Archiv des Themenkreises ›Die Welt‹


Voyage Voyage (Teil 2):
Rimini revisited

Konstanz, 5. Dezember 2008, 08:58 | von Marcuccio

Weiter geht’s mit im Gedächtnis gebliebenen Reisefeuilletons:

Sönke Kröger: Ein Wiedersehen mit der Adria.
In: Welt am Sonntag, 29. Juni 2008.

In einer Serie für die WamS fuhren Reise-Redakteure diesen Sommer mal zurück an die Urlaubsorte ihrer Kindheit. Also dahin, wo sie vor vielleicht 20, 30 Jahren mit ihren Eltern die »großen Ferien« verbracht haben. Eine Idee, die auf jeden Fall zum Erzählen einlädt, denn besichtigt wird neben der touristischen auch die eigene familiäre Vergangenheit.

Sönke Kröger zum Beispiel fuhr in den Siebzigern mit Mama, Papa, Bruder immer »im weinroten Opel Rekord« an den Teutonengrill, und allein das als Bekenntnis hat für manche ja schon doppelten Outing-Charme.

Zum ersten Mal nach 30 Jahren kehrt Kröger nun also mit seiner Mutter an die Originalschauplätze zurück:

Sie nehmen die gleiche Unterkunft (»Heute wissen wir, wie man ›degli Angeli‹ korrekt ausspricht«), sie mieten die gleichen organisierten Liegestühle am Strand, und sie hören den gleichen »cocco bello«-Lockruf des Kokosnussverkäufers durch die Schirmreihen.

Ja, sie begegnen sogar den gleichen Leuten: Die Lamms aus Bayern kommen immer noch nach Rimini! Wie eh und je fahren sie samstags in der Früh los, damit sie abends im Hotel die schöne Lasagne bekommen, »die seit Jahrzehnten samstags auf dem Speiseplan steht«.

»Immer noch« oder »so wie früher« sind überhaupt Schlüsselwörter des Artikels. Dass Krögers Text trotzdem nicht in einen Generation-Golf-Reise-Remix abdriftet, liegt daran, dass neben aller Nostalgie eben auch ganz reale Gegenwart herrscht: Im Hotel haben die (wiewohl schon fast wieder hippen) Badfliesen aus den Siebzigern halt nur überlebt, weil die Hotels hier allesamt unter »Sparzwang« stehen: Neben treuen deutschen Rentnern stellen nämlich vor allem »italienisches Prekariat« und »Polen auf Schnäppchenjagd« das Gros der Gästeschaft.

›Das Gegenteil von Gentrifizierung‹ würde man wohl sagen, wenn die Destination Rimini ein Stadtteil wäre. Wer – wie Sönke Kröger – 30 Jahre nicht mehr da war, stellt Fragen: Waren die Käsenudeln im Hotel damals eigentlich auch schon so matschig? Haben wir wirklich nie was vom Hinterland gesehen?

»›Dein Vater wollte das so‹, sagt meine Mutter«, und spätestens jetzt wird klar, dass auch Krögers nicht mehr die von früher sind. Die Eltern haben sich Ende der Siebziger scheiden lassen, und man weiß nicht, wie sehr auch der Teutonengrill dran schuld war:

»Meine Mutter entwickelte sich fortan zur neugierigen Reisenden (…). Mein Vater ist dagegen dem Strand treu geblieben. Gerade war er in der Türkei, im Hotel Sandy Beach in Komköy, direkt am Meer. ›32 bis 45 Grad, Essen und Zimmer sehr gut, mehr Urlaub geht nicht‹, schrieb er.«


Das wahrscheinlich unwahrscheinlichste Remake aller Zeiten

Hamburg, 8. Oktober 2008, 07:57 | von San Andreas

Wo immer die »Welt« ihre Quelle hat für die Serie kleiner Artikel großer Leute zum Thema »Meine DVD« (u. a. Jerry Seinfeld, Marc Forster und Guillermo del Toro) – neulich gab die Rubrik dem Regisseur Abel Ferrara die Möglichkeit, seinen Unmut über das bevorstehende Remake seines kontroversen Cop-Dramas »Bad Lieutenant« zum Ausdruck zu bringen:

Nichts gegen Werner persönlich, aber ich wünsche der gesamten Crew der Neuverfilmung die Pest an den Hals.

Oh, wie harsch. Und welcher ›Werner‹? Doch nicht etwa …? Aber ja, ganz genau: our very own Werner Herzog. Hierzulande kurz davor, vergessen zu werden (sein Vietnam-Fluchtdrama »Rescue Dawn« von 2006 harrt immer noch eines Starttermins, während die halbe Welt ihn schon sehen durfte, darunter Kuwait, Polen, Island und Brasilien), schickt sich Meister Herzog nun an – 16 Jahre nach dem Original – »Bad Lieutenant« neu zu erfinden.

Eine merkwürdige Idee, gelinde gesagt, zumal die Thematik so gar nicht in Herzogs Output der letzten Zeit passen will: da hatten wir fantastische Dokus wie »Grizzly Man«, »The White Diamond« und aktuell »Encounters at the End of the World«, er schrieb die köstliche Mockumentary »Incident at Loch Ness«, in der er sich selbst spielte, und seit dem Hanussen-Vehikel »Invincible« war der hervorragende »Rescue Dawn« sein erster Spielfilm seit langem gewesen.

All diesen Werken ist eines gemein: Herzog zeichnet höchstselbst für das Drehbuch verantwortlich, so wie sich das für einen Autorenfilmer gehört. Für »Bad Lieutenant« nun nimmt er die Dienste eines gewissen William M. Finkelstein in Anspruch, seines Zeichens Autor und Produzent von TV-Polizeiserien wie »NYPD Blue« und »Law & Order«. Aha. Hmm. Hä?

Aber der Knaller kommt erst noch: Die Hauptrolle übernimmt kein anderer als Mr. Nicolas Cage, derletzt als Träger schlechter Frisuren in noch schlechteren Filmen zu bewundern (»Bangkok Dangerous«, »National Treasure: Book of Secrets«, »Next«). Ihm zur Seite stehen attraktive Akteure wie Eva Mendes und Val Kilmer. Nach üblem Mainstream riecht das, und Ferrara kann die zu erwartende Hollywoodisierung seiner grenzgängerischen Filmprovokation nur schwer verknusen. In Cannes nach seiner Meinung dazu befragt, reagierte er fast etwas ungehalten:

I wish these people die in hell. I hope they’re all in the same streetcar, and it blows up.

Und Herzog, der ja durch die harte Kinski-Schule gegangen ist und Verbalausfälle seelenruhig zu parieren weiß, wie reagiert er auf diese Anfeindungen? Wie erwartet:

That’s beautiful! […] Wonderful, yes! Let him fight! He thinks I’m doing a remake.

Jetzt wird es kompliziert. Herzog steht offenbar unter dem Eindruck, sein Film wäre *kein* Remake. Wie man hört, soll tatsächlich der Schauplatz ein anderer sein, was auch ein Untertitel unmissverständlich klar macht: »Port of Call New Orleans«. Aber es geht schon um einen Officer, der allen möglichen unschicklichen Obsessionen nachhängt? Jawohl.

Nun ist das eher eine Sache von Wortklauberei: Wann ist ein Remake ein Remake? Herzogs Verteidiger bringen Beispiele wie James Bond und Inspektor Clouseau, doch sind das eindeutig Filmserien und keine Versionen derselben Geschichte. Ist Werner Herzogs »Nosferatu« ein Remake gewesen? Nein, sagt er, das war eine Hommage. Aha. Und kann sein Bad Lieutenant eine Hommage an Abel Ferrara sein? Aber nicht doch, denn:

I have no idea who Abel Ferrara is. […] I don’t know what he did – I’ve never seen a film by him. I have no idea who he is. Is he Italian? Is he French? Who is he?

Es scheiden sich die Geister, ob man Herzog so viel Ignoranz abnehmen kann. Irgendein Stabmitglied muss ihn doch irgendwann mal beiseite genommen und ihm geflüstert haben, dass es da draußen schon einen Film mit diesem Titel und dieser Geschichte gibt …

Wie dem auch sei, Abel Ferrara soll mal ganz ruhig sein, schließlich war sein Film »Body Snatchers« ebenfalls das Remake eines gerade mal 15 Jahre alten Streifens (seinerseits bereits ein Remake), und ein überflüssiges und schlechtes noch dazu.


El destino del Umblätterer

Göttingen, 30. August 2008, 16:45 | von Paco

¡¡¡Henryk M. Broder en el »Frankfurter Allgemeine«!!! En realidad sólo responde, prudente como siempre, al texto de Patrick Bahners. Pero imaginarme que él podría escribir para el »FAZ«, como redactor, me emocionó.

En el diario »Die Welt« un tal Wolfgang Schuller escribe en contra de la genial traducción que Raoul Schrott hizo de la »Ilíada« de Homero. Schrott no usa el hexámetro y, sobre todo, juega tanto con el original que no le gusta a Schuller. Sea como sea, me gusta la idea que Helena y Paris se amaran »dass die Bettpfosten wackelten«. ¡Maravilloso!

Después de terminar todos los artículos en ambos diarios decidí comprar el »Süddeutsche« en el Tonollo, el mejor negocio de diarios en toda Baja Sajonia (digamos).

Valió la pena. Jörg Häntzschel vio los primeros episodios de la segunda temporada de »Mad Men« y escribió un buen texto sobre ésta. Absolutamente es acertada su observación de los años sesenta que muestra la serie: »noch tragen die Sekretärinnen Busen wie Atomraketen, die Moskau erreichen könnten«, jaja.

El destino del Umblätterer: Como ya leí los folletines del 30 de agosto de 2008, hay que esperar hasta mañana que se publique el »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«.


Matussek, Folge 85:
Linker und rechter Fußball

London, 23. Juni 2008, 19:37 | von Paco

Und weiter. Nach den Folgen 56, 63 und 69 heute Folge 85. Wie immer passiert alles in der sentimentalischen Genauigkeit der Einträge auf der Serien-Website TV.com. Have fun!

Matusseks Kulturtipp (2006 and on)

Ep. Title: »Matusseks EM-Studio: Linker und rechter Fußball«
Episode Number: 85
First Aired: June 17, 2008 (Tuesday)
URL: http://www.spiegel.de/video/video-31808.html

Synopsis

To mark the occasion of the 2008 UEFA European Football Championship hosted by Austria and Switzerland, Matussek mixes football with politics in this episode. Accompanied by his buddy Goethe, he collects statements of more or less renowned friends, journalists, and politicians to make his point. In the end, he skeptically removes his patriotic cheek painting as the 2006 World Cup spirit seems to be gone somehow. This episode also holds two surprises: one regarding the infamous Córdoba match from 1978, the other involving an alleged quote from Goethe’s and Schiller’s couplet collection »Xenien.«

Cast

Star: Matthias Matussek (himself)

Recurring Role: Goethe (himself)

Guest Star: Angela Merkel (herself, only seen in photos), Joachim Lottmann (himself), Thomas Schmid (himself), Gregor Gysi (himself), Oskar Lafontaine (himself), Christoph Metzelder (himself), Oliver Bierhoff (himself), Alexander Kluge (himself)

Memorable Quotes

Matussek (meeting up with Thomas Schmid): »Ich stellte ihn in der Raucherecke des Springer-Hochhauses, (es) erinnerte ein bisschen an Guantánamo.«

Thomas Schmid: »Da gibt es ja seit Netzers Zeiten und seit dem berühmten Che Guevara im Porsche oder Jaguar, ich weiß nicht mehr, drin, viele, viele Spekulationen, der eher kollektive, eher kollegiale, der eher leistungsorientierte Fußball, ich glaube, das ist Quatsch, das ist alles eine Suppe.«

Gregor Gysi (when asked about the condition of the German national football team): »Ich hab immer gesagt, nicht wieder, dass wir in den letzten Tagen einknicken, sondern durchziehen.«

Oskar Lafontaine (about Michael Ballack as possible lifelong captain of the national team): »Ja, ich fürchte, dass da etwas übersehen wird, nämlich die Kondition des Mannschaftsführers. Er ist sicherlich jetzt ein sehr guter Spieler. Ob er das in 50 Jahren noch ist, da hab ich meine Zweifel.«

Matussek (to German coach Joachim Löw, over the phone): »Sage mal, was ihr für Scheiße hier zusammenspielt. Das könnter doch net mache.«

Christoph Metzelder: »Ich glaube, dass es normal ist, dass man nach so einem Spiel sich auch hinterfragt als Mannschaft, als Verantwortlicher, als Trainerstab.«

Matussek (reinterpreting Córdoba 1978): »Wir hatten einfach keine Lust, in dem argentinischen Junta-Staat, dem Folterstaat, mit Fußball zu glänzen. Die Österreicher konnten das leichter abschütteln, hatten damit keine Probleme.«

Matussek (to Alexander Kluge): »Es ist wichtig, dass Sie, wenn Sie nicht mehr weiterwissen, ist es immer gut, wenn Sie einen Goethe dabeihaben. Ich hab bei meinen Blogs immer einen Goethe dabei.«

Matussek: »Fußball theatralisiert die Seelenlage einer Nation wie nichts Anderes.«

Trivia

Running time of this episode: 7’00 mins.

This episode starts without any form of intro or opening credits.

Matussek wears no suspenders in this episode except for a few shots during the closing credits. Instead, he wears one of these Hawaiian flower necklaces in black–red–gold, the official German colors. In one scene, he can be seen wearing a football scarf, also in German colors.

»Der alte Schirrmacher« (»good old Schirrmacher«) is not mentioned in this episode. The same goes for Ding and Dong (i. e., Mephisto).

There’s footage showing German author Joachim Lottmann commenting Croatia’s defeat of Germany on June 12th. Lottmann is seen with a couple of teenage fans introduced by Matussek as a »family from the Northern outskirts of Berlin.« Matussek and Lottmann used to work together at »Spiegel« magazine.

Thomas Schmid whom Matussek happens to meet in the smoking area of the Springer-Hochhaus is editor-in-chief of »Die Welt«, a conservative daily published by Axel Springer AG. From 2000 to 2006, Schmid worked for »Frankfurter Allgemeine Zeitung« which is also regarded as conservative (see signandsight’s key to German newspapers). In the eighties, Schmid had mainly worked for leftist publications.

Matussek published a discerning story on Gregor Gysi, head of Germany’s Left Party, in »Spiegel« magazine, no. 23 (June 2, 2008), pp. 48-50. Thus the scenes with Gysi contained in this episode can be considered outtakes since none of his statements made it into the actual article.

Instead of flocking to a public viewing, Matussek retreats to a private session to watch the match between Croatia and Germany. There he urges two kids to snatch the ball out of the game projected to the wall of the living room to help the German team protect its penalty box. (It didn’t help, though.)

In the second half of the match between Croatia and Germany, Matussek rings up German coach Joachim Löw to ask what on earth his team is doing (see Memorable Quotes). As Löw was not seen holding a phone during the match, Matussek may have dialed the wrong number.

Since football as we know it was invented after Goethe’s death in 1832, it appears to be quite prophetic that the revered German poet already alludes to it in the first part of his tragedy Faust whose first drafts date back to the 1770s: »Da steh ich nun, ich armes Tor! / Und bin so klug als wie zuvor« (»So here I stand, a poor goal! / None the wiser than before«).

German chancelière Angela Merkel is only seen in photos where she seems to be talking to Matussek about his 2006 book, »Wir Deutschen« (»We Germans«). In the beginning of this episode, he already denoted this essayistic piece as a »licence to cheer« for the German fans during the 2006 World Championship which took place in Germany.

The scenes showing defender Christoph Metzelder and team manager Oliver Bierhoff talking to journalists during a press conference are not shot by Matussek himself but taken from another source.

This episode was followed by a remix episode released three days later (June 20th) after the German team beat Portugal in the quarter finals by 3–2 in Basel on June 19th. It goes by a slightly altered title, »Matusseks EM-Remix: Linker, rechter und guter Fußball«, and mainly revises several ideas mentioned in the original video blog. It also contains some new material, though, like the opening scene where Matussek cries, »Aus! Aus! Aus!«, paying tribute to German sports reporter Herbert Zimmermann (1917–1966) who used the exact same wording after (West) Germany beat Hungary in the World Cup final of 1954 (»Miracle of Berne«).

Allusions

Matussek wears the patriotic black, red, and gold face paint but to express the curbed enthusiasm of both, the German national football team and the German fans, it was applied in the shape of a question mark.

The biggest surprise in this episode is Matussek’s reinterpretation of the infamous match between Austria and Germany in Córdoba, Argentina, during the World Championship in 1978. He insinuates that Germany lost on purpose to protest the Argentinean military junta. In contrast, Austria didn’t seem to care about the whole thing and beat (West) Germany by 3–2. This new hypothesis easily overthrows another famous reinterpretation of the match: sports commentators Grissemann & Stermann suppose that its final score actually amounted to a 5–0 in favor of Germany since all 22 players on the field where after all German (see here for details).

Matussek mentions a popular Goethe dictum, »Stolpern fördert« (»to stumble brings forward«) and provides his and Schiller’s »Xenien« as its source. Yet this small piece of wisdom, jotted down by Goethe during his second journey to Italy, never made it into a poetic work. The respective note reads, »Holl. Spr. W. Stolpern fördert.« – »Holl. Spr. W.« is an abbreviation for »Holländisches Sprichwort«, i. e., »Dutch proverb.« According to Jacob and Wilhelm Grimm’s »Deutsches Wörterbuch« (vol. 19, 229), »Stolpern fördert« is a proper German saying. Goethe also lists an Italian equivalent: »Un calce in culo fa un passo avanti.« However, this sentence must be corrected: the misheard ›calce‹ is to be replaced by ›calcio‹. Since ›calcio‹ is also the Italian word for ›football‹ the wheel comes full circle here. This indicates that delivering the wrong source was intended by Matussek to send us off on a little journey ad fontes.


Fußball-Feuilleton (Teil 4):
Eidgenössisches Protektorat Ostpreußen

Konstanz, 7. Juni 2008, 16:52 | von Marcuccio

Käse stand bis jetzt noch nie in Tobi Müllers Eurokolumne, aber die Sache mit Tilsit wäre doch mal ein echter Leckerbissen für die deutsch-schweizerische Völkerverständigung zur EM (von wegen »Nazi«-Sturm usw.). Denn ich frage mich manchmal: Ist das wirklich passiert? Dann muss ich es noch mal lesen, aus dem Protokoll der Gründung von Tilsit vom 1. August 2007:

»Zum Ostpreussen- und Thurgauerlied wurde die Tilsit-Ortstafel enthüllt. […] Horst Mertineit, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V. mit Sitz in Kiel, überbrachte als Gastgeschenk den Bronzenen Elch (Symbol von Ostpreussen/Tilsit) und eine Tilsit-Fahne. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Gründungsurkunde wurden die Tilsit-Strassentafeln gesetzt. Sie erinnern daran, dass hier der erste Schweizer Tilsiter hergestellt wurde […].«

Da machen die Schweizer also klar, was in Deutschland noch nicht mal mehr ein Vertriebenenverband öffentlich zu fordern wagt: Sie sorgen dafür, dass in Tilsit wieder deutsch gesprochen wird, ja, sie holen Tilsit heim ins (Käse-)Reich. Und als stolze Bürger, die seit angeblich über 160 Jahren (Weltrekord?) keinen Krieg kennen, tun sie das sogar noch zu ihrem Nationalfeiertag. Sogar die NZZ berichtete über diesen, klar, am Ende natürlich nur käsemarkenstrategisch erfolgreichen Feldzug. Trotzdem liegt die Frage nahe: Wie viel Löwenzahn, hehe, steckt eigentlich in so einem Stück Schweizer Tilsiter?


»Die rasende Radisch«: Die FAS vom 24. 2. 2008

Leipzig, 24. Februar 2008, 23:03 | von Paco

Bevor es gleich ums FAS-Feuilleton geht: SP*N hat eben einen leicht launigen Geburtstagsgruß Richtung »Monocle« geschickt. Darin wird mal schlagend zusammengefasst, was das Magazin so angenehm macht: »Keine IT-Milliardäre, keine Celebrities, kein YouTube-Hype.« Klingt wie das Gegenteil von SP*N, hehe.

Wir lesen »Monocle« übrigens genauso regelmäßig wie die FAS, und damit zur aktuellen Ausgabe, die man am heutigen Sommersonntag mitten im Februar schon auf den Terrassen aller Kaffeehäuser des Monats lesen konnte.

Aufmacher ist ein Gespräch zwischen Julia Encke und Charlotte Roche. Die beiden siezen sich, und das wirkt irgendwie unfreiwillig komisch, wenn es dabei um Masturbation im Badezimmer und Intimrasuren geht.

Dann Klaus Theweleit zu Littell und den »Wohlgesinnten«. Auf der Seite prangt wieder die Thalia-Werbung (»Das beste Buch des Monats!«), dieser freiwillige oder unfreiwillige Gag kommt immer noch so gut wie letzte Woche.

FAS, Buch des Monats, im Hintergrund die Peterskirche

Nun aber zu Theweleits Aufsatz: Auf diese Stimme hat man irgendwie gewartet. Tilman Krause hatte ja in der »Welt« dreisterweise sogar geschrieben, dass Littell »unserem Bild vom faschistischen Charakter neue, über Theweleits ›Männerphantasien‹ hinausgehende Züge gibt«, und da ist es an der Zeit, dass er selbst spricht.

Zunächst arbeitet sich K. T. aber an der (meiner Meinung nach sehr guten) Rezension von Iris Radisch in der »Zeit« ab. Er nennt sie die »rasende Radisch«, und sofort ist klar: Es geht ein bisschen um Polemik.

Er kann Radisch jedenfalls nicht plausibel widerlegen. Ihm gelingt es aber, und das ist viel wichtiger, eine neue Phase in der Debatte um das Nicht-Jahrhundertbuch (Schirrmacher) einzuleiten. Es geht jetzt um Details, nicht mehr um das große Ganze, über das ohnehin schon alles gesagt wurde, bevor das Buch gestern offiziell erschienen ist.

Die Artikelüberschrift – »Der jüdische Zwilling« – deutet schon an, worin Theweleit einen interpretatorischen Schlüssel vermutet, nämlich in der Darstellung der »affektiv-intellektuellen Symbiose des ›Deutschen‹ mit dem ›Jüdischen‹«. Insgesamt psychologisiert Theweleit etwas zu mutig, es wurde mir auch etwas schwindlig dabei, sozusagen, aber den Aufsatz sollte man sowieso am besten nächste Woche noch mal lesen.

Als es am Ende noch mal um die literarische Qualität geht (die den »Wohlgesinnten« ja reihenweise abgesprochen wurde), prägt Theweleit übrigens, womit er eigentlich die Littell-Kritiker imitieren will, das Wort vom »Literaturgefreiten Littell«, und das ist doch mal eine schöne plastische Formulierung.

Ein paar Seiten weiter gibt es ein Interview, das der Interviewkünstler André Müller mit der Violinistin Julia Fischer geführt hat (die Stefan Raab und Tokio Hotel nicht kennt). Wie es sonst nur bei Jonas Kaufmann üblich ist, stellt Müller der Bildungsgeigerin beständig Fragen nach ihrem Aussehen, die sie aber alle abwehrt. Dann folgende Stelle:

Müller: »Kunst, sagen Sie, ist nicht Unterhaltung.«

Fischer: »Ja, das sage ich, denn ich finde, es gibt eine Trennlinie zwischen der Kunst und dem Entertainment.«

Diese Stelle ist deshalb so herrlich, weil genau auf der gegenüberliegenden Seite Reich-Ranicki widerspricht, Schiller zitierend:

»Der Zuschauer [und natürlich der Leser; R. R.] will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er …«

In der FAS haben schönerweise auch Widersprüche Platz, hehe.

Und zum Schluss noch, hätte ich fast überlesen, die Kolumne »Nackte Wahrheiten«, heute bespielt von Claudius Seidl. Er rechtfertigt sich dafür, dass das Bestsellerbuch »Generation Doof« nicht von der FAS besprochen wird. Denn »die beiden Autoren (waren) beim sogenannten Kerner eingeladen«, und C. S. hat zugesehen und den Titel des Buches offenbar auf das Autorenduo beziehen müssen, und dann wurde entschieden:

»Nein, haben wir vom Feuilleton zu uns selber gesagt, ganz gegen unsere Gewohnheit: Angesichts dieser Variante der Dummheit erklären wir uns einfach mal für unzuständig.«


Kommt jetzt Krauses Klartext-TV?

Konstanz, 29. November 2007, 16:50 | von Marcuccio

Viele haben drauf gewartet, letzten Samstag war es soweit: Tilman Krause (KA-Fragebogen) verkündete das Ende seiner Kolumne nach sieben Jahren.

Vielleicht zeigt der Niedergang des Klartext-Krause aber auch einfach nur die Transformation eines Genres an: Über Krauses weitere Karrierepläne als Videoblogger mochte die FAS letzten Sonntag zumindest schon mal randspaltenmäßig (S. 25) spekulieren.

Und dem Umblätterer wurde jetzt – sensationell – das schon drei Jahre alte Drehbuch für die erste Folge von »Krauses Klartext-TV« in die Hände gespielt:

Ina Hartwig:
Zuerst möchte ich Tilman Krause gerne widersprechen. Dieses Beschwören des Bildungsbürgertums, lieber Tilman, bringt uns gar nichts meiner Meinung nach. Tust du das nicht letztlich nur für dich selbst?

Tilman Krause:
Das tue ich für meine Leser!

Ina Hartwig:
Weil es deinen Lesern gefällt, wenn du es beschwörst!

Tilman Krause:
Natürlich! Das ist ja auch ihr gutes Recht. Ich arbeite nicht für eine linke Zeitung, sondern für eine bürgerliche. Das wäre ja noch schöner, wenn ich an den Interessen des Publikums vorbeischreiben würde, das tun schließlich schon genug andere Kollegen!

(Leipzig, am 24. März 2004, Podiumsdiskussion auf dem Symposium der Deutschen Literaturkonferenz zum Thema »Literaturkritik in der Krise?« Zitiert nach: Gunther Nickel: Kaufen! Statt lesen! Literaturkritik in der Krise? Göttingen: Wallstein 2005, S. 42 f.)


Der Sonntagstaucher:
Sonntags in den Feuilletons

Leipzig, 25. November 2007, 14:20 | von Paco

Seit dem überregionalen Start der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« Ende 2001 hat der Sonntagszeitungs-Markt an Qualität und Dynamik gewonnen. Weil es für ihn bisher noch keinen regelmäßigen Übersichtsdienst gibt, gehen medienlese.com (Ronnie Grob, Florian Steglich) und Der Umblätterer (Frank Fischer, Marc Reichwein) in einer einmaligen konzertierten Aktion mit gutem Beispiel voran. Das Ganze geschieht im Stil des Perlentauchers, den wir von hier aus herzlich grüßen. Wahrscheinlich muss nur noch die lange geplante »Süddeutsche am Sonntag« an den Start gehen, bevor der Perlentaucher auch am Sonntag nicht mehr um eine Feuilleton-Rundschau herumkommt. Wir freuen uns darauf.

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Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.11.2007 (Florian)

»Mehr Kultur braucht kein Mensch«, stellt Nils Minkmar im Aufmacher des Feuilletons fest und hofft darauf, dass das gerade in Dresden gegründete World Culture Forum ein regionales Phänomen bleibe. Denn an Kultur in verschiedensten Formen und Verständnissen mangele es wirklich nicht in Deutschland. »Es ist ein Begriff, der keinen Widerspruch erregt und auch nicht duldet: Keine Form der Kultur wird auf die andere losgehen, er ist konfliktfrei und additiv. Wie Seifenblasen schweben die Kulturformen und Disziplinen nebeneinander, und es gibt immer bloß diese eine gültige Forderung: mehr. Mehr Straßenkultur, mehr freie Kultur, mehr Unternehmenskultur, mehr Medienkultur, und wenn es wider Erwarten doch mal laut und deutlich wird, brauchen wir mindestens eine veränderte Streitkultur.«

Weitere Artikel: Den müden, nein: schlafenden Ben Affleck interviewt Johanna Adorján, die wachere und rauchende Schauspielerin Katrin Wichmann porträtiert Eberhard Rathgeb, Niklas Maak besucht die neueste Stätte der Gentrifizierung, das New Museum in der Lower East Side von New York, und Karl-Peter Schwarz schreibt über den Nationalismus in Text und Auftreten des kroatischen Sängers Marko Perkovic. Medienredakteur Harald Staun nimmt sich der Turbulenzen beim »Spiegel« an und macht deutlich, dass das Auflage-Machen für den Nachfolger Stefan Austs die schwerste Aufgabe werden wird.

Besprochen werden Karin Beiers Shakespeare-Inszenierung »Maß für Maß« in Köln und Michael Thalheimers »werktreue« »Winterreise« am Deutschen Theater in Berlin, außerdem Martin Gypkens Judith-Hermann-Verfilmung »Nichts als Gespenster« – und fünf bei YouTube zu findende Videos, auf denen man Geistesgrößen wie Foucault oder Luhmann in Bewegung sehen kann; nicht selten ein »Kulturschock, (…) weil die Gedanken plötzlich ein Gesicht bekommen und die Autoren eine Gestalt, die stilistisch nicht immer mithalten kann mit der Eleganz ihrer Thesen.«

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Tagesspiegel, 25.11.2007 (Ronnie)

Kerstin Decker nimmt den Roman »Havemann« von Florian Havemann über seinen Vater, den DDR-Dissidenten Robert Havemann, zum Anlass, über das verklärte Bild der DDR-Dissidenten nachzudenken. Im Buch mache der Sohn des Oberdissidenten der DDR grosse Löcher in die Dissidentenaura seines Vaters Robert und in die des Vizedissidenten Wolf Biermann gleich mit. Vater Havemann habe antisemitische Briefe geschrieben und Biermann habe schon vorher gewusst, dass er rausfliegt aus der DDR, wenn er in Köln singt anno 1976. Nun sollen auch sie »teilgebückt und ungerecht« gewesen sein. Damit verbundene, aufkommende Irritation verbindet sie damit, dass das Wort Dissident klingt wie der Gute, Aufrechte, Gerechte. Sie stellt aber klar: »Diese Dissidenten waren Kommunisten und galten trotzdem als die Guten, gerade im Westen.« Gegen Ende macht sie aber doch noch Gerechte aus. Wolfgang Ullmann war einer. Und Friedrich Schorlemmer. Sie mahnt, dass Opposition kein Privileg der 68er sei und meint, es wäre »dumme Härte«, diesen Roman vom Tisch zu wischen. Auch wenn sie dem Autor vorwirft, sein radikal subjektiver Ton streife immer wieder das Prätentiöse, attestiert sie ihm viel reflexive Kraft, ja fast Weltweisheit.

Christiane Tewinkel war im Deutschen Theater und sah eine »Winterreise«, die mehr bietet als das Standbild Sänger-vor-Flügel, aber was genau dieses Mehr ist, kann nicht geklärt werden. Immerhin attestiert sie Michael Thalmeiers Inszenierung, Schuberts Zyklus nicht zu stören und schliesst mit der Vermutung, dieses Werk habe die elegant rattenfängerische Veranschaulichung einfach nicht nötig.

Christina Tilmann gratuliert Rosa von Praunheim zum 65. Geburtstag und illustriert den Text mit einem Archivbild des Künstlers. Untertitel: »Der Filmemacher, als er noch Holger hiess«. Rolf Strube feiert den 150. Todestag von Joseph Freiherr von Eichendorff, und »Du sollst begehren«, Gay Taleses epochales Werk über die sexuelle Revolution in den USA, wird besprochen.

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NZZ am Sonntag, 25.11.2007 (Marc)

Bänz Friedli berichtet im Aufmacher über den »Coup« des Zürcher Dada-Hauses, das ab 29. 11. Aquarelle des Schockrockers Marilyn Manson zeigt. Philip Meier, Direktor des Cabaret Voltaire, sieht »Manson durchaus als Nachfahren von Dada: ›Die Dadaisten waren, wie heute Manson, Grossmeister darin, Provokation als künstlerisches Stilmittel einzusetzen.‹ Für einen Manson bezahlt man zwischen 8000 und 45000 Dollar.«

Passend dazu schaut Gerhard Mack nach den Herbstrekorden auf dem internationalen Kunstmarkt gespannt nach Miami Beach. Zwar gebe es »Anzeichen für eine Korrektur« in der Kauflaune der Sammler, allerdings noch nicht zur Kunstmesse in Florida, wo die Geschäfte erfahrungsgemäß schon allein wegen der klimatischen Verhältnisse in »animierter Stimmung« verliefen: »Miami heißt für die Ostküste der USA eine Woche Sonne, während in Boston und New York bereits der Winter in die Sonne beisst.«

Manfred Papst unterhält sich mit dem Jazzmusiker Oliver Lake, der beim diesjährigen unerhört!-Festival in Zürich zu Gast ist. In der Glosse »Zugabe« macht sich Manfred Papst klar, »wie gegenwärtig Latein auch in unserer modernen Welt ist«. Besprochen werden David Mitchells »Der dreizehnte Monat«, der in einer restaurierten Version auf DVD erhältliche Heinrich Gretler alias »Wachtmeister Studer« und eine Biografie über die vor 50 Jahren verstorbene Bündner Autorin Tina Truog-Saluz. Über weitere Bücher sowie Filme, Ausstellungen und CDs informiert die Doppelseite »In Kürze«.

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SonntagsZeitung, 25.11.2007 (Marc)

Im Vorfeld der offiziellen Bekanntgabe der Nominierungen für den Schweizer Filmpreis 2008 nimmt Matthias Lerf die eidgenössische Filmszene ins Visier. Nur 5,8 Prozent Marktanteil hätten die einheimischen Produktionen in einem »enttäuschenden Schweizer Spielfilmjahr 2007« zu verzeichnen gehabt (2006 waren es, nicht zuletzt dank Bettina Oberlis Erfolgskomödie »Die Herbstzeitlosen«, noch 9,6 Prozent gewesen). »Auch 2008 kommen nicht sehr viele Schweizer Spielfilme in die Kinos, die aufs grosse Publikum zielen.« Nun ruhten viele Hoffnungen auf der Puppen-Animation »Max & Co«, dem mit knapp 30 Millionen Franken teuersten Schweizer Film aller Zeiten, der kommenden Februar in die Schweizer Kinos kommt. Insgesamt bleibe »2008 eher ein Übergangsjahr«, denn wichtige Projekte Schweizer Filmemacher seien nicht vor 2009 zu erwarten.

Außerdem: Agnes Baltsa, »vor Cecilia Bartoli die berühmteste Mezzosopranistin der Welt«, spricht im Interview über ihren Mentor Karajan und die Primadonnen-Vermarktung im Musikbetrieb. Helmut Ziegler war zu Gast bei Udo Jürgens, dessen 23 größte Hits am kommenden Sonntag Premiere als Musical »Ich war noch niemals in New York« im Hamburger Operettentheater haben. In der Kolumne »Short Cuts« macht sich Ewa Hess Gedanken über »das Phänomen der Miss November« in einem Bildband, der Playboy-Playmates aus über fünf Jahrzehnten Playboy versammelt.

In Kurzform besprochen werden Bücher, darunter Andrew Delbancos »mitreissende Biografie« über Moby-Dick-Erfinder Herman Melville. Ferner finden sich Kulturtipps zu aktuellen CDs, Filmen und Ausstellungen. Und im Multimedia-Teil informiert Ronnie Grob über die Herausforderungen für die Online-Angebote der klassischen Zeitungsverleger durch Google News.

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Welt am Sonntag, 25.11.2007 (Frank)

Im Aufmacher der Kultur-Seiten feiert David Deißner anlässlich des 150. Todestages den Realitätssinn von Joseph von Eichendorff (1788-1857). Er habe zwar als Lyriker des ständigen Aufbruchs (»Wem Gott will rechte Gunst erweisen, …«) das Flatterhaft-Romantische gestaltet, sei aber im richtigen Leben ein verlässlicher preußischer Staatsdiener und »ausgesprochener Familienmensch« gewesen. Damit stehe er gegen den Trend, nach dem Künstler »Freaks, Schwärmer, Langschläfer« zu sein haben.

Als Centerfold gibt es ein Michelangelo-Special, anlässlich des soeben erschienenen ziegelsteinartigen Bandes »Michelangelo. Das vollständige Werk«. Die Doppelseite in der WAMS besteht aus einem Viertel Text und drei Vierteln Abbildungen. Den größten Teil nimmt ein Auszug aus dem »Jüngsten Gericht« aus der Sixtinischen Kapelle ein. Passend dazu erzählt Manfred Schwarz im nebenstehenden Text, wie es zu den weitläufigen Übermalungen der unkeuschen Stellen kam: Dem Zeremonienmeister des Papstes hätten die vielen nackten Körper gestört. Der Künstler ließ ihn daraufhin im Wandgemälde auftreten, »mit schmerzverzerrten Gesicht, weil ihm gerade eine Viper die giftigen Zähne ins entblößte Geschlechtsteil bohrt«. Leider nicht in der WAMS steht die Episode von den ersten auf das Gemälde aufgebrachten Stofffetzen: Diese wurden von Daniele da Volterra ausgeführt, der daraufhin den Kosenamen »Höschenmaler« bekommen sollte.

Rüdiger Sturm führt ein Interview mit Schauspieler und Buddhist Richard Gere. Es geht um seinen neuen Film, die Thrillerkomödie »The Hunting Party«, in der Gere einen Kriegsreporter spielt, der den meistgesuchten bosnischen Kriegsverbrecher jagt. Angesprochen auf sein Image als Sexsymbol erwähnt Gere schönerweise Magrittes Bild »La trahison des images«, das zwischen Abbild und Originalgegenstand unterscheidet – dasselbe klagt er für sich ein.

Auf der Medienseite erklärt Marco Stahlhut den Erfolg der RTL-Dokusoap »Bauer sucht Frau« (»Hauptreiz ist der Zusammenstoß der Kulturen«). Besprochen werden das Erinnerungsbuch »Prag, Poste Restante« des Heinrich-Mann-Enkels Jindrich Mann (»ein eigenartiges und schönes Buch«) und Kylie Minogues Comeback-Album »X« (»kann die hohen Erwartungen leider nicht erfüllen«).

Auch die Beilage »Klassik am Sonntag« wird dann qua Editorial von Friedrich Pohl unter den Stern der Romantik gestellt. In einem doppelseitigen Interview widerspricht dann Daniel Barenboim den Epochenbezeichnungen der Musikwissenschaft: »Jede Musik ist sowohl romantisch als auch klassisch. Auch Bach.« Außerdem gibt es anlässlich einer Neuerscheinung eine reich bebilderte Übersicht über Bayreuther »Ring«-Inszenierungen sowie ein Porträt des vor 150 Jahren gestorbenen Edvard Grieg.

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Bild am Sonntag, 25.11.2007 (Frank)

Kritiken kürzer als ein Klappentext gibt es wie immer in der Bücher-Rubrik »Schon gelesen?«. Der früher als »Deutschlands beliebtester Buchkritiker« bekannte Alex Dengler bespricht in seiner Spalte sechs Bücher und verteilt dabei vier Pfeile nach oben und zwei nach unten. Begeistert war er etwa von Alex Davies‘ bei Diogenes erschienener Komödie »Froschkönig«: »Dieses Buch ist wie das Treffen mit einem guten Freund.« Was auch immer das jetzt heißen mag.

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Bourne again

auf Reisen, 11. September 2007, 03:08 | von San Andreas

Dritte Teile haben es bei Kritikern meist schwer. Oft gilt der erste Teil als der gelungenste (»Alien«, »Matrix«, »Jaws«), manchmal auch der zweite (»Godfather«, »Spider-Man«), sehr selten aber der dritte (»LOTR«?). Die Sache ist die: Rezensenten werden einer Sache schnell überdrüssig, sie ermüden angesichts derselben Gesichter in denselben Rollen und haben böse Wörter wie ›Aufguss‹ und ›Geldschneiderei‹ fix bei der Hand.

Bei abgeschlossenen Trilogien hingegen profitiert das Threequel von einem Bonus, denn hält der Film das Niveau und erzählt er die Geschichte vernünftig und womöglich fulminant zu Ende, verschafft er das befriedigende Gefühl von ›closure‹: Der Rezensent kann Rückschau halten und die Filmschaffenden mit einem jovialen ›Bravo!‹ in neue Projekte entlassen.

Wie allerorten zu lesen, schlägt dem Finale der »Bourne«-Trilogie eben jenes Wohlwollen entgegen, ein überbordendes sogar, und das, liebe Kritiker, auf jeden Fall und ohne jeden Zweifel vollkommen zu Recht. Damon und Greengrass laufen zur Höchstform auf, führen die Story um die Identität des Jason Bourne stilsicher und unerhört kraftvoll zu ihrem Höhepunkt und Abschluss, wobei sie die beiden ersten Teile in punkto Spannung und Turbulenz scheinbar mühelos übertreffen.

Was lässt »Bourne« über den 08/15-Actioner von der Stange hinauswachsen? Manche (z. B. Hanns-Georg Rodek in der »Welt«) sehen das Besondere in der Konstruktion der Geschichte: Der Agent erfüllt nicht länger Aufträge des Geheimdienstes, sondern wendet sich gegen seine Organisation und löst kraft seiner antrainierten Fähigkeiten ein persönliches Trauma.

Gut, aber in der Rolle des abtrünnigen Geheimdienstlers sahen wir u. a. bereits Robert Redford (»Three Days of the Condor«), Gene Hackman (»The Conversation«), Tom Cruise (»Mission: Impossible«) oder erst kürzlich Ulrich Mühe (»Das Leben der Anderen«).

Das Geheimnis liegt vielleicht auch im Subtext verborgen, im Konzept ›Identität‹, das alle drei Filme umspannt. Eine Identitätskrise, ein Prozess der Selbstfindung, sonst in leisen Dramen abgehandelt, hier ungewöhnlicherweise im kreuzgefährlichen Umfeld mörderischer Geheimdienstoperationen.

Perfiderweise lebt oder lebte der Held gleich drei Identitäten: zum einen jenen an Amnesie leidenden Namenlosen, zum anderen Jason Bourne, und schließlich David Webb. Die Entscheidungen, Handlungen und Motivationen jeder einzelnen dieser Identitäten ergeben ein Geflecht von Schuld und Verantwortung, das die Filme durchzieht und ihnen bei aller Haudrauf-Action Resonanz auf moralischer Ebene verschafft.

Auch in punkto Machart bricht »Bourne« Konventionen: Die geschliffene Ästhetik gängiger Agentenfilme weicht einer spröden, ruppigen, ungeschönten Wahrhaftigkeit. Der erste Film, inszeniert von Doug Liman, setzte da in den schmuddeligen, neonbeschienenen Hinterhöfen Berlins Zeichen.

Und Paul Greengrass, ein Mann für anspruchsvolle, an die Nieren gehende Kost mit dokumentarischem Einschlag (»Bloody Sunday«, »United 93«) perfektionierte die schroff-authentische Action-Atmo, ohne jedoch die Persönlichkeit des Helden aus den Augen zu verlieren.

Schwer genug, denn Damons Charakter ist als stoischer Einzelkämpfer angelegt, der nicht eben übersprudelt vor Mitteilsamkeit. Nicht einmal knackige One-Liner kommen ihm über die Lippen, sonst gern genommenes Standard-Repertoire von Actionfilmen.

Bourne/Webb gewinnt durch seine Handlungen an Profil, durch kleine Momente der Barmherzigkeit, flüchtige Blicke, kurze Sätze im Umgang mit seinen Helfern und Gegnern. Damon glänzt mit präzisem, nuancierten Underacting, lässt seine Rolle, trotzdem man ihn kaum einmal lachen, ja nicht einmal essen oder trinken sieht, zum Empathie-Fixpunkt werden, der alle drei Filme zu tragen imstande ist.

So wie Robert Ludlum seine Werke (auf denen die Filme im Übrigen nur lose beruhen) stets handschriftlich verfasst hat, um den Geschichten näher verbunden zu sein, drehte Greengrass »Ultimatum« gleichsam per Hand. Eine entfesselte Kamera jagt durch echte Menschenmengen, sucht Dialogpartner in nervösen Gegenschüssen über die Schulter.

Für Verfolgungsjagden wurden keine Straßen abgesperrt; was man kreischen und splittern hört, ist echtes Metall, echtes Glas. Der Schnitt ist rastlos, die Sequenzen hasten voran, der Film bietet nur wenige, knapp kalkulierte Verschnaufpausen. One hell of a ride.

Die spontane Frische der Filme spiegelt die Produktionsbedingungen wider: Wie man erfährt, waren Damon und Greengrass unablässig am Modifizieren des Scripts, probierten Ideen aus, verbesserten oder verwarfen sie. Nachdrehs waren an der Tagesordnung. Die letzte Szene des zweiten Teils ersann das Team beispielsweise erst zwei Wochen vor Kinostart: Bourne befindet sich in New York und konfrontiert CIA-Sympathisantin Pamela Landy mit seiner Anwesenheit.

Die Szene bildet das Sprungbrett für den dritten Teil: Was um Himmels Willen macht Bourne in der Höhle des Löwen? Wir erfahren es im dritten Akt von »Ultimatum«, denn da taucht die Szene noch einmal auf: Bourne kennt seinen wirklichen Namen, vollführt eine Kehrtwende und geht gegen seine unsichtbaren Feinde an, will die Bedeutung seiner Identität endgültig ergründen und, wenn man so will, seinem Schöpfer vor die Augen treten.

Selbiger wird vom großen Albert Finney verkörpert, der dem Gipfeltreffen eine wunderbare Gravität verleiht. Fabelhaft besetzt auch David Strathairn. Sonst eher in Independent-Perlen vertreten, gibt er den sinistren Schreibtischtäter Noah Vosen, aus dessen Perspektive Bournes Bewegungen häufig gezeigt werden – wenn er ihn gerade mal auf dem Schirm hat.

Denn Bourne ist Vosen oft genug in nahezu traumwandlerischer Sicherheit einen Schritt voraus; das CIA-Debakel auf der Waterloo Station komprimiert dieses Verhältnis in Form einer ungeheuer intensiven Sequenz, an der sich zukünftige Filme dieser Art werden messen lassen müssen. Ebenso schweißtreibend die Auto-Verfolgungsjagd in New York, die in bester French-Connection-Tradition schier birst vor kinetischer Energie.

Perfekte Regie, geerdete Ästhetik, effizientes Timing: »The Bourne Ultimatum« verbindet Grips mit Action und avanciert im Handstreich zu einem der besten Actionthriller der letzten Jahre. Bleibt zu hoffen, dass die Macher es bei der Trilogie belassen, denn das Ende von »Ultimatum« ist einfach zu schön. Außerdem haben es vierte Teile bei Kritikern gemeinhin noch viel, viel schwerer als dritte.


Wie Harry Potter endet …

Leipzig, 23. Juli 2007, 19:46 | von Paco

… ist komplett egal. Bis dahin sind ja hunderte Seiten zu bestreiten, darüber redet aber kaum einer. Man reagierte mit Empörung, als die NYT das Buch vorab rezensiert hatte, aber Michiko Kakutani hat wenigstens das Ende nicht sofort ausgeplauzt (wie die dpa), sondern sich um Stil und Exegese gekümmert.

Wolfgang Herrndorf von der Riesenmaschine hat gerade gestern im Interview mit satt.org gemeint: »In der Kunst zählt allein das Wie, Inhalt ist eine Elke-Heidenreich-Kategorie.« Da wäre es doch mal gut, wenn direkt auf dem Buchcover und auch gleich als Headline bei Amazon einfach schon mal dastünde:

In this episode, Harry dies a fiery death after eating too much chili, Ron gets eaten by Voldem… who himself gets eaten and digested by Hagrid later on, and Hermione becomes head of Hogwarts after winning the lottery.

Oder wie auch immer. Und dann würde es erst wirklich wieder jemanden interessieren, wie das alles geschrieben ist, ob es am Ende doch nur Kinderbuchenglisch ist oder mehr. Jochen Schmidt zum Beispiel hatte seine lieben Probleme mit dem Hogwarts-Vokabular, wie er gestern in der FAS in einem schönen Antitext zum Hype um den 7. Potter-Band beschrieben hat.

Als er in dieser Sache von der Redaktion des »Sonntagspropheten« (hehe) angerufen wurde, war ihm klar, dass er jetzt erst mal 10 Jahre Potter aufholen musste: »Dafür werde ich den Redakteur irgendwann in einen Käfer verwandelt in ein unzerbrechliches Glas einsperren.«

Schmidt brachte sich dann erst mal mit den Wikipedia-Einträgen zu den ersten 6 Bänden auf einen inhaltlichen Mindeststand. Und sagt in seinem Artikel am Ende fast nichts zum Inhalt, sondern lamentiert zeilenweise darüber, dass er nur 12 Stunden Zeit hatte für Lektüre und Artikelablieferung und schon auf dem Weg zum Buch mehrfach so halb weggenickt wäre.

Und außerdem habe er noch sein Auto mit dem Umzug seiner Schwester vollgeladen gehabt, den er dann noch zwischen 2 Kapiteln ausladen müsse. So endet nämlich Harry Potter: mit einer gepfefferten Rückkehr in die Realität.