Archiv des Themenkreises ›Die Zeit‹


Nekrologstricher und Nekrologdealer

Hamburg, 24. Februar 2013, 14:41 | von Josik

Irgendwann während des morgendlichen Arbeitsessens im wunderbaren Café Leonar – ich hatte selbstverständlich das Josefstädter Frühstück bestellt – kam, wie so oft in diesen Tagen, die Rede auf den Papst, und ich hörte zum ersten Mal die denkwürdige These, dass Joseph Ratzinger, anders als etwa Karol Wojtyła, gar nicht genug Charisma besessen habe, als dass er jemals einen Attentatsversuch hätte befürchten müssen.

Unmittelbar nach diesem Arbeitsfrühstück raste ich los zum S-Bahnhof Stadthausbrücke, aber leider war der Akku meines Handys alle und so konnte ich Dique nicht darüber in Kenntnis setzen, dass ich, der sich sonst niemals verspätet, mich etwas verspäten würde. Dique wartete schon am Ausgang Neuer Wall und wir eilten zu dieser hervorragenden Pelmeni-Butze (deren Namen ich leider vergessen habe), um dort das Mittagessen einzunehmen und weiter über John F. Kennedys Charisma zu diskutieren sowie über die Tatsache, dass nun allerorten Nachrufe auf Ratzinger zu lesen waren, die sich nicht Nachrufe nennen durften.

Wir beschlossen, die Diskussion im herrlichen Café Paris fortzuführen, und waren uns einig, dass das Allerunsäglichste und Nervigste, was man im Internet überhaupt zu lesen bekommt, dieser verdammte Satz nach jeder einzelnen Eilmeldung ist: »In Kürze mehr auf SPIEGEL ONLINE.« Als Leser möchte man ja immer sämtliche Informationen sofort abrufbereit haben, und entsprechend müssen die Redaktionen gegenüber sämtlichen überhaupt denkbaren Eventualitäten jederzeit gewappnet sein. Zwar wünscht niemand, dass Ratzinger sterben wird, aber was, wenn es eben doch einmal irgendwann passieren sollte?

Seine Biografie hatten alle Redaktionen bekanntlich längst eingetütet gehabt, und entgegen der Meinung mancherer Meckerer und Moserer ist es in Tat und Wahrheit eben überhaupt nicht pietätlos, darüber zu sprechen. Spätestens seit wir Andrej Kurkows grandiosen Roman »Picknick auf dem Eis« gelesen haben, ist ja uns allen der Beruf des auf absolut alles topvorbereiteten Nekrologredakteurs sogar ein bisschen ans Herz gewachsen. Jedenfalls überlegten wir jetzt im zauberhaften Café Paris, welcher lebende Deutsche eigentlich Charisma besitze. Uns fiel nur ein einziger ein, und auch nach sehr langem Nachdenken blieb es bei diesem einen: Helmut Schmidt natürlich.

Wir fragten uns, ob die »Zeit« für den Fall des Falles vielleicht schon eine Sonderausgabe vorbereitet habe, die dann noch am gleichen Tag in Druck gehen wird, und Dique meinte, wir könnten doch einfach zum »Zeit«-Redaktionsgebäude laufen, das sei ganz in der Nähe, und dort den Pförtner fragen. Wo, wenn nicht dort, würde man darüber Gewissheit erlangen können? Ich hatte einige Bedenken und wollte eigentlich nicht persönlich dort aufkreuzen, sondern lieber anrufen, aber dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ja mein Akku alle war. Wir zahlten also und sprinteten zum Speersort 1, doch welche Überraschung! – es gab am Eingang überhaupt keinen Pförtner.

Wir stiegen in den Aufzug, ins Ungewisse, eine junge Frau hechtete noch im letzten Moment zu uns herein und fragte: »Wissen Sie, wo man zum Bewerbungsgespräch für ZEIT Reisen hin muss?« Dique und ich sagten unisono: »Dritter Stock«, und hofften insgeheim, dass das auch stimmte. Wir stiegen dort dann gemeinsam mit der jungen Frau aus, ließen ihr aber den Vortritt, ihr wurde von zwei Empfangsdamen der Weg gewiesen. Schließlich fragten wir die beiden Rezeptionistinnen, wer aus der Redaktion für Nekrologe zuständig sei.

Überraschenderweise fragte eine der Damen mit einer absoluten Selbstverständlichkeit, d. h. ohne das leiseste Erstaunen in der Stimme und ohne jegliche Verwunderung – tja, aber was genau sie nun fragte, da gehen meine und Diques Erinnerungen auseinander. Ich meine ge­hört zu haben: »Wollen Sie sich anbieten?« Dique hingegen meint gehört zu haben: »Wollen Sie was anbieten?«

Sich anbieten bedeutete, dass wir offenbar für seriöse freie Journalisten gehalten wurden, die sich für feste Stellen in der Nachrufabteilung bewerben. Etwas anbieten bedeutete, dass wir offenbar für seriöse freie Journalisten gehalten wurden, die einen, wenn nicht sogar mehrere ganz konkrete hochaktuelle selbstverfasste Nachrufe schon in der Tasche hatten und die in der Redaktion vorbeibringen wollten.

Der Unterschied zwischen sich anbieten und was anbieten wäre also in etwa der Unterschied zwischen Nekrologstrichern und Nekrolog­dealern. Ich halte allerdings meine Version für die wahrscheinlichere, denn wie wir aus dem Aufzug wussten, wären wir ja nicht die einzigen gewesen, die sich an diesem Tag beworben hätten. Das Gespräch mit den Empfangsdamen endete jedenfalls so, dass uns zwei Telefon­nummern auf ein gelbes Post-it geschrieben wurden: eine Nummer für Nachrufe im Politikteil, die andere für Nachrufe im Feuilleton.

Dass es da in Politik und Feuilleton also allem Anschein nach zwei verschiedene Nachrufabteilungen gibt, macht die Sache nun freilich erst recht vertrackt und eine Auflösung unserer Frage eigentlich unmöglich, denn wir können ja nicht wissen, ob Helmut Schmidt nach Einschätzung der »Zeit«-Redaktion mehr für die politischen Ämter, die er einmal innehatte, zu würdigen ist oder mehr für seine Weltweisheit.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2012

Leipzig, 8. Januar 2013, 04:25 | von Paco

Maulwurf’s in the house again! Heute zum *achten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2012:

Der Goldene Maulwurf

Die Nummer 1 herauszudiskutieren, war dieses Jahr nicht schwer, einhellig fiel die Wahl auf Volker Weidermanns endgültige Erledigung des herumdichtenden Grass.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2012:

1. Volker Weidermann (FAS)
2. Jens-Christian Rabe (SZ)
3. Christian Thielemann u. a. (Zeit)
4. Olivier Guez (FAZ)
5. Ulrich Schmid (NZZ)
6. Mara Delius (Welt)
7. Kathrin Passig (SZ)
8. David Axmann (Wiener Zeitung)
9. Friederike Haupt (FAS)
10. Thomas Winkler (taz)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben, wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen der Jury.

Außerhalb der Top-3 gab es übrigens ziemliche Rangeleien. Handke zum Beispiel konnte letztlich wie so oft nicht genügend Stimmen auf sich vereinen, deshalb müssen wir ihm für den Feuilletonsatz des Jahres (»Ein Wortspiel pro Text ist erlaubt.«) separat gratulieren.

Hinweise auf feuilletonistische Supertexte des laufenden Jahres 2013 bitte an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis nächstes Jahr,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Anlässlich der FAS vom 2. Dezember 2012:
Die extrem tolle deutsche Zeitungslandschaft

Chemnitz, 3. Dezember 2012, 00:16 | von Paco

Gegen 15 Uhr erwachte ich endlich aus tiefem Schlaf und hatte sofort extreme Lust darauf, die FAS zu lesen. Eine Stunde später saß ich im Michaelis und tat genau das. Das heutige Feuilleton war wieder mal gehobenste Spitzenklasse. Das fängt schon bei den Kolumnen an. Tobias Rüther (in Absprache mit Angus T. Jones) über »Two and a Half Men«: »Die Show ist wirklich der letzte Dreck.« Und Johanna Adorján mit einer erfahrungsgesättigten These zu Fahrradhelmen: »Beim Anblick von Fahrradfahrern, die einen Helm aufhaben, ergreift mich mittlerweile die nackte Angst. Sie ist nicht angeboren, sondern in zahlreichen Zweikampfsituationen qualvoll erlernt. Wer, sagen wir, älter als zwölf Jahre ist und sich zum Fahrradfahren einen Helm aufsetzt, fährt nämlich unfassbar schlecht Fahrrad. Ist so.«

Dabei dachte ich zunächst, ich hätte die falsche Zeitung und das falsche Jahrzehnt erwischt, denn in der Fußzeile der Feuilleton-Frontpage stand etwas von »Call of Duty 2«, das ja aber schon zu Weihnachten 2005 erschienen war. Es handelte sich aber eindeutig um die heutige Ausgabe, 2. Dezember 2012, also dachte ich als nächstes: ein Retro-Review? Warum nicht! Warum nicht einfach mal Bücher, Filme, Ego-Shooter besprechen, die schon vor sieben Jahren erschienen sind: sehr gute Idee! Dann ging es aber im Artikel selber natürlich um »CoD: Black Ops 2«, was der Beauftragte für die Gestaltung der Ankündigungsfußzeilen vergessen hatte zu erwähnen.

Die Rezension von Gregor Quack ist jedenfalls hervorragend, und zwar weil er gleichzeitig die momentane Unmöglichkeit mitkommuni­ziert, über einen so bombastisch inszenierten Ego-Shooter überhaupt urteilen zu können. Die Videospielbranche bräuchte genau jetzt einen IT-Lessing, der analog zur »Hamburgischen Dramaturgie« erst mal rausfindet, wie man über so eine ästhetische Revolution überhaupt angemessen schreiben kann: »Es gehört eigentlich zu den Aufgaben der Kulturkritik, hierfür das passende ästhetische Besteck zu schmieden. Und wir fangen auch damit an. Versprochen.«

Dann schreibt noch Volker Weidermann über 70 Jahre Peter Handke. Erst mal vermerkt er seine Freude darüber, dass Handkes »Jugosla­wien-Phase« vorbei sei und er nun wieder leise, filigrane Bücher wie den »Versuch über den Stillen Ort« schreibe. (Wobei sich ja mit wachsendem zeitlichen Abstand komischerweise irgendwie der Eindruck verstärkt, dass Handke das Scharmützel gegen die Jugoslawien- und Serbienfeinde damals haushoch gewonnen hat.) Anhand des frisch erschienenen Briefwechsels zwischen Handke und Unseld macht Weidermann übrigens die interessante Beobachtung, dass sich Unseld bei der Korrespondenz mit seinen Autoren (Koeppen, Frisch, Bernhard usw.) so lange runterputzen lässt, »bis es ihm irgendwann einmal reicht. Und zwar, so mein Eindruck – reichte es Unseld bei jedem seiner Autoren, die allesamt ihm gegenüber das Sozialverhalten von ungefähr Fünfjährigen an den Tag legten – genau einmal. Einmal im Leben schimpft er zurück.« Diese seltenen Unseld’schen Rückschimpf­briefe sollten unbedingt in einer bibliophilen Einzeledition erscheinen!

Im Medienressort ist noch ein Interview von Harald Staun mit Christoph Amend und Timm Klotzek zu lesen. Es geht da um die jeweils nächste Ausgabe des »Zeit«- und des »SZ«-Magazins, die nämlich beide das Titelthema »Konkurrenz« haben werden, und warum auch nicht.

Als ich fertig war mit Minztee, Stachelbeerbaiser und FAS, traf ich mich noch mit ein paar Leuten auf dem Weihnachtsmarkt. Irgendjemand berichtete, dass er nun endlich das Thielemann-Interview in der »Zeit« von neulich gelesen habe. Sofort zitierten alle ihre Lieblings­stellen, denn dieses Interview ist wohl das Feuilletonereignis des Jahres gewesen, so so geil, es ist wirklich immer noch nicht zu fassen, dass dieser Text gewordene Feuilletontraum tatsächlich gedruckt in einer Zeitung gestanden hat.

Als ich später nach Hause schlenderte, fiel mir ein, wie extrem toll es doch derzeit um die deutsche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft bestellt ist, und als ich dann zu Hause war, rief Dique an und fragte, ob ich den genialen »Spiegel« von morgen schon gelesen habe. Hatte ich da noch nicht, habe ich inzwischen aber nachgeholt: wunderbar!
 


Baguettiana

Göttingen, 5. November 2012, 12:27 | von Josik

Ich höre hier in Göttingen mit wachsender Begeisterung den Sender NDR Info, es gibt da immer wieder Staumeldungen aus Fallingbostel, einer Stadt, die ich bisher nur aus einem Arnold-Stadler-Roman kannte, und wenn es keine Staumeldungen aus Fallingbostel gibt, dann wird darüber berichtet, dass sich in Fallingbostel ein Chemieunfall oder dergleichen ereignet hat. Zwischendrin hört man auf NDR Info auch mal ein Interview mit Ruprecht Polenz oder einen Bericht über Toni Kroos, aber das sind offenkundige Versehen, denn gleich nach solchen Intermezzi geht es wieder weiter mit den neuesten Nachrichten aus Fallingbostel und der Gegend um Fallingbostel herum.

Während also im Hintergrund das Radio lief, blätterte ich so ein biss­chen in ein paar alten ZEIT-Magazinen und anderen ZEIT-Druckerzeug­nissen, die meine Zimmerwirtin immer auf dem Küchentisch deponiert. Plötzlich aber war ich wie vom Donner gerührt, denn in einer Rezension in ZEIT-Literatur stieß ich auf folgenden vielleicht besten ersten Satz, der jemals geschrieben wurde und der in diesem Fall von Ijoma Mangold stammt:

»Gleich auf der ersten Seite kauft Sperber, der Protagonist in Anne Webers neuem Roman Tal der Herrlichkeiten, in einer Bäckerei in der Bretagne ein Baguette.«

Was für ein herrlicher Einstieg! Was für eine herrliche Klimax! Was für eine herrliche Alliteration! Bäckerei, Bretagne, Baguette. Und man kann Gott nur danken, dass die Geschichte nicht in der Provence spielt. Eigentlich fällt in dieser Reihe die Bäckerei ja etwas aus dem Rahmen, stilechter wäre vielleicht eine Boulangerie gewesen? Aber sei’s drum, hier in dieser bretonischen Baguettebibel geht es medias in res, mitten hinein in den Baguettekauf, und ich habe die Rezension gar nicht mehr weitergelesen, sondern mir stattdessen sofort das Buch herunter­geladen.

Ich machte mich gleich an die Lektüre, ich hörte auch schon gar nicht mehr hin auf die Staumeldungen aus Fallingbostel, so toll ist das Buch, und ich kann es jedem nur sehr empfehlen, meiner und Ijoma Mangolds Euphorie voll zu vertrauen und endlich wieder mal ein Anne-Weber-Buch zu lesen.
 


Der Koffer

Leipzig, 16. August 2012, 13:45 | von Paco

Man kann doch so ein regelmäßiges 65537-Eck einfach mal konstruie­ren, muss sich Johann Gustav Hermes gedacht haben. Am 4. November 1879 legte er los. Zehn Jahre später war er dann soweit. Er ließ einen passenden Koffer anfertigen, verstaute das Papierkonvolut darin und gab das Ganze an die Universität Göttingen, wo es bis heute aufbe­wahrt wird.

Ich glaube, es war im Sommersemester 1998, als ich zum ersten Mal von diesem sagenumwobenen Göttinger Koffer hörte. Herbert Kästner hat kurz von ihm erzählt, in seinen Vorlesungen im alten Seminar­gebäude der Uni Leipzig. Seitdem bin ich diesem Mysterium immer mal wieder begegnet, und immer klang die zugehörige Anekdote ein bisschen anders.

Neulich lief ich dann Herbert Kästner, der übrigens gerade auch eine Bibliografie der Insel-Bücherei herausgegeben hat, wieder über den Weg. Nebenbei kamen wir auf den Koffer zu sprechen, und da ich ein paar Tage später sowieso in Göttingen war, verabredete ich mich am Mathematischen Institut in der Bunsenstraße mit den Proff. Brüdern und Schick, die den Koffer ausnahmsweise mal wieder hervorholten.

Die ganze Geschichte steht in der heute erschienenen Ausgabe der »Zeit«, Seite 33. Die auratischen Fotos stammen von Christian Malsch.

Artikel über den Hermes-Koffer aus der ZEIT

Corrigendum:

Folgende Fehler / die sich im Dru- / cken eingeschlichen / beliebe der / geneigte Leser ohnbeschwehrt / zu verbessern.

  • Im Text fehlen drei Wörter, es muss natürlich heißen: »(…), dass ein regelmäßiges n-Eck mit primer Eckenzahl genau dann nur mit Zirkel und Lineal konstruierbar ist, (…)“ – Online ist der Fehler korrigiert. Dank an T. D., J. D., W. L., R. H.

Und noch ein paar Kontextlinks:


 


Warum schwieg Grass?

Berlin, 14. Juni 2012, 00:35 | von Josik

Heute ist der 14. Juni 2012. Ein ganz besonderes Jubiläum gilt es da abzufeiern, denn auf den Tag genau heute vor fünf Jahren erschien in der »Zeit« Nr. 25/2007 ein grandioses, sich über mehrere Seiten erstreckendes Interview mit den Dioskuren Günter Grass und Martin Walser.

Dieses Interview schlug riesengroße Wellen, zum Beispiel erinnere ich mich noch genau, wie ich damals in einer Kneipe in der Karl-Kunger-Straße in Treptow mich stundenlang mit dem ehemaligen Nachrichten­chef von Radio Energy und mit einem Claire-Waldoff-Experten darüber stritt, ob diese listige Frage, die Iris Radisch und Christof Siemes an Grass und Walser richteten, eigentlich berechtigt oder unberechtigt war:

»Aber haben Sie nicht als Schriftsteller das Problem, dass Sie immer klüger und reflektierter werden und es deshalb immer schwieriger wird, etwas Neues zu schreiben?«

Jedenfalls kann man dieses höchst vergnügliche Gespräch, das in die Annalen der Grass-Walser-Interviews eingegangen ist, gar nicht oft genug lesen, der Umblätterer proudly presents deshalb noch mal die besten Auszüge:

»DIE ZEIT: Wie fanden Sie die Rede, Herr Grass?

Martin Walser: Ich weiß noch genau …

DIE ZEIT: Die heftige Reaktion der Öffentlichkeit auf die Nachricht, dass Günter Grass in der Waffen-SS war, ist auch auf Enttäuschung zurückzuführen. Niemand kritisiert Sie dafür, dass Sie erst jetzt ein Buch darüber schreiben. Aber es gab auch immer den Bürger Grass, der in Reden und Essays Stellung bezogen hat – auch in Dingen, die die eigene Biografie betrafen. Warum ging das hier nicht?

Martin Walser: Er war doch immer …

DIE ZEIT: Aber noch mal: Warum konnte das nur literarisch mitgeteilt werden?

Martin Walser: Heilandsack …

DIE ZEIT: Was ist an der Frage, warum Sie erst nach über sechzig Jahren über Ihre Wochen bei der Waffen-SS sprechen, so verwerflich? Ihre Antwort muss man respektieren, aber dasselbe gilt für die Frage.

Martin Walser: Man wollte sich …

DIE ZEIT: Was ist Ihr Schreibantrieb, Herr Grass?

Martin Walser: Günter hat immer geschrieben, weil …«

 


Aktuelle Roaming-Tarife der deutschen Presse

Krakau, 10. Mai 2012, 22:24 | von Marcuccio

Heute: Polen. Bei Empik (Kraków, Rynek Główny 5) im Angebot:

  • die FAS für 17 Zł / 4,20 €
  • die WamS für 19 Zł / 4,60 €
  • die »Zeit« vom Donnerstag letzter Woche: 25,50 Zł / 6,20 €
  • der »Spiegel« vom Montag dieser Woche: 29 Zł / 7,10 €

Immerhin: Die Sonntagszeitungen werden hier endlich mal wie Wochenzeitungen behandelt und bleiben die ganze Woche im Regal.

Viele Grüße,
Marek
 


Ein Interview mit dem Interviewmüller

Konstanz, 21. Februar 2012, 13:04 | von Marcuccio

Moritz von Uslar gegen Jahresende in der »Zeit« (Nr. 50/2011): »Warum habe ich den Interviewer André Müller nie interviewt?«

Vor gut einem Jahr, am 10. April 2011, ist der Interviewmüller gestorben. »Interviewkünstler« haben ihn die Nachrufe genannt. Interviews mit dem Interviewer gibt es kaum, und in Uslars Frage schwingt mit, was für ein kulturhistorisches Versäumnis das ist.

Einige wenige gibt es immerhin doch (Claudia von Arx für NZZ Folio 1997 und, besonders toll, das Videointerview mit amadelio von 2007). Und Volker Weidermann hat ihn zum Gespräch getroffen und dieses dann im Januar 2011 für die FAS beschrieben.

Beim Entstauben der Bücherregale habe ich nun in einem Handbuch für Journalisten noch ein weiteres leibhaftiges Interview mit André Müller entdeckt, geführt von Michael Haller im Februar 1990. [*] Ein Werk­stattgespräch mit hervorragendem Material für Zitatdatenbanken.

Haller fragt Müller sinngemäß: Warum eigentlich Interviews, und nur Interviews?

Das habe, wie so typisch bei den Großen, banalere Gründe als man denkt. Interviews seien einfach das gegen Redigiermaßnahmen am besten gefeite Genre gewesen. Müller:

»Ich hatte mit anderen journalistischen Formen überwiegend schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn ich ein Feature schrieb, für den ›stern‹ zum Beispiel, dann wurde mir der Text in der Redaktion umgeschrieben. Mich ärgerte das.«

Für die Spezialisierung auf Interviews sprach aber nicht nur das Redigierungsgebaren, sondern auch die Einkommensfrage. Müller:

»Ich begriff, dass dies eine Form ist, mit der ich rasch auf einen großen Umfang komme. Das wirkt sich im Honorar aus. Einen ähnlich langen Text selbst zu erarbeiten, kostet viel Anstrengung.«

Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel

Auf Hallers Frage, wie das eigentlich mit dem Warm-up in Interviews vonstatten gehe, hat Müller eine aparte Anekdote zu Ernst Jünger parat:

»Sie wissen ja, wenn man jemanden interviewt und der macht zu Beginn des Gesprächs ein paar Witze, dann lacht man als Interviewer einfach mit, ob man diese nun lustig findet oder nicht. Ernst Jünger lachte auf eine merkwürdige Weise viel. Ganz zu Beginn habe ich ein, zwei Mal mitgelacht. Doch er hat sein Lachen, als meines einsetzte, abrupt beendet. Ich verstand: Er verbittet sich jede Solidarisierung, jede Annäherung. Das war ein sehr schönes Erlebnis für mich.«

Irgendwann geht es dann darum, dass die besten Interviews die sind, bei denen Interviewer und Interviewter in stiller Übereinkunft wissen, dass sie Leser bedienen müssen und sich die Bälle deswegen ruhig ein bisschen zuspielen:

»Thomas Bernhard sagte mal zu mir: ›Es ist wurscht, was Sie schreiben; schreiben Sie, wie Sie es haben wollen.‹«

Daraufhin stellt Haller die (heute muss man sie so nennen) Tom-Kummer-Frage: »Erfinden Sie im Spiel auch Dialoge – oder müssen die sich real ereignet haben?« Müller:

»Ich habe mich mal als Theaterstückeschreiber versucht, es aber dann bleiben lassen: ich kann keine Dialoge erfinden. Ich benötige das tatsächlich stattgefundene Gespräch.«

Haller spricht Müller daraufhin auf das Interview »mit Ihrer eigenen Mutter« an (»Die Zeit« Nr. 40/1989): »Die Frau, ungebildet und offenbar Alkoholikerin, war betrunken, gelegentlich flossen Tränen. Doch die Sprache, die Sie Ihrer Mutter in den Mund legen, ist ungeheuer prägnant, von literarischer Qualität. Der Text hat Tiefe, die ein Interview eigentlich nicht erreicht.«

Woraufhin Müller zugibt, dass das Gespräch in diesem Fall »nur den Stoff für den Text« geliefert habe:

»Ja, ich habe ihn gestaltet wie ein Stück Literatur, mit Spannungsbögen, mit Dehnungen und Verkürzungen. Es sind meine Formulierungen.«

Vom Stoff sprach und spricht ja auch Kummer immer gern, wenn er sinngemäß sagt, er habe nur den Stoff geliefert, den die Medien von ihm wollten. Die feinen Unterschiede zwischen einer Müllermutter-Interviewmontage und der ins Interviewformat gegossenen Hollywood-Fanfiction eines Tom Kummer hätte man von der Journalistik und/oder Literaturwissenschaft aber schon noch mal gerne aufgearbeitet.


[*] Das ganze Interview: »Nein, ich habe kein Schamgefühl«. Ein Gespräch mit dem hauptberuflichen Interviewer André Müller über seine besondere Art, Gespräche zu führen. In: Michael Haller: Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten. München: Ölschläger 1991. Alle Zitate aus der 2. Auflage, Konstanz: UVK 1997, S. 419–429.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2011

Leipzig, 10. Januar 2012, 04:08 | von Paco

The Maulwurf has landed! Heute zum *siebten* Mal seit 2005, der Goldene Maulwurf 2011:

Der Goldene Maulwurf

Nach unseren umstrittenen Juryentscheidungen zu Iris Radisch (2008), Maxim Biller (2009) und Christopher Schmidt (2010) ist der diesjährige Siegertext vom Typ her eher ein Konsenstext. Vielleicht sind wir nach sieben Jahren in der Halbwelt des Feuilletons wirklich etwas milder geworden, hehe.

Aber vielleicht hat es damit auch gar nichts zu tun, denn Marcus Jauers Text über die »Lust am Alarm« ist so oder so einfach der beste gewesen. Die fürs Web geänderte Überschrift »Tor in Fukushima!« hat im letzten Jahr nicht ihresgleichen gehabt. Schon dadurch ist der Artikel lange im Gedächtnis geblieben, und beim Wiederlesen nach jetzt neun Monaten wundert und freut man sich erneut über den verblüffenden Textaufbau mit drei voll ausgebildeten Erzählsträngen. Das ist eine Übererfüllung des feuilletonistischen Solls, wie sie 2011 ebenfalls einmalig war.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier also endlich die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2011:

1. Marcus Jauer (FAZ)
2. Frank Schirrmacher (FAS)
3. Roland Reuß (NZZ)
4. Judith Liere (SZ)
5. Ulrich Stock (Zeit)
6. Tilman Krause (Welt)
7. Samuel Herzog (NZZ)
8. Kathrin Passig (taz)
9. Ina Hartwig (Freitag)
10. Jürgen Kaube (FAZ)

Eine mención honrosa geht noch an Niklas Maak (FAZ/FAS) und Renate Meinhof (SZ) für beider Berichterstattung zu den Beltracchi-Festspielen in Köln, d. h. den Prozess um die zusammengefälschte »Sammlung Jägers«. Von Maak stammt auch der schwerwiegendste Satz zum ganzen Kunstmarktskandal: »Tatsächlich muss man zugeben, dass Beltracchi den besten Campendonk malte, den es je gab.«

Ansonsten war die Longlist diesmal, wie gesagt, 51 Artikel lang, auch Dank einiger Lesermails, merci bokú! Hinweise auf Supertexte des laufenden Jahres bitte wie immer an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2011

Leipzig, 9. Januar 2012, 00:20 | von Paco

Maulwurf popping up!Nur schnell die übliche kurze Ankündigung: Der Maulwurf steht wieder vor der Tür. In ca. 24 Stun­den kürt Der Umblätterer zum siebten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergangenen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2011). Und um gleich mal den BVB-Torwart Roman Weidenfeller zu zitieren: Die deutschsprachigen Feuilletonisten »have a grandios Saison gespielt«, auch 2011 wieder, und zwar alle.

Schon bis zum Frühjahr war ja mehr passiert als in so manchem Jahrzehnt der vorhergehenden Jahrhunderthälfte zusammen­genommen. Und es gab dementsprechende feuilletonistische Fort­setzungsgeschichten. Die meisten Ereignisse wurden auch von den anderen Ressorts abgedeckt, aber richtig in seinem Element war das Feuilleton bei den Telenovelas um Guttenbergs Doktorarbeit und die sympathische Beltracchi-Fälscherbande mit ihrer zusammengefakten »Sammlung Jägers«.

Eine weitere feuilletonistische Großtat war die Idee der FAZ, Hans Ulrich Gumbrecht ein eigenes Blog zu geben, »Digital/Pausen«, und es ist eigentlich ein eigenes Subfeuilleton, ein intellektueller Playground mit einer markanten Themenwahl und einmaligem analytischem Durchstich. Zwischendurch gab es am 9. Oktober noch die »Jahrhun­dert-FAS« mit superster Staatstrojaner-Coverage – die Ausgabe war sofort vergriffen, die entsprechenden Seiten 41–47 gab es dann aber schnell als PDF zum Download (zu diesem Feuilletonevent gehört unbedingt auch der »Alternativlos«-Podcast Nr. 20 vom 23. Oktober).

In der SZ, der NZZ, der TAZ, der WELT, dem SPIEGEL, der ZEIT und im FREITAG standen natürlich auch wieder die unfassbarsten Sachen drin. Die Idee des Goldenen Maulwurfs ist ja, die noch nie falsifizierte Großartigkeit eines Feuilletonjahres in den zehn angeblich™ besten Artikeln zusammenzufassen. Das ist bei einer Longlist von diesmal 51 Artikelvorschlägen eigentlich zu knapp, aber wir werden es wieder hinkriegen. Dazu dann morgen mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005   (#1 Stephan Maus/SZ)
2006   (#1 Mariusz Szczygieł/DIE PRESSE)
2007   (#1 Renate Meinhof/SZ)
2008   (#1 Iris Radisch/DIE ZEIT)
2009   (#1 Maxim Biller/FAS)
2010   (#1 Christopher Schmidt/SZ)
2011   (#1 ???/???)

Am Dienstag im Morgengrauen dann also die zehn besten Texte aus den Feuilletons des Jahres 2011. Hier.

Bis gleich,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque

 
(Bild: Wikimedia Commons)