Nekrologstricher und Nekrologdealer
Hamburg, 24. Februar 2013, 14:41 | von Josik
Irgendwann während des morgendlichen Arbeitsessens im wunderbaren Café Leonar – ich hatte selbstverständlich das Josefstädter Frühstück bestellt – kam, wie so oft in diesen Tagen, die Rede auf den Papst, und ich hörte zum ersten Mal die denkwürdige These, dass Joseph Ratzinger, anders als etwa Karol Wojtyła, gar nicht genug Charisma besessen habe, als dass er jemals einen Attentatsversuch hätte befürchten müssen.
Unmittelbar nach diesem Arbeitsfrühstück raste ich los zum S-Bahnhof Stadthausbrücke, aber leider war der Akku meines Handys alle und so konnte ich Dique nicht darüber in Kenntnis setzen, dass ich, der sich sonst niemals verspätet, mich etwas verspäten würde. Dique wartete schon am Ausgang Neuer Wall und wir eilten zu dieser hervorragenden Pelmeni-Butze (deren Namen ich leider vergessen habe), um dort das Mittagessen einzunehmen und weiter über John F. Kennedys Charisma zu diskutieren sowie über die Tatsache, dass nun allerorten Nachrufe auf Ratzinger zu lesen waren, die sich nicht Nachrufe nennen durften.
Wir beschlossen, die Diskussion im herrlichen Café Paris fortzuführen, und waren uns einig, dass das Allerunsäglichste und Nervigste, was man im Internet überhaupt zu lesen bekommt, dieser verdammte Satz nach jeder einzelnen Eilmeldung ist: »In Kürze mehr auf SPIEGEL ONLINE.« Als Leser möchte man ja immer sämtliche Informationen sofort abrufbereit haben, und entsprechend müssen die Redaktionen gegenüber sämtlichen überhaupt denkbaren Eventualitäten jederzeit gewappnet sein. Zwar wünscht niemand, dass Ratzinger sterben wird, aber was, wenn es eben doch einmal irgendwann passieren sollte?
Seine Biografie hatten alle Redaktionen bekanntlich längst eingetütet gehabt, und entgegen der Meinung mancherer Meckerer und Moserer ist es in Tat und Wahrheit eben überhaupt nicht pietätlos, darüber zu sprechen. Spätestens seit wir Andrej Kurkows grandiosen Roman »Picknick auf dem Eis« gelesen haben, ist ja uns allen der Beruf des auf absolut alles topvorbereiteten Nekrologredakteurs sogar ein bisschen ans Herz gewachsen. Jedenfalls überlegten wir jetzt im zauberhaften Café Paris, welcher lebende Deutsche eigentlich Charisma besitze. Uns fiel nur ein einziger ein, und auch nach sehr langem Nachdenken blieb es bei diesem einen: Helmut Schmidt natürlich.
Wir fragten uns, ob die »Zeit« für den Fall des Falles vielleicht schon eine Sonderausgabe vorbereitet habe, die dann noch am gleichen Tag in Druck gehen wird, und Dique meinte, wir könnten doch einfach zum »Zeit«-Redaktionsgebäude laufen, das sei ganz in der Nähe, und dort den Pförtner fragen. Wo, wenn nicht dort, würde man darüber Gewissheit erlangen können? Ich hatte einige Bedenken und wollte eigentlich nicht persönlich dort aufkreuzen, sondern lieber anrufen, aber dann erinnerte ich mich wieder daran, dass ja mein Akku alle war. Wir zahlten also und sprinteten zum Speersort 1, doch welche Überraschung! – es gab am Eingang überhaupt keinen Pförtner.
Wir stiegen in den Aufzug, ins Ungewisse, eine junge Frau hechtete noch im letzten Moment zu uns herein und fragte: »Wissen Sie, wo man zum Bewerbungsgespräch für ZEIT Reisen hin muss?« Dique und ich sagten unisono: »Dritter Stock«, und hofften insgeheim, dass das auch stimmte. Wir stiegen dort dann gemeinsam mit der jungen Frau aus, ließen ihr aber den Vortritt, ihr wurde von zwei Empfangsdamen der Weg gewiesen. Schließlich fragten wir die beiden Rezeptionistinnen, wer aus der Redaktion für Nekrologe zuständig sei.
Überraschenderweise fragte eine der Damen mit einer absoluten Selbstverständlichkeit, d. h. ohne das leiseste Erstaunen in der Stimme und ohne jegliche Verwunderung – tja, aber was genau sie nun fragte, da gehen meine und Diques Erinnerungen auseinander. Ich meine gehört zu haben: »Wollen Sie sich anbieten?« Dique hingegen meint gehört zu haben: »Wollen Sie was anbieten?«
Sich anbieten bedeutete, dass wir offenbar für seriöse freie Journalisten gehalten wurden, die sich für feste Stellen in der Nachrufabteilung bewerben. Etwas anbieten bedeutete, dass wir offenbar für seriöse freie Journalisten gehalten wurden, die einen, wenn nicht sogar mehrere ganz konkrete hochaktuelle selbstverfasste Nachrufe schon in der Tasche hatten und die in der Redaktion vorbeibringen wollten.
Der Unterschied zwischen sich anbieten und was anbieten wäre also in etwa der Unterschied zwischen Nekrologstrichern und Nekrologdealern. Ich halte allerdings meine Version für die wahrscheinlichere, denn wie wir aus dem Aufzug wussten, wären wir ja nicht die einzigen gewesen, die sich an diesem Tag beworben hätten. Das Gespräch mit den Empfangsdamen endete jedenfalls so, dass uns zwei Telefonnummern auf ein gelbes Post-it geschrieben wurden: eine Nummer für Nachrufe im Politikteil, die andere für Nachrufe im Feuilleton.
Dass es da in Politik und Feuilleton also allem Anschein nach zwei verschiedene Nachrufabteilungen gibt, macht die Sache nun freilich erst recht vertrackt und eine Auflösung unserer Frage eigentlich unmöglich, denn wir können ja nicht wissen, ob Helmut Schmidt nach Einschätzung der »Zeit«-Redaktion mehr für die politischen Ämter, die er einmal innehatte, zu würdigen ist oder mehr für seine Weltweisheit.