Archiv des Themenkreises ›Die Zeit‹


Geistzeit

Stanford, 28. Januar 2011, 08:19 | von Srifo

Es war die »Atemwolke« eines Mannes Ende sechzig mit Baskenmütze, die gerade in der »Zeit« (4/2011) die nötige Aura zum Ausrufen des philosophischen »Debattierbürgertums« geschaffen hat. In den mittel­grauen Luftzug hinein meldet der »aufgewühlte Herr« gegen Ende des kleinen Reports »Freie Geister im Café« (S. 41/42), dass er »nichts Konkretes« aus dem soeben von ihm in Bonn beigewohnten »148. phi­losophischen Café« mitnehme. Jedoch halle Tage später nach, was we­gen Wolkigkeit eben nicht sofort per Aufklärung auf Sicht gewonnen werden konnte.

Was der »Zeit«-Autor Christian Schüle da abhört, ist aber nicht das Gurgeln theoretischer Versinterung per se (um eins der schönen Wörter von Werner Spies zu klauen, ein anderes wäre »pastose Malmaterie«). Nein, er erzählt von etwas, das Hans Ulrich Gumbrecht vor einiger Zeit in der FAZ schon mal »eine neue Sensibilität für die Phänomene der Stimmung« genannt hat.

Zur Feier der philosophischen Verwolkung genehmigte Adorno dage­gen noch 1962 im »Merkur« eine grimmige Fürwörtertirade sich. Der Text »Wozu noch Philosophie«, dessen wohlgewählter Ton das Frage­zeichen macht – »eine Frage …, für deren Formulierung ich selbst ver­antwortlich bin« –, prustet vor kritischem Ärgernis über all das hirnlose Blahblah:

»Wären nicht alle positiven Redeweisen tief verdächtig geworden, so könnte man sich ausmalen, daß erst einem solchen zugleich freien und in sich reflektierten Bewußtsein das sich entfaltete, was die traditionelle Philosophie sich verbaute, indem sie sich selbst mit dem verwechselte, was sie deuten will.«

Gumbrecht liegt da gefühlt ähnlich, im Ton aber eher glucksend, wenn er vom »asketischen Selbstmitleid der Dekonstruktion« auf die Stimmung der Skepsis in der »›Literaturwissenschaft‹, wie man in Deutschland sagt«, kommt. Hier in Stanford hat er gerade ein Seminar zum anstehenden Stimmungsbuch gegeben. Unter dem (selbst von ihm als Romanist gepriesenen) gleißenden kalifornischen Licht verflog bei den Thomas-Mann-, Machado-de-Assis- und Heidegger(!)-Sitzungen dem Hirn jede wolkige, deutsche ›Stimmung‹, wobei gleichsam auf ewig klar wurde, was z. B. einen Bewohner der diesigen Oberrheinebene dazu bewegt, unter ›Geischt‹ auch Spirituosen zu zählen. Nebel, vernebelnd und benebelt liegen dicht (pardon) beieinander.

Zwischen Weinstüble und Silicon Valley wird jedenfalls die im Untertitel angemahnte Debatte »Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur« ausgetragen werden. Ob Gumbrecht geplant hat, sein Buch mit dem Karnevalsschlüsselwort im Titel kurz vor der Fastnachtszeit zu veröffentlichen, werden hoffentlich die Rezensionen eruieren!

Putzig ist übrigens noch, wie das »Titelcomposing« auf der Frontseite der »Zeit« der Uffizienbüste des Aristoteles eine kalifornischen Yoga-Mom um den Hals geworfen hat (ihr Prius ist nicht zu sehen, vernünf­tigerweise). Stimmungsvoll schattet sich letztlich auch das Blutkarmin ihrer Lippen in den geheimnisvoll-violetten Schriftzug »Die neue Lust an Philosophie« ab.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2010

Leipzig, 11. Januar 2011, 04:25 | von Paco

Und jährlich grüßt das Maulwurfstier. Heute zum *sechsten* Mal seit 2005, hier ist der Goldene Maulwurf 2010:

Der Goldene Maulwurf

Diesmal gab es noch bis kurz vor Schluss unüberbrückbare Differenzen. Unsere Top Ten ist ja nicht gerankt, sagen wir immer, trotzdem wird bis zum Schluss um die Platzierungen gefightet. Und hier war jetzt die Frage: Christopher Schmidt oder Mathieu von Rohr. Zwei vollkommen verschiedene Texte, und ein Kompromiss schien irgendwann nicht mehr möglich, zu sehr waren wir mit unseren jeweiligen Argumenten verschmolzen.

Es gab nur einen Ausweg: Die Entscheidung, die dann auch von allen akzeptiert wurde, fiel beim Tischfußball (ein Wegweiser auch für künftige Entscheidungen anderer Jurys!), selbstverständlich unter Ausschluss von Mittelreihenschüssen. Und das Christopher-Schmidt-Team siegte mit 10:7 gegen eine kämpferische Mathieu-von-Rohr-Seleção.

Schmidt hat den Goldpokal auch völlig zu Recht verdient, die Kaffee­hausfähigkeit seines von uns hier gefeierten Artikels ist wirklich be­achtlich. Noch Monate nach der Veröffentlichung haben wir Freunde, Bekannte und Fremde in shock and awe davon reden hören.

Und hier sind sie alle, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2010:

1. Christopher Schmidt (SZ)
2. Mathieu von Rohr (Spiegel)
3. Stefan Niggemeier (FAS)
4. Simone Meier (Tages-Anzeiger)
5. Jakob Augstein (WAMS)
6. Iris Radisch (Zeit)
7. Nils Minkmar (FAZ)
8. Michael Angele (Freitag)
9. Renate Meinhof (SZ)
10. Philipp Oehmke (Spiegel)

Auch der 2010er war wieder ein superster Jahrgang des deutschen Feuilletons. In den 10 Mini-Laudationes stehen nur einige Gründe dafür. Diese lassen sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007, 2008 und 2009 auch später noch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken.

Hä? Kein bester Text zur Sarrazin-Debatte? Den hätte es natürlich schon gegeben (evtl. Edo Reents‘ Buchmessenverfolgung?). Und kein Peter-Richter-Text diesmal? Auch das wäre möglich gewesen, big time sogar, wie immer (z. B. »Die Schlacht der großen Vier«, FAZ vom 22. 6. 2010, da hat ein Event genau den einen Autor gefunden, der es adäquat abbilden kann).

Auch nicht dabei ist ein absolutes Highlight aus der Abteilung ›Kunst­markt‹, David Granns wahnhafte Reportage über den Fingerprint-Kunstauthentikator Peter Paul Biro im »New Yorker«. Aber diese Story ist über 120.000 Zeichen lang und steht damit außer Konkurrenz, ist eher Sachbuch als Feuilletonartikel. Und auch die Berichterstattung der deutschen Zeitungen über den Fälscherskandal um die so genann­te »Sammlung Jägers« war ja nicht schlecht und las sich insgesamt wie eine hochspannende, abenteuerlich-moralische Fortsetzungsge­schichte, siehe die Nr. 9 unserer Hitliste.

Usw.

Bis nächstes Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Feuilletonismus 2010

Leipzig, 10. Januar 2011, 00:15 | von Paco

The Golden MoleIn wenigen Stunden, am Dienstagmorgen, 11. Januar 2011, kürt Der Umblätterer zum sechsten Mal seit 2005 die zehn besten Texte aus den Feuilletons des vergan­genen Jahres (a.k.a. Der Goldene Maulwurf 2010).

Die (interne) Longlist war diesmal 49 Artikel lang. Das entspricht also pro Woche knapp einem Artikel, der unseren sicher fragwürdigen Kriterien irgendwie entsprochen hat, hehe. Danke, German Feuilleton!

Öfters hört man ja mal jemanden sagen: »DIE ZEIT ist wieder besser geworden.« Oder: »Die SZ ist wieder besser geworden.« Usw. usw. Solche Aussagen sind natürlich einer selektiven Wahrnehmung ge­schuldet (Probeabo?), denn die erwähnten Zeitungen waren ja nie schlecht, und noch immer gilt, was wir hier letztes Jahr behauptet haben (und was schönerweise auch das Grimme-Institut in die Begründung für unsere Nominierung übernommen hat): Wir haben es immer noch und immer wieder mit dem besten Feuilleton aller Zeiten zu tun.

Unser Kriterium ist ja, siehe hier, die Kaffeehausfähigkeit eines Zeitungsartikels. Es geht aber immer auch um den Zusammenhang Zeitung, um die etwaige Schönheit einer einzelnen formvollendeten Feuilletonseite. Es war ein großer Moment des Feuilletonjahres 2010, als Rainald Goetz am 8. April bei Harald Schmidt saß und eine Seite des FAZ-Feuilletons hochhielt, links ein Hettche-Artikel, rechts ein Bild, und dazu die Worte sprach: »Ich finde, das schaut einfach super aus irgendwie.« (YouTube, bei Min. 1:25)

Es gab im letzten Jahr überraschende Coups wie den Plagiatstext von, ähm, Durs Grünbein in der FAZ (nur echt mit den doppelten Anfüh­rungszeichen) und den Recap des Bachmann-Wettlesens von Airen in der FAS. Überhaupt gab es viel Meta-Polterei zum Literatur- und Rezensionsbetrieb (z. B. Jörg Sundermeier in der »Jungle World«, Sibylle Lewitscharoff in der »Welt«, Arno Widmann in der FR, Martin Hielscher und Helmut Böttiger in der SZ). Und es gab ein sagenhaftes Nicht-Interview, das Johanna Adorján mit Reich-Ranicki geführt und das offenbar immer noch so viele Fans hat, dass einige von ihnen uns Mails schickten und verlangten vorschlugen, es in die Top Ten aufzunehmen.

Das war jetzt ein kurzer Rückblick nur auf die Literaturberichterstat­tung des letzten Jahres. Das Feuilleton, dieser »nicht enden wollende Gegenwartsroman mit all seinen literarischen Glanzpunkten und inhalt­lichen Schrecklichkeiten«, war natürlich viel reicher. In ein paar Stunden dann, wie gesagt, mehr.

Hier noch schnell unsere Backlist, die Preisträger der vergangenen Feuilletonjahre:

2005
*   2006   *
*       2007       *
*   2008   *
2009

Bis Dienstag im Morgengrauen,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Rheinischer Merkur trifft Rheinischen Hausfreund

Konstanz, 29. September 2010, 13:01 | von Marcuccio

Komischerweise kam kein Feuilleton drauf zu sprechen, obwohl es wirklich sehr, sehr nahe lag, als Chefredakteur Michael Rutz genau heute vor einer Woche und einem Tag im Deutschlandradio Kultur (sinngemäß) bestätigte:

Ja, der RM werde als selbstständige Publikation zum Jahresende eingestellt. Und ja, er werde in Form eines »Zeit«-Supplements weitergeführt, als »Schatzkästlein geistiger und geistlicher Inhalte« (mp3).

Schwerer Fall von Dauerassoziation wahrscheinlich, aber seit diesem »Schatzkästlein«-Statement klingeln meine Hebel-Glocken, und zwar so, dass ich an den »Rheinischen Merkur« gar nicht mehr denken kann, ohne den »Rheinischen Hausfreund« notorisch mitzufantasieren. Sprich das Kalendergeschichten-Gesamtwerk des evangelisch-badischen Lehrers und Pfarrers Johann Peter Hebel.

RM-Anzeige (Klicken zum Vergrößern)Der im Radio verkündete Wandel der katholi­schen Wochenzeitung zum »Schatzkästlein« hatte sich symbolisch ja schon mit der Werbe­kampagne ab der zweiten Augusthälfte abge­zeichnet: Auf den vielen Anzeigen in den diver­sen Printmedien (z. B. »Welt« vom 9. Septem­ber, S. 27) sah man ein – ja was eigentlich: Schatzkästlein? Auf jeden Fall einen raumgreifenden Tunnel. Einen 3D-artigen Kubus, austapeziert mit weinrot getünchten »Rheinischen Merkur«-Zeitungsseiten, dazu der Slogan: »Gehen Sie mit uns in die Tiefe.«

Zeitungstotentanz

Ein ganz klein wenig erinnerte das Design der Anzeige an leere Ladenlokale in schlechteren Shopping Malls. Ihr wisst schon: die Läden, die ihr Schaufenster mit BILD-Zeitungspapier zukleben und offiziell behaupten: »Wegen Umbau geschlossen.« Wobei der semiotische Subtext lautet: »An dieser Stelle schon lange Leerstand.« Oder: »Hier wahrscheinlich nie mehr geöffnet.«

Ob der verwaiste Zeitungsverschlag also schon pure Symbolsprache war? Zumindest nach der Entscheidung der Deutschen Bischofs­konferenz wirkt der Zeitungskubus so sackgassig, dass man seine Auskleidung mit RM-Seiten glatt als literarische Ansage lesen muss: Rechtswandig weist »Regent Rotstift« erbarmungslos aufs Ende der Tiefe, und zwar genau dorthin, wo die RM-Titelschlagzeile klagt: »Es fehlen klare Sätze« (auch zur Zukunft des RM?).

Linkerhand liegen »Christ und Welt« am, jawohl, Boden – mithin das einzige RM-Ressort, das ab Januar weiterleben wird, indem es (vorerst) als Supplement der »Zeit« aufgehen soll. Man kennt solche Zeitungsasylgeschichten und ihren Ausgang zum Beispiel vom Schicksal der »Wochenpost« her. Und wünscht schon jetzt: Herzliches Beileid. Der RM-Werbeabteilung aber volle Gratulation zu diesem gelungenen Zeitungstotentanz.

Das feuilletonistische Schatzkästlein

Der eine und einzige RM, den ich mir mal aktiv gekauft habe, ist jetzt fast 10 Jahre alt und enthält eine Art literarisches Quartett, das der RM zur Frankfurter Buchmesse 2000 veranstaltet hat: Kulturredakteurin Christiane Florin diskutierte mit Rainer Moritz, Tanja Kinkel und Jürgen Bräunlein über die Frage:

»Wie viel Talent braucht der Erfolg?« (RM Nr. 44 vom 3. 11. 2000, S. 20).

Im deutschen Literaturbetrieb florierten gerade die Popliteraten und Fräuleinwunder, zeitgleich war Verona Feldbusch auf dem Höhepunkt ihrer Peep- und Blubb-Macht. Und Jenny Elvers war noch keine knallharte Schauspielerin, sondern Synonym für Fragen wie diese:

»Hat auch der Literaturbetrieb seine Jenny Elvers?«

Jürgen Bräunlein, der darauf antworten sollte, hatte gerade »Schön blöd« veröffentlicht, ein Buch über den Medienerfolg der Untalentier­ten. Und Rainer Moritz berichtete von einer »Leihdogge«, die er für ein Autorenfoto-Shooting von Sibylle Berg bezahlen musste.

Wie irre, dieses historische Gespräch heute nachzulesen. Höhepunkt aber diese Antonomasie von Jürgen Bräunlein:

»Für mich ist Benjamin von Stuckrad-Barre der Zlatko der Literatur, auch wenn er eine Zielgruppe hat, die sich für etwas feinsinniger hält.«

Heute kaum noch ohne historisch-kritischen Apparat vermittelbar, aber vor zehn Jahren – TV-Deutschland hatte gerade die erste Big-Brother-Staffel hinter sich – entfaltete ein Zlatko tatsächliche Schlagwort-Qualitäten (»Zlatkoisierung des Fernsehens« u. ä.).

Eine Kalendergeschichte aus dem RM-Feuilleton

Die in feuilletontypischer Zeitgeist-Hybris formulierte Wendung stiftet also eine Erzählung, die letztlich auch nicht anders funktioniert als das »Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes« (zu dem es im Nachwort der Reclam-Ausgabe heißt):

»Gleich vielen großen Erzählern ist Hebel nicht eigentlich Erfinder, wohl aber ein Meister der Darstellung, ein Plastiker des Worts und des Satzgefüges, ein Freund aller Gegenständlichkeit. Passiert doch in seinen Geschichten niemals etwas in einem x-beliebigen Wirtshaus, sondern durchweg in einem ›Schwanen‹, ›Bären‹ oder ›Roten Ochsen‹, ebenso wenig an einem ungenannten Ort, vielmehr in Segringen, Brassenheim oder Mauchen.«

Jetzt warten wir nur noch auf den Germanisten, der das Namedropping der Popliteratur aus der Kalendergeschichte ableitet, irgendeinen ganz Wilden, der Johann Peter Hebel mit Douglas Coupland kurzschließt. Und warum nicht? Es war Coupland, der mal zu Protokoll gab (als ihn Marc Deckert in irgendeinem NEON-Interview mit dem »Tod der Popliteratur« nervte):

»Ich finde Autoren schrecklich, die im Jahr 2003 Sätze schreiben wie: ›Er stieg in seinen Wagen und fuhr zu dem Supermarkt.‹ Nein, es muss heißen: ›Er stieg in seinen Honda Accord und fuhr zu Wal-Mart.‹ Manche Autoren versuchen ihre Literatur für die Ewigkeit haltbar zu machen, indem sie all den oberflächlichen Mist weglassen, der uns umgibt.«

Namentlich konkret und enzyklopädisch aufgeladen geht’s also zu, im RM-Feuilleton mit einem ›Zlatko der Literatur‹ nicht anders als bei Hebel oder Coupland: Dass aber ausgerechnet Coupland, der in bester »Schatzkästlein«-Tradition fürs poetische Gegenteil des x-Beliebigen plädiert, die »Generation X« erfunden hat: Das ist und bleibt mein Lieblings-Treppenwitz der Popliteraturgeschichte.


Die Welt als Schopenhauer und Überschrift

Konstanz, 25. August 2010, 18:44 | von Marcuccio

Gabriel ist mir im Traum erschienen, der hier schon öfters erwähnte Überschriftenerfinder. Und zwar in Form von Christoph Poschenrieder, der Überschriften gefischt hat. Überschriften aus dem großen Meer der Anspielungen, mit denen Journalisten und namentlich Feuilletonisten gern Buchtitel, Filmtitel, Songtitel usw. umsegeln. Klassisch hierzu natürlich schon der ewige MRR:

  • »Jenseits der Literatur« = Überschrift seines Verrisses zu Martin Walsers »Jenseits der Liebe« (1976)
  • »Die Angst des Dichters beim Erzählen« = Überschrift zu Peter Handke (1972)

Es gibt gewisse ungeschriebene Gesetze der Branche: Wenn z. B. Franka Potente neulich einen Erzählband vorlegt, dann kann die Überschrift natürlich nur wie lauten? Genau:

  • »Lola schreibt« (Tagesanzeiger, 5. August, und WELT, 7. August)

Witzig ist es dann eben auch mal, Langzeitprofile anzulegen. Christoph Poschenrieder hat genau das getan und eine Liste gesammelter Verballhornungen vorgelegt, die auf Schopenhauers »Die Welt als Wille und Vorstellung« anspielen:

  • »Die Welt als Willy und Vorstellung« (Tagesspiegel, Artikel über die SPD)
  • »Die Welt als William und Vorstellung« (ZEIT, Artikel über Shakespeare am Berliner Ensemble)
  • »Die Welt als Wille und Wechselstrom« (FAZ)
  • »Die Welt als Pille und Vorstellung« (SZ-Magazin)
  • »Die Welt als Wille und Vorurteil« (Der Standard)

Diese und weitere Findungen sind nachzulesen im aktuellen Diogenes-Magazin (Nr. 4, Sommer 2010, S. 22).

Wieso sammelt Poschenrieder Schopenhauer-Überschriften? Weil er einen Schopenhauer-Roman vorgelegt hat: »Die Welt ist im Kopf«. Das Buch liest sich schnurstracks weg. Ein bisschen so als hätte Daniel Kehlmann über Schopenhauer & Lord Byron statt über Humboldt & Gauß geschrieben.


Kafka, redigiert

Leipzig, 24. Juni 2010, 09:55 | von Paco

Man könnte ein ganzes Blog mit Lieblingsstellen aus den Krausser-Tagebüchern bestreiten, »einem der unfassbar hervor­ragendsten Literaturgroßprojekte aller Zeiten«, wie Dique neulich schon schrieb. Auf Jahre hin hätte man Stoff. Gerade ist »Substanz« erschienen, eine Auswahl aus den 12 Tagebuchbänden, aber »Substanz« zählt natürlich nicht, man muss sie schon alle lesen, im Zusammenhang.

An eine Stelle aus dem »März« (2003) habe ich mich wieder erinnert, als ich Florian Illies‘ »Substanz«-Verriss in der »Zeit« gelesen habe. Und selbst der verrisswillige Illies lässt diese Stelle gelten: »Ein einziges Mal, als er auf drei Seiten einen Satz von Kafka auseinander­nimmt und redigiert und verbessert, scheint auf, wieso im begründeten Denkmalsturz eine eigene Größe gewonnen werden kann.« Es geht um den ersten Satz aus Kafkas »Proceß«:

»Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.«

Den Satz hat vor zwei Jahren auch Frank Schirrmacher mal schön exemplarisch auseinandergenommen. Krausser aber macht noch etwas anderes, etwas Unerhörtes, er macht Verbesserungsvor­schläge.

Er schreibt über den Satz: »Das ist nicht schlecht, aber genial?« Und formuliert ihn probehalber um und begründet es damit, dass man »sich heute zugunsten der erzählerischen Komplexität Optionen offen halten« würde, damit das, was im Roman folgt, nicht gleich »als tragisch gestempelt, eingleisig« wäre: »genaugenommen kann man sich den Rest auch sparen«. Kraussers Alternativvorschlag:

»Josef K. glaubte an eine Verleumdung, denn ohne bewußt Böses getan zu haben, wurde er an seiner Haustür verhaftet.«

Krausser schreibt übrigens auch: »Es geht nicht darum, den heiligen Franz zu verbessern. / Aber mal grundsätzlich: wenn heutzutage nicht besser geschrieben werden könnte als zu Kafkas Zeiten, hätte kein Fortschritt stattgefunden. Unsereins stehen so viel mehr Techniken zur Verfügung.«

Also, kleiner Kafka-Sockelsturz, schulbuchwürdig, im positiven Sinn.


Die FAS vom 9. Mai 2010:
»Ich verabscheue Egon Erwin Kisch«

Leipzig, 9. Mai 2010, 23:38 | von Paco

Tisch, FAS, Bücher

Zur Vorgeschichte: Und zwar hatte es am 7. März eine Folge des Volker Panzer’schen »nachtstudios« gegeben, Islamkritikdebatte etc., auch Henryk M. Broder und Claudius Seidl waren da gesessen und hatten sich auf das Schönste gegenseitig belegt. Broder sagte irgendwann folgenden Satz:

»Herr Seidl, Sie bewegen sich doch nur zwischen Ihrer Redaktion und Café Einstein, das ist zu wenig, um die Welt zu erleben.«

So richtig darauf reagiert hat Seidl erst jetzt, heute, in der FAS: »Es kann nicht ganz verkehrt sein, wenn Journalisten gelegentlich die Redaktionszimmer verlassen und hinausgehen, an die frische Luft, oder hinein in Räume, die nicht ausdrücklich als ihre Arbeitsplätze definiert sind –«

So beginnt sein Artikel über die Reportage als Genre, Überschrift: »Die Verniedlichung der Welt«, und durch den Verweis auf diesen Text wurde ich heute morgen, kurz vor 8 Uhr, Sonne, Himmel, Mai, ins Feuilleton hineingezogen, nach rechts unten auf die fast hinterletzte Seite, ganz kurz vor dem Fernsehprogramm.

Seidl lobt dort dann, ohne Namen zu nennen, einen »Seite Drei«-Artikel der SZ, geschrieben von Holger Gertz und Alexander Gorkow, der von Louis van Gaal als »Väterchen Frost« handelte (S-Zeitung vom 21. April). Und er kommt noch mal auf den sogenannten rasenden Reporter zu sprechen. Auch hier wieder die Vorgeschichte: Im »nachtstudio« hatte Broder eine Leseempfehlung zu einem bestimmten Thema (egal) abgegeben:

Broder: Lesen Sie Halldór Laxness, lesen Sie Egon Erwin Kisch –
Seidl: ICH VERABSCHEUE EGON ERWIN KISCH.

Die Großbuchstaben hat man in der Sendung ganz deutlich herausgehört. Die Fußnote dazu kommt jetzt in der FAS: »Kischs Texte, wenn man sie heute wiederliest, sind selten Beiträge zur Wahrheitsfindung und umso häufiger Ressentiment, Ideologie, Propaganda.« Das hier jetzt wiederholte Kisch-Bashing wirkt eigentlich überschüssig, aber dann, warum auch nicht, warum nicht einfach mal wieder ein wenig Kisch-Bashing für zwischendurch.

Es folgt ein kleiner Diss gegen Sabine Rückerts »Zeit«-Reportage »Todfreunde« (Reporterpreis 2009) und ein weiterer gegen Alexander Osangs »Spiegel«-Porträt »Die deutsche Queen« über die Merkelin (vom SPIEGELblog als »Hofberichterstattung« bezeichnet, war nominiert für den, genau: Kisch-Preis).

Seidl bezeichnet derlei Reportagen als »Preisträgerprosa«, die vom Bescheidwissen lebe und »also zugleich alles Unverstandene und Unversöhnte, alles Unerklärliche und Unsagbare ausschließt«. Eine schöne »Un«-Reihung, und überhaupt ist das alles in diesem Seidl-Ton geschrieben, der auch ein wenig zur FAS-Sprache geworden ist, und für eine Sonntagszeitung ist diese Art gefälliger Divergenz eben genau der richtige Ton.

Als Gegen-Kischs für nun orientierungslose Reportagenschreiber nennt Seidl übrigens die Namen: 1. Hans Ulrich Kempski, 2. Herbert Riehl-Heyse, 3. Marie-Luise Scherer. Und noch ein schreckliches Detail überliterarischer Reportagen hat Seidl beschrieben:

Die Ein-Absatz-Sätze.

Der Seidl-Text kam also sehr, sehr gut. Auch sonst war das wieder eine Spitzen-FAS. »Reitet für England«, lautet die Überschrift zur Besprechung von Ridley Scotts »Robin Hood«, und diese Überschrift ist natürlich mal wieder Feuilletonismus gone wild, aber die Anspielung passt dann vielleicht doch ganz gut zur Stoßrichtung des Artikels von Peter Körte.

Ich muss leider bei Filmkritiken in der FAS immer an Joachim Lottmann denken und seinen Kommentar zur Filmredaktion der FAS. Lottmanns Fußnote wird bald zwei Jahre alt, und ich sollte mich wirklich mal anstrengen, die wieder aus der Assoziationsmaschinerie rauszutun.

Sehr super dann noch der Henning-Ritter-Artikel »Die weißen Strümpfe«, Anekdoten aus der Zeit vor der Revolution (keywords: Daunon de Guitry, Abbé Galiani, Madame d’Épinay, Rousseau). Im »Gesellschafts«-Teil wird ein Currywurst-Testessen bei Konnopke, Schönhauser Allee, beschrieben, das ist eine sehr heftige Schmähkritik mit einer Wagenladung an Verrissvokabular.

Dann war es irgendwann 9 Uhr und ich musste mal hinaus und spazierte durch die Südvorstadt irgendwohin. Abends, kurz nach der ersten Hochrechnung zur NRW-Wahl, rief Dique an, es ging ein bisschen hin und her, und am Ende fragte er, ob er noch die FAS kaufen gehen müsse, ob irgendwas drinstehe heute.


Kulinarische Literaturkritik

Konstanz, 1. März 2010, 08:15 | von Marcuccio

Auch schon vor Jürgen Dollase gab es sensationelle Geschmacks­erlebnisse im Feuilleton. Darauf weist Michaela Köhler hin, in ihrer jetzt nicht neuen, aber immer noch einzigartigen Arbeit zur Sprache der Literaturkritik. Ihr Thema u. a.: die »Tradition der Synästhesien von Geschmacksempfindung und Literatur«, also die »Anwendung des Begriffs Geschmack nicht nur auf die Wahrnehmung von Essen und Trinken, sondern auch von ästhetischen Objekten«.

Hier mal für zwischendurch einige Gaumen-Hits des Literaturjahres 1988. Cocktails, Longdrinks, Feinschmeckersuppen. Festmähler, Braten und Pralinen:

  • »Der Roman-Cocktail, mit Krimi- und Gesellschaftssatire-Sätzen aufge­peppt, mundet nicht (…)« (Walter Klier über Karin Scholten, in: Die Zeit, 25. 3. 1988)
  • »Gegen dieses von Gerd-Peter Eigner vor drei Jahren ausgeschenkte hochprozentige Sprachelixier ist das Nachfolgeprodukt, ist ›Mitten entzwei‹ wohl eher ein Longdrink.« (Ulrich Horstmann über Gerd-Peter Eigner, in: Die Zeit, 19. 8. 1988)
  • »Mir schmeckt diese Suppe. In den Gebräuchen des ästhetischen Nihilis­mus ein braves Eintopfgericht. Ihr gleichwohl unleugbarer Mangel an literarischer Delikatesse (…).« (Karl Heinz Kramberg über Werner Kofler, in: SZ, 10. 2. 1988)
  • »Der ›Anhang‹: Ein Meisterstück. Ein Festmahl des Geistes mit immer­grünen ewigfrischen Zutaten. Biß für Biß ein Genuß.« (Andreas Kilb über Ulla Hahn, in: Die Zeit, 25. 3. 1988)
  • »›Barbarswila‹ ist ein epischer Brocken, wie er nicht alle Tage auf den Tisch kommt, ein deftiges, dampfendes Stück Literatur« (Jürgen Jacobs über Gerold Späth, in: FAZ, 10. 9. 1988)
  • »eine schweizerische Prosapraline erster Wahl« (Friedhelm Rathjen über Jürg Laederach, in: SZ, 15. 11. 1988)

(nach Michaela Köhler: Wertung in der Literaturkritik. Bewertungs­kriterien und sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten des Bewertens in journalistischen Rezensionen zeitgenössischer Literatur. Würzburg. Diss. 1999, S. 125–129.)
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2009

Leipzig, 12. Januar 2010, 06:35 | von Paco

Endlich kommt er wieder ans Licht gekrochen, der Goldene Maulwurf, zum nunmehr *fünften* Mal:

Der Goldene Maulwurf

Und hier sind sie, die Autoren und Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2009:

1. Maxim Biller (FAS)
2. Peter Richter (FAS)
3. Henryk M. Broder (Tagesspiegel/Spiegel)
4. Wolfgang Büscher (Zeit)
5. Hans Ulrich Gumbrecht (Literaturen)
6. Nora Reinhardt (Spiegel)
7. Tom Kummer (Freitag)
8. Birk Meinhardt (SZ)
9. Felicitas von Lovenberg (FAZ)
10. Dietmar Dath (FAS)

Der 2009er war wieder ein hervorragender Jahrgang des deutsch­sprachigen Feuilletons. Eine genauere Durchleuchtung unseres Rankings gibt es in den 10 Mini-Laudationes, die sich wie die Jahrgänge 2005, 2006, 2007 und 2008 auch direkt von der rechten Seitenleiste aus anklicken lassen.

Auch in diesem Jahr hat sich das Consortium bei der Auswahl und beim Ranking auf ein paar Wochen hin verfeindet, hehe. Auf unserer Longlist standen noch andere unbedingt lesenswerte Feuilletontexte, etwa die ganz hervorragende Robert-Enke-Berichterstattung von Ralf Wiegand in der SZ, Alexander Smoltczyks »Ciao bella«-Artikel im »Spiegel«, Niklas Maaks Text über das Ende der deutschen »Vanity Fair« (FAS, 22. 2. 2009, S. 29), das Broder-Biller-Doppelinterview im SZ-Magazin oder Jochen-Martin Gutschs »Spiegel«-Artikel über Boris Becker.

Und dass die Schweiz 2009 so sehr mit sich selbst beschäftigt war (bröselndes Bankgeheimnis, Libyen-Affäre, Minarette), hat irgendwie auch das NZZ-Niveau gedrückt. Entdeckt haben wir aber Samuel Herzog, der zwar stets wenig Raum bekommt für seine Kunstbericht­erstattungsartikel in der NZZ, den aber ganz hervorragend ausfüllt.

Usw.

Bis zum nächsten Jahr,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque


Voyage Voyage (Teil 4):
Die Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi

Konstanz, 16. Dezember 2009, 10:33 | von Marcuccio

Und auch heuer gab es wieder ein paar schöne Reise-Stücke. Da wäre zum Beispiel Claus Spahns Weinreise durch die Saale-Unstrut-Region (Die Zeit 42, 8. 10. 2009).

Das Highlight dieses Artikels war die unverhoffte Berührung mit einer Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi. Für Freunde der Antonomasie gab es aber erst mal einen O-Ton vom Geschäftsführer des Nietzsche-Weinguts Kloster Pforta (»Wir sind das Kloster Eberbach des Ostens«), wenig später ging es dann um das Für und Wider einer Degustation von Bernhard-Pawis-Weinen beim Winzer selbst oder eben auswärts, zum Beispiel

»auf der Terrasse des Hotels Rebschule bei Naumburg (…), mit herrlichem Blick über die Weinberge. Aber da serviert man ihn auf einer blassgelben Häkeldecke aus wetterfestem Weichgummi, wie sie einst in den Schrebergärten beliebt war.«

Peng, und das Ding ist da, das Ding hat sogar endlich einen Namen, was es bei mir bis hierher noch nie hatte. Mein bescheidenes Sprachzentrum hatte sich schlicht und ergreifend noch keinen Begriff von diesem Ding gemacht, das, meine ich, auch als Unterbau des berühmt-berüchtigten Kännchenkaffees zum Einsatz kommt. Ich glaube sogar, dass ich mich in einem unbeobachteten Augenblick schon einmal getraut habe, so ein Häkeldeckchen aus wetterfestem Weichgummi anzufassen.

Vom natürlichen Weichgummivorkommen ist es dann auch nicht mehr weit bis zum Gustav Seibt für Weinverkoster:

»Die Gastronomie will nicht davon lassen, (…) die Käseplatte zum Wein mit frisch aus der Folie gepelltem Schmelzkäse zu bestücken.«

Die Besichtigung der von Neo Rauch gestalteten Domfenster (»Soviel Pathos spült man am besten mit einem extra säurebetonten Riesling hinunter«) endet dann auf dem Naumburger Weinfest:

»Ein verliebtes Paar teilt sich einen Rotkäppchen-Piccolo. Die Rentnerpaare sitzen sich nicht gegenüber, sondern nebeneinander und starren schweigend in die Probiergläser.«

Sideways an der Saale-Unstrut. Zum Wohl!