttenberg-Mythos abarbeitet als vielmehr am Ulf-Poschardt-Mythos – freilich ohne Ulf Poschardt ein einziges Mal beim Namen zu nennen.

Ulf Poschardt wird als »ein amtlich anerkannter Ersteiger der sozialen Pyramide mit untrüglichem Blick« umschrieben, und Willi Winkler zitiert aus einem 2009 in der »Welt« erschienenen Artikel von Ulf Poschardt die folgenden beiden Sätze – den ersten Satz wörtlich, den zweiten Satz nur partiell: »Ein promovierter Adliger mit einer ebenso adligen, attraktiven Frau als Hoffnungsfigur einer betont sozialen Volkspartei ist in der Heimat des Egalitären eigentlich unmöglich. Wird solches als List der Geschichte möglich, gibt es der Figur ein Profil und eine Authentizität, welche in der Politik fast erodiert war.«

Als Willi Winkler ein weiteres Mal Ulf Poschardts Namen umgeht, bezeichnet er ihn bloß als einen »Analytiker beim Abhorchen der sozialen Verhältnisse«. Besonders macht Winkler sich über Poschardts Wendung »List der Geschichte« lustig, indem er sie im vorletzten Satz seiner Story gehässigerweise noch einmal ironisch zitiert. Wenn es Schule machen sollte, dass solche genuin feuilletonistischen Kämpfe künftig vermehrt in der Yellow Press ausgefochten werden, so steigt die Spannung natürlich ins Unermessliche: Wird Ulf Poschardt einen Gegenangriff publizieren, und wenn ja, wo? Im »Gartenspaß«? Im »Umblätterer«? Im »Metal Hammer«?
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2012

Leipzig, 8. Januar 2013, 04:25 | von Paco

Maulwurf’s in the house again! Heute zum *achten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2012:

Der Goldene Maulwurf

Die Nummer 1 herauszudiskutieren, war dieses Jahr nicht schwer, einhellig fiel die Wahl auf Volker Weidermanns endgültige Erledigung des herumdichtenden Grass.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2012:

1. Volker Weidermann (FAS)
2. Jens-Christian Rabe (SZ)
3. Christian Thielemann u. a. (Zeit)
4. Olivier Guez (FAZ)
5. Ulrich Schmid (NZZ)
6. Mara Delius (Welt)
7. Kathrin Passig (SZ)
8. David Axmann (Wiener Zeitung)
9. Friederike Haupt (FAS)
10. Thomas Winkler (taz)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben, wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen der Jury.

Außerhalb der Top-3 gab es übrigens ziemliche Rangeleien. Handke zum Beispiel konnte letztlich wie so oft nicht genügend Stimmen auf sich vereinen, deshalb müssen wir ihm für den Feuilletonsatz des Jahres (»Ein Wortspiel pro Text ist erlaubt.«) separat gratulieren.

Hinweise auf feuilletonistische Supertexte des laufenden Jahres 2013 bitte an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis nächstes Jahr,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Handke-Landschaften in Karlsruhe:
Kling, Chaville, klingelingeling

Konstanz, 4. Dezember 2012, 19:00 | von Marcuccio

Die Feuilletons hatten sich zum Soundcheck verabredet:

Tilman Krause (Welt): »Diese Bilder muss man hören.«

Andreas Kilb (FAS): »Er hat der Landschaft einen Klang gegeben.«

Volker Bauermeister (Badische Zeitung): »Selbst Ziegen sieht er tanzen.«

Willibald Sauerländer (SZ): »… in einer behutsamen, man möchte sagen kammermusikalischen Ausstellung.«

Heute zog dann sogar noch die NZZ nach und berichtet über Camille Corot »mit seinen klangvoll nachhallenden Landschaften«.

Karlsruhe zeigt ja gerade die erste Retrospektive hierzulande. Ich war in der Ausstellung und habe außer zwei vollverkabelten Rentnern im Audioguide-Synchronrundgang jetzt eher wenig Sound im Wortsinn erlebt. Die Hörstation mit den Melodien von Gluck war nämlich dauerbesetzt, wahrscheinlich weil schon zu viele Kritiker geschrieben haben: »intensiv schaut man wohl nur, wenn man sich gleichzeitig dem Hören hingibt«.

Hörverhindert schlug ich mich dann auf die Seite von Sauerländer (SZ): »Corot hat die Stille, den Frieden, die Einsamkeit der französischen Provinzlandschaft entdeckt«. Das klang für mich plötzlich nur noch nach Peter Handke, zumal ein Corot-Bild »La Petite Chaville« heißt: Chaville neben Corots Heimat Ville-d’Avray war 1825 petite.

Sigrid Löffler gab mal zu Protokoll, Handke lebe vor den Toren von Paris ja wirklich »so bukolisch, wie es sich Handke-Verächter zur Bestätigung ihrer hämischsten Ressentiments nur vorstellen können« (vgl. ihre Rezension zur »Niemandsbucht« 1994). Ja, wie konsequent, dass in der Gegend der Corot-Bäume und Bäche heute Handkes »Felsenbienen« summen. Und mit Handkes Blick auf »Birken, die sich als erstes belaubt haben«, landet man unweigerlich bei der Frage, die Andreas Kilb vor diesem Corot-Bild stellt: »Wer weiß, wovon die Waldwege träumen?«

Es kann kulturtopografisch nur eine Antwort geben: Durch diese hohle Gasse muss er kommen. Hiesige Pilze soll er sammeln. Vor dem Lärm der Laubbläser-Nachbarn soll er hierher fliehen. Davon träumen die Waldwege bei Corot. Die Karlsruher Ausstellung ist so gesehen auch ein grandioser Versuch über den stillen Ort.
 


Aktuelle Roaming-Tarife der deutschen Presse

Krakau, 10. Mai 2012, 22:24 | von Marcuccio

Heute: Polen. Bei Empik (Kraków, Rynek Główny 5) im Angebot:

  • die FAS für 17 Zł / 4,20 €
  • die WamS für 19 Zł / 4,60 €
  • die »Zeit« vom Donnerstag letzter Woche: 25,50 Zł / 6,20 €
  • der »Spiegel« vom Montag dieser Woche: 29 Zł / 7,10 €

Immerhin: Die Sonntagszeitungen werden hier endlich mal wie Wochenzeitungen behandelt und bleiben die ganze Woche im Regal.

Viele Grüße,
Marek