Archiv des Themenkreises ›Die Welt‹


Notiz über Henning Ritter

Konstanz, 22. November 2010, 15:41 | von Marcuccio

Die »Notiz über Kitsch« war einer unserer Lieblinge im Feuilletonjahr 2007. Unter anderem gefiel uns, wie anlassfrei es dieser Text in die FAS geschafft hatte. Passend zum Thema und zu den neulich im Berlin Verlag erschienenen »Notizheften« steuerte Eckhard Fuhr nun eine »Welt«-Notiz über Henning Ritter bei:

»Ritter und ich fingen etwa zur selben Zeit bei der ›Frankfurter Allgemeinen Zeitung‹ an, er im Feuilleton, wo er die Seite ›Geistes­wissenschaften‹ erfand, ich in der politischen Nachrichtenredaktion, wo ich das journalistische Handwerk lernte. Wir trafen uns fast jeden Tag in geselliger Runde dort am großen Kühlschrank, um nach getaner Arbeit ein Fläschchen Binding Römerpils zu trinken.«

Man beachte auch den hübschen Nachsatz:

»Ritter war einer der wenigen Feuilletonisten, die regelmäßig aus ihren Redakteursstübchen in den Nachrichten-Maschinenraum der Zeitung hinabstiegen.«

Die Raummetaphorik ist jedenfalls mal wieder evident, semiotisch mindestens so gefällig wie wenn Matussek seine »Spiegel«-Sekretärin »runter in die Dokumentation« schickt (vgl. das legendäre rebell.tv-Video). Innerredaktionelle Ressorthierarchien im Spiegel ihrer vertikalen Gebäudebelegung. Wäre mal eine schöne Seminararbeit für alle Organisationspsychologen.

Ritter und das Römerpils

Laut Fuhr konnte Ritter das Römerpils, »welches zwar Nieren- und Blasentätigkeit ungemein stimuliert, nicht unbedingt aber die intellektuelle Spannkraft«, auch deswegen so gut ab, weil er seine Notizen hatte. Weil Ritter sich praktisch überall und pausenlos Notizen machte, hatte er seine Notizenscheune immer gut gefüllt. Frei nach Montesquieu, auf den sich Ritter am Ende seiner »Notizhefte« beruft, sind Notizen

»Einfälle, die ich nicht weiter vertieft habe und die ich aufbewahre, um bei Gelegenheit über sie nachzudenken.«

Mehr Mut zu Montesquieu, sagt nun Fuhr:

»Wenn man es so betrachtet, macht man als Journalist sein Leben lang nichts anderes als Notizen. Nur bewahren wir unsere Einfälle nicht auf, um später in Ruhe über sie nachzudenken, sondern wir werfen sie sofort dem Publikum zum Fraß vor.«

 


Lost (6. und letzte Staffel, ABC)

Paris, 19. Oktober 2010, 08:15 | von Paco

(Übersicht: Alle 10 besprochenen Serien. – Vorwort: Besuch im Serienland.)

Was soll man sagen, Ende Mai hat es sich ausgelostet. Wir haben hier die ganze Finalstaffel ausführlich folgenweise gerecappt, außerdem gab es dann noch diesen Artikel in der »Welt«, und für alle, die enttäuscht waren von irgendwelchen offen gebliebenen Fragen, muss noch mal hoch21 zitiert werden:

»Lost war nie etwas anderes als Disneyworld. Lost war ein Themenpark.«

 


»Der menschgewordene Vatertag«

Konstanz, 16. Mai 2010, 20:36 | von Marcuccio

FAS, Medienseite

In der FAS von heute: Schöne Replik auf Claudius Seidls Reportage-Polemik vom vergangenen Sonntag. Stephan Lebert meldet sich zu Wort, und man mag sich gut ausmalen, dass das zunächst ein journalistisch formulierter Brief war, den »der strenge Feuilletonchef dieser Zeitung« (Lebert über Seidl) dann nur zu gern zum offenen Brief, sprich Gastartikel gemacht hat. Wen wundert’s, packt Lebert Seidls Schmähartikel doch bei der noblen FAS-Ehre:

»Diese schlechte Laune passt so gar nicht zu dem hochgeschätzten F.A.S.-Feuilleton, wenn beispielsweise über Buch-, Theater- oder Filmpreise berichtet wird. Deshalb erlauben wir uns kurz die sicher durch und durch unsachliche Frage, ob da vielleicht ein bisschen das Til-Schweiger-Syndrom vorliegt: Man gewinnt selber nie was – und ist beleidigt?«

Eine Nebendiagnose von Leberts Verteidigung der Reportage ist »die wiedererstarkte Seite drei der ›Süddeutschen Zeitung‹«, deren Outstandingness wir ja letzthin auch im Best of Feuilleton der Jahre 2007 (auf #1) und 2009 (auf #8) gefeiert haben.

Ansonsten ist die versöhnliche Quintessenz des Artikels die, dass sich Feuilletonist (am Schreibtisch) und Reporter (draußen) am Ende doch näher sind als die Herren Seidl und Lebert zunächst vorgeben: »Forget the facts, push the story, lass weg, was die Geschichte stört. Nicht nur die ganz harten Reporter wussten das immer schon.«

In diesem Sinne unterwegs war wohl auch Stuckrad-Barre für die WamS, und zwar beim »vatertagigsten Vatertagsfest Brandenburgs«. Er erzählt eine Geschichte gescheiterter Integration, bestellt beim Bierausschank »Ein Wasser, bitte!« (»Ein was?«) und vergisst auch diese kleine, aber feine Einheit Varietätenlinguistik nicht: »›Vatertag‹, ostdeutsch ›Herrentag‹«. Schließlich besteigt er ein herrliches Örtchen namens „ToiToi-Anhöhe“ und fährt integrationsunwillig wieder heim, wo ihm in der Glotze Waldemar Hartmann begegnet: »der menschgewordene Vatertag«.

Passend zu dieser Alteritäts-Reportage müssen wir vielleicht wirklich noch aus Adornos »Herrenlaunen« zitieren:

»Einem bestimmten Gestus der Männlichkeit, sei’s der eigenen, sei’s der anderer, gebührt Mißtrauen. Er drückt (…) die stillschweigende Verschworenheit aller Männer miteinander aus. Früher nannte man das ängstlich bewundernd Herrenlaunen, heute ist es demokratisiert und wird von Filmhelden noch den letzten Bankangestellten vorgemacht.«

Schuld am Herrentag ist im Zweifel also wieder mal: die Kulturindustrie.


Die Helden des Supermarkts

Konstanz, 18. Februar 2010, 20:32 | von Marcuccio

Gestern, Mittwoch! Ein großer Tag für alle David-Wagner-Fans. Die FAZ hob den metallenen Einkaufskorb aufs Titelblatt (siehe bei Meedia).

Für alle, die den Klassiker »Vier Äpfel« noch nicht kennen: Der Ein­kaufskorb aus Metall ist der tragische Supermarkt-Held, der auf S. 28 f. den Kampf gegen die Armada der modernen roten Plastikkörbe verliert. Ein Grund war wohl auch das schlechte Handling:

»Die beiden dünnen Haltegriffe waren mit einer dünnen, hartgummiartigen Schicht überzogen, trotzdem schnitten sie heftig ein.«

Noch mehr Helden des Supermarkts dann eine Zeitung weiter, im Feuilleton-Aufmacher der »Welt« (»Bundesrepublik Aldi«) ordnet Josef Engels die Autorenfoto-Strategie der Gebrüder Albrecht in die litera­rische Tradition ein:

»Andere Länder haben (…) J. D. Salinger und Thomas Pynchon (…). Deutschland hat zwei alte Herren aus Essen.«

Der eine der beiden Aldi-Herren feiert dieser Tage seinen mutmaßlich 90., deswegen – jubiläumsüberpünktlich wie gewohnt – überhaupt eine Aldi-Exegese. Der eigentliche Rundgang liest sich dann ein bisschen wie David Wagner für Arme:

»Nach dem Eingang links: Der Kaffee. Dann die Marmelade. Dann die Kekse. Gegenüber der Wein. Und so weiter.«

Mehr Regale gibt’s leider nicht, dafür ein paar Ausführungen zur Geschichte der deutschen Teilung (seit 1961: Aldi Nord und Aldi Süd) und ihren Spätfolgen: Vitello tonnato bis heute nur für die reichere Hälfte des Landes: Aldi Süd.

Abschließend beleuchtet wird die Gentrifzierung des Aldi-Publikums anhand ausgewählter Schlüsseltexte: Das Aldi dente Kochbuch als Ausdruck, dass Aldi plötzlich satisfaktionsfähig wurde usw. usf. Vielleicht bringt ja auch David Wagner noch ein Aldi-Sequel (»Vier Äpfel bei Aldi«), darauf würde ich mich ehrlich freuen.


Vorwort zum laufenden Feuilletonjahr (4/2009)

Paris, 29. September 2009, 10:19 | von Paco

Oh Meer, oh Meer des Nordens

1. Der Umblätterer – Pindarische Sprünge, Inc.

2. Drei Viertel des Jahres sind um, wir haben schon 30 sehr gute Feuilletonartikel auf der Longlist stehen, Anfang Januar wird dann wieder Der Goldene Maulwurf für das Jahr 2009 vergeben, hier. Die Gewinner der letzten Jahre: 2005 ∙ Stephan Maus – 2006 ∙ Mariusz Szczygieł – 2007 ∙ Renate Meinhof – 2008 ∙ Iris Radisch.

3. Anfang August: Mona Lisa bekommt Teetasse an den Kopf. Entgegen anders lautender Meldungen (»Kein Schaden!«) ging die Tasse dabei zu Bruch.

4. Die rhetorische Frage des Jahres: »Was wäre eigentlich, wenn das Computerspiel eine sowohl ästhetische als auch soziale Zäsur markiert, die dem Einbruch der Zentralperspektive und damit einer neuen Zeit vergleichbar ist?« (Martin Burckhardt, FAZ, 4. 6. 2009)

5. Paul Drägers manischer Verriss von Raoul Schrotts Homer: 68 Seiten! Der Geist der Errata-Liste weht durchs Netz. Allein Fußnote 9 (»v. u. Z.«) ist der Hammer, hehe. Andere Lieblingsfußnoten: 11, 18, 46, 79, 92.

6. Es geht um eine junge Dame, die in keinem Zimmer schlafen will, in dem nicht das Bildnis ihres Verlobten hängt. Und dann schreibt Jean Paul das: »Auf der ganzen empfindsamen Reise hatte der Kubikinhalt der Braut in lauter Zimmern geschlafen, an denen der Flächeninhalt des Bräutigams wie eine Kreuzspinne die ganze Nacht herunterhing.«

7. Der bisher biografischste Satz eines Feuilletonisten in diesem Zeitungsjahr: »Doch wer je selbst mit Drogen sein Bewusstsein erleuchtet hat, weiß, (…)« (Matthias Heine im Zuge seiner Rezension des Ernst-Jünger-Abends von Martin Wuttke, way to go!)

8. Die Marquise ging um 16:53 Uhr, kehrte aber noch mal zurück, weil sie etwas vergessen hatte. Um 17 Uhr verließ sie dann erneut das Haus.

9. Aufsatz: »Ich bin!« oder Der Schrei nach Aufmerksamkeit. Über die Rolle(n) des Wissenschaftlers Tim Boson im Weblog des Alban Nikolai Herbst. (forthcoming 2010)

 
Weitere Vorworte des Herausgebers zum aktuellen Jahrgang

 
I (29. Januar)   —   II (20. April)   —   III (22. Mai)
 


Tarzan und das deutsche Feuilleton

Paris, 24. August 2009, 10:56 | von Paco

Tarzan of the Apes (Cover)Nachdem ich mehrfach dazu aufgefordert wurde, war ich nun endlich einmal im Musée du Quai Branly, um mir die »Tarzan!«-Ausstellung anzusehen. Ich mäanderte den verschlungenen Eingangspfad nach oben und ging immer dem Gejodel nach: Iaaaiaiaaaiaiaaa!

Alles begann 1912 mit E. R. Burroughs‘ Roman »Tarzan of the Apes«. Es folgten 25 weitere Bände mit immer absurderen Plots. In »Tarzan and the Lost Empire« (1929) etwa findet der Lendenschurzträger mitten im afrikanischen Urwald einen alten Außenposten des Römischen Reichs, der dort die Jahrtausende überdauert hat, und wird sofort in die Arena geschubst, wo er allerlei wildes Getier bewältigen muss.

Die künstlerische Verarbeitung der Figur übernahmen die Filmstudios und Comic-Zeichner, mit deren Produkten die Pariser Ausstellung dann auch vor allem bestückt ist. Überall flimmern Filmausschnitte und prangen flächenweise Originalzeichnungen. Soweit die Sachlage, die auch vom tarzanbegeisterten deutschen Feuilleton aufs Genauste geschildert wurde, denn es gab (mindestens) fünf hauptamtliche Rezensionen:

Sascha Lehnartz: »Tarzan hangelt sich von der Liane in die Vitrine«, WELT, 26. Juni 2009

Werner Spies: »Ich Tarzan, du Leser«, FAZ, 6. Juli 2009

Johannes Willms: »Sexprotz im Dschungel«, SZ, 11. Juli 2009

Martina Meister: »Der Schrei des Menschenaffen«, FR, 14. Juli 2009

Samuel Herzog: »Jungfer im Grünen«, NZZ, 25. Juli 2009

Der persönlichste und sprachgewaltigste Artikel ist der in der NZZ. Unter all den eindrucksvollen Jugenderinnerungen, schönen Metaphern und Wortfindungen (»tarzanös«) kommt sogar ein Kalauer ziemlich gut, nämlich wenn der Autor rhetorisch fragt, ob an den Affenmensch-Storys nicht womöglich der »Tarzahn der Zeit« genagt habe.

In der FAZ gibt es einen veritablen Essay zum Thema, der sich gut wegliest. Werner Spies zieht erwartungsgemäß auch ein paar überraschende kunsthistorische Vergleiche. Zur »Haken schlagenden Strichführung« der Comics schreibt er: »Die Lianen, grafische Lassos, lassen an die ›écriture automatique‹ der Surrealisten denken.«

Martina Meister in der FR findet die Schau zu kuschelig. Die tarzanischen Abenteuer seien beispielsweise an keiner Stelle mit Burroughs‘ Eugenik-Interesse abgeglichen worden. Am Mythos habe man eben nicht kratzen wollen, ganz im Gegenteil: Am Ende des Parcours wird Tarzan als Öko-Held aktualisiert, der auf den Urwald aufpasst und ihn vor äußeren Gefahren schützt.

Sascha Lehnartz in der WELT hat einen sehr, sehr schönen Satz gefunden, um seine Gelangweiltheit auszudrücken: »Das Ganze wirkt wie ein mit Requisiten ausstaffierter Schulaufsatz.«

Johannes Willms sieht das genauso. Die SZ hat wie so oft die beste Überschrift (»Sexprotz im Dschungel« – superst!), dabei aber den schlechtesten Artikel. Denn Willms doziert vor sich hin und kommt erst im vorletzten Absatz auf die Ausstellung selbst zu sprechen, die er für »harmlos« und »reichlich unspektakulär« hält. Was letztlich auch stimmt.

Noch bis 27. September.
Bild: Wikimedia Commons.


Volker Hages Kehlmann-Artikel vor Gericht

Konstanz, 6. Februar 2009, 17:27 | von Marcuccio

Literaturkritiker kennen sich aus im Gerichtssaal: Sie sind Ankläger und Anwälte der Literatur, fällen Urteile und gelten schon mal als »Dorfrichter Adam der Literaturszene« (Jochen Hörisch über MRR).

Aber wie gut kennen sich Gerichte eigentlich in der Literaturkritik aus? Danach fragt dieser Tage komischerweise keiner. Der Rowohlt-Verlag verklagt den »Spiegel« wegen Missachtung der Sperrfrist bezüglich des neuen Kehlmann-Buchs – eine Vertraulichkeits­erklärung hatte alle Empfänger eines Vorabexemplars verpflichtet, keine Besprechung vor dem 16. Januar zu veröffentlichen.

Die Feuilletons berichteten, am scharf­sinnigsten vielleicht die »Welt«, die feststellte, dass der Streitwert sicher nicht der vollen Konventionalstrafe (250.000 Euro) entspricht, »weil sich die verhohlene ›Ruhm‹-Rezension als Porträt tarnt. Insofern wird das Gericht sich auch zur Trennschärfe zwischen journalistischen Genres äußern müssen«.

Wohl wahr. Hochrichterlich verhandelt werden wird und muss also, zu welchen Teilen Volker Hage mit seinem Artikel eine Rezension und zu welchen Teilen er ein Porträt verfasst hat. Damit hat das Gericht etwas zu klären, was nicht mal innerhalb der Literatur­berichterstattung selbst klar ist, denn die Grenzen zwischen Personality und echter Kritik sind ja seit Jahren eigentlich an vielen Stellen fließend. Auch eine spezifische Genre-Theorie der Literatur­berichterstattung existiert bislang nicht, es gibt so gut wie keine Fachliteratur zum Thema.

Das Pikante an der Sache: Ausgerechnet (der symbolisch angeklagte) Volker Hage könnte vom Gericht nun als Sachver­ständiger, als Gutachter seiner selbst herangezogen werden. Für den August ist bei Suhrkamp nämlich sein Kompendium über »das breite Spektrum journalistischer Beschäftigung mit Literatur« angekündigt.

Und egal wie das Urteil ausfällt, die schriftliche Urteils­begründung wird ein prima Plädoyer für Hages Buch über Literatur­journalismus sein – die »Tätigkeit, die sich keineswegs nur auf das Rezensieren von Büchern beschränkt, sondern zugleich Textformen wie Porträt, Interview, Glosse, Leitartikel, Debatten­beiträge oder Nachrufe umfaßt. Ein solcher Leitfaden – nicht zuletzt für Studenten und Journalistenschüler – hat bisher gefehlt.« (Kurzbeschreibung)

Wenn sich das Gericht zur Prüfung der täterlichen Genre-Tatsachen jetzt nicht sofort ein Vorabexemplar kommen lässt, dann weiß ich auch nicht.

Und was ist eigentlich mit der FAS? Immerhin erschien der große Kehlmann-Report (in der Nr. 2/2009 vom 11. Januar) ja auch vor dem Erstverkaufstag 16. 1. – was die Frage aufwirft, ob hier entweder eigene Sperrfristen galten oder ob es mit der Institution Erstverkaufstag sowieso nicht so weit her ist, wie Rowohlt behauptet. Das Thema Sperrfrist brodelt also weiter – siehe auch den PT-Essay von Ekkehard Knörer.


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2008

Zürich, 13. Januar 2009, 02:31 | von Paco

Da kommt er endlich ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf 2008:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2008:

1. Iris Radisch (Zeit)
2. Jörg Diehl/Ralf Hoppe (Spiegel)
3. Johan Schloemann (SZ)
4. Alex Rühle (SZ)
5. Benjamin von Stuckrad-Barre (Welt)
6. Ingeborg Harms (FAZ)
7. Oliver Jungen/Richard Wagner (FAZ)
8. Andreas Maier (Zeit)
9. Gustav Seibt (SZ)
10. Christian Zaschke (SZ)

Zusammen bilden diese 10 Texte vielleicht wieder einen repräsen­tativen Reader des 2008er Jahrgangs des deutsch­sprachigen Feuilletons, der weltweit hervorragendsten Publikationsbastion.

Unser Lieblingstext, Iris Radischs fulminante Besprechung des Romans »Die Wohlgesinnten«, hat sich in den letzten Monaten aus verschie­denen Gründen als der Artikel mit der größten Tiefen­wirkung erwiesen. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006 und 2007 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Und bevor wir es vergessen: tausend Dank an CZZ und Gregor Keuschnig sowie an alle, die uns mit Nominierungsvorschlägen versorgt haben.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 1):
60 Jahre »Welt am Sonntag«

Konstanz, 20. Dezember 2008, 08:40 | von Marcuccio

Wie war das noch? Alles muss raus!? Jetzt noch mal feiern, bevor die Krise richtig kommt … Auf jeden Fall war 2008 ja noch mal ein Jahr voller Extrablätter, sprich Party-Time für Umblätterer.

Unsere/meine* Lieblingsjubiläen (*falls ich hier Umbl-Minder­heitenpolitik mache, hehe): Es gab 60 Jahre WamS30 Jahre taz – und 1 Jahr »Frankfurter Rundschau« im Tabloid-Format.

+++ Nürnberg verhängt 12 Jahre Gefängnis für Alfred Krupp +++

+++ Die Kapazität der Luftbrücke jetzt bei 8000 Tonnen täglich +++

+ Der sowjetische Außenminister Molotow auf dem Rückweg nach Moskau +

Soweit die Nachrichtenlage des 1. August 1948. Die WamS hatte zur Feier ihres Sechzigers nämlich ein feines Reprint der Erstausgabe beigelegt (PDF), und das ist schon deswegen klasse, weil plötzlich alles wieder Alliiertenlizenz ist. »WamS«, »Spiegel« oder »Zeit« – sie sind ja alle älter als die BRD.

Noch älter ist eigentlich nur der Stern, Günter Stern. Der WamS-Veteran der ersten Stunde bekommt in der Jubiläumsausgabe sein Ehrenfoto, weil er 1948, kaum aus der Kriegsgefangenschaft zurück, die WamS mit der Nullnummer zu lesen begann und bis heute liest – als Abonnent, versteht sich.

Im Prinzip, hehe, könnten wir hier ruhig auch schon mal in die nicht existierenden Statuten schreiben, wer denn anno 2061 zum 60. der FAS posiert … Ich finde ja: Dique und Paco sollten das tun, und dann bitte so wie Statler & Waldorf von der Ehrenloge.

60 Jahre WamS sind irgendwie auch staatsmännisch, eine Zeitung voller Altkanzler. Auf einem Foto von 1961 sitzt Konrad Adenauer in einer Maschine der Bundesflugbereitschaft und liest Zeitung, »Welt am Sonntag« natürlich (siehe PDF).

»Im Namen von Freiheit und Lesefreude« steht drüber, und drunter »der Alte« mit getönter Brille und ernster Miene (Mauerbaujahr). Nur bleibt das ja trotzdem eine Text-Bild-Schere: Will uns die Jubilee-WamS damit wirklich sagen: 1961, 40 Jahre vor dem Start der FAS, sah Sonntags-»Lesefreude« so uninspiriert aus wie der späte Adenauer beim WamS-Lesen? Sorgenvoll und matt und müde?


Die Wahrheit über Joachim Lottmann

Dresden, 8. Dezember 2008, 10:30 | von Paco

Die sicherste Weise, einen Stammplatz in der Literaturgeschichte abzukriegen, ist, sich mit allen Mitteln unumkehrbar mit dem Namen des größten lebenden Dichters aller Zeiten zu verknüpfen. Früher schrieb man irgendeinen belanglosen Brief an Goethe – dann wird man noch hunderte Jahre später mindestens in einer Regestausgabe namentlich erwähnt. Und, anderes Beispiel, Karl Ludwig Sand hat Kotzebue ermordet – das reicht immer noch für jedes mittlere literaturgeschichtliche Kompendium. Usw.

Und Joachim Lottmann hat als Erster überhaupt erkannt, dass Rainald Goetz, zumindest in den Jahren 2001 bis 2006, in denen er durch Nichtveröffentlichung hervortrat (ein performativer Akt, der unbedingt zum Œuvre zu rechnen ist), der Goethe unserer Zeit war. Schon vorher hatte Lottmann kaum einen Text geschrieben, ohne Goetz zu erwähnen, und das setzte er systematisch fort (zuletzt hier, hier, hier). Es hat ganz sicher funktioniert: Keine Literaturgeschichte wird je über Goetz sprechen können, ohne »Die Goetz-Rezeption bei Joachim Lottmann« unerwähnt zu lassen.

Doch dann passierte etwas. Unabhängig davon war Lottmann so eine Art guter Schriftsteller geworden, einige sagen sogar: sehr guter. Dabei hatte ihn die »Literarische Welt« ihren Lesern noch im Jahr 2003 als »Jürgen Lottmann« vorgestellt (und sich dafür entschuldigt). Die Namensvariante scheint sich allerdings langsam durchzusetzen (DeutschlandRadio Berlin, literaturkritik.de, Tivoli-Blog und noch mal die »Welt«) und zur Popularität des Autors beizutragen.

Denn spätestens seit 2004, 2005 oder 2006 wird Lottmann – vorerst noch in nicht-öffentlichen Gremien – der Klassikerstatus zugesprochen. Und Goetz musste das mitbekommen haben. Nachdem er Lottmann in »Abfall für alle« (1998/99) nur kurz und relativ negativ erwähnt hatte, kam er nun in seinem Vanity-Fair-Projekt »Klage« (2007/08) mehrfach auf ihn zu sprechen. Jedes Lottmann-Kapitel in jeder durchschnittlichen Literaturgeschichte wird nun umgekehrt auch Goetz mit nennen müssen, als Teilnehmer an der »Frühgeschichte der Lottmann-Rezeption in Europa«.

Doch dabei bleibt es nicht. In diesen Wochen und Monaten, wir alle spüren es, ist einer dieser schwer erklärbaren literaturgeschicht­lichen Synergieeffekte am Werk.

Goethe und Schiller. Grass und Walser. Goetz und Lottmann.