Archiv des Themenkreises ›Financial Times‹


Was vom Tage 28 übrig blieb:
Carlos Coffee, Eimsbüttel

Hamburg, 28. September 2022, 23:00 | von Paco

Aufwach: 6:15 Uhr.

🎶 DIIV: Under the Sun

Sonnigster Herbsttag, genau richtig für Eimsbüttel. Relativ random kehre ich dann ein im …

Carlos Coffee
Osterstraße 83
(Eimsbüttel)

In manchen Cafés gehören ja so lustige Sprüche zum Inventar, hier ist es »Das Kaffee-Unser«, das an der Bar aufgestellt ist: »Kaffee unser, der du bist in der Tasse. / Geheiligt werde deine Bohne. / Dein Röstgrad komme. / Dein Aufwecken geschehe.« Und so geht das weiter. Hm.

Espresso: €1,90.

In der FAZ lese ich aus Zeitmangel nur den Feuilleton-Aufmacher, Andreas Kilbs Rezension der Neuverfilmung von Remarques »Im Westen nichts Neues«. Die anderen beiden Filme (von 1930 und 1979) habe ich mehrfach gesehen und der dritte muss natürlich auch her, sobald er Ende Oktober auf Netflix läuft. Kurz ein paar Drehbuch-Facts: Der Kasernenhofschinder Himmelstoß wurde wohl gestrichen, und es wurde eine Parallelhandlung eingebaut, in der Erzberger mit einer Delegation nach Compiègne fährt, um dort den Waffenstillstand auszuhandeln, okay. Zum Filmischen: Die Schützengräben sind wohl sehr »präzise und exakt komponiert« (Zitat Deutsche Film- und Medienbewertung Wiesbaden) und erst mal klingt das alles sehr positiv, aber insgesamt findet Kilb den Film dann doch schlimm, denn triefende Moral sei mit einer »Überwältigungsästhetik« kombiniert, Seitenhieb auf Netflix: »vielleicht liegt gerade in der Verbindung von hölzerner Symbolik und überzüchteten Kamerabildern ein Prinzip des neuen Weltmarkts für Bewegtbilder«.

Die SZ nur kurz durchgeblättert, beim Judith-Schalansky-Interview zu ihrer Beteiligung an der Future Library blieb ich kurz hängen, musste dann aber los, und zwar zum Schaukeln im Isebekpark.

Abends dann noch den super gestalteten Artikel in der heutigen FT gelesen: »The 90km journey that changed the course of the war in Ukraine«. Während man durch den Text scrollt, werden die rund 6.000 km² Geländegewinne der ukrainischen Armee durch interaktives Kartenmaterial, Fotos und kleine illustrierende Videos (von Tiktok und Twitter) visuell erfahrbar gemacht.

Außerdem den ganzen Tag im Blick: die sich dem Ende nahende Schlacht um Lyman.

Ach so, sah dann noch auf Uebermedien, wie Precht/Welzer von Nils Minkmar in aller Kürze vorgeführt werden. Dabei wieder ein paar Interna aus der Schirrmacher-Ära: »Der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der es wirklich verstand, Themen zu setzen und von seiner Meinung überzeugt war, stöhnte einmal: Wenn ich erzähle, dass ich mit diesem oder jenem essen war, kann ich sicher sein, am nächsten Tag eines Verriss seines neuen Buches in der FAZ zu lesen!«
 


»Financial Times Deutschland«-Hymne

Berlin, 29. Dezember 2012, 16:45 | von Josik

Zwei Tage vor ihrem Ende hat die FTD noch mal einen echten Scoop gelandet. Hatte Roland Kaiser nämlich noch im Jahr 2005 deshalb öffentlich gesungen, »damit Schröder Kanzler bleibt« (SPON), und hatte Schröder damals unmittelbar darauf die Wahl verloren, so erklärte der beliebte Schlagersänger nun im FTD-Interview nicht nur, dass er 2013 auch für Peer Steinbrück kampfsingen wolle, sondern es blieb ihm, Roland Kaiser, auch vorbehalten, diese historische, aber in der Fülle der Nachrichten irgendwie untergegangene Botschaft zu übermitteln: »Gerhard Schröder posthum zu negieren, das wäre falsch.«

Als ich mich am Abend des 7. Dezember aufmachte, von Göttingen nach Witten zu fahren, war der ICE 534 enorm verspätet und ich konnte in Hannover den geplanten Anschluss-IC 2444 nicht mehr erwischen. Sowohl in sämtlichen Göttinger als auch in sämtlichen Hannoveraner Bahnhofskiosks war die letzte Ausgabe der FTD mit dem genialen Titel »Final Times Deutschland« ratzfatz ausverkauft. Aber das Glück war mir hold! Im ICE 552, mit dem zu fahren ich genötigt war, hatte nämlich irgendjemand die »Final Times Deutschland« liegenlassen, und so las ich sie gleich von der ersten bis zur letzten Zeile zwei Mal durch, nur die überflüssige Quatschbeilage »Interim-Management« ignorierte ich. Besonders begeisterte mich natürlich, dass auf der vierzehntletzten Seite ein Bericht aus Witten zu lesen war!

Ganze zwei Mal las ich die FTD deswegen, weil ich nach der ersten beendeten Gesamtlektüre dachte, ich hätte irgendwo einen Beitrag von Willy Theobald übersehen. Aber nein! Es war unfassbar: Während z. B. Ines Zöttl allein auf der drittletzten Seite gleich mit zwei Beiträgen vertreten war (wobei ihr Nachname einmal für das internationale Publikum Zoettl und einmal für das deutschsprachige Publikum Zöttl geschrieben wurde), war Willy Theobald mit keinem einzigen Beitrag vertreten! Dass auf der einundzwanzigstletzten Seite ein für das menschliche Auge kaum sichtbares Willy-Theobald-Foto (im Format 1,5 cm × ca. 1,65 cm) abgebildet war, konnte da wohl schwerlich entschädigen.

Um Willy Theobald angemessen würdigen zu können, muss man vielleicht beherzigen, was Jörg Sundermeier neulich in der »Jungle World« schrieb: »Die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, die schlagartig alle erkennen ließ, wie schlecht es um die globalen ökonomischen Verhältnisse bestellt ist, traf die Redaktion der FTD genauso überraschend wie zum Beispiel die Redaktion der Glocke, eine Regionalzeitung im Münsterländischen.« Nun kann man sicherlich darüber streiten, ob man jene Teile, für die die FTD berühmt war, wirklich in der Pfeife rauchen konnte und ob Gruner + Jahr deshalb genau das auch getan hat.

Jedenfalls: Jener Teil, der einen wirklich unersetzlichen Verlust bedeutet, ist natürlich das von Willy Theobald verantwortete geprägte und in geradezu barocker Manier »Out of Office« titulierte Feuilleton. Zwar würden wir selbstverständlich jeder Zeitung, die eingestampft wird, ob ihres jeweiligen Feuilletons mehr oder weniger hinterhertrauern. Im Fall der »Financial Times Deutschland« ist es uns damit allerdings wirklich ernst. Ein Team, das über mehr als eine Dekade hinweg in einer durchgehend defizitären Wirtschaftszeitung regelmäßig eine ganze Seite nach Lust und Laune mit kulturellem Schnickschnack vollkleistern kann, und zwar ohne indirekt von Inseraten für Sachbuch- oder Belletristiktitel abhängig zu sein, ein solches Team hat beinahe alles richtig gemacht, was man im Berufsleben überhaupt nur richtig machen kann. Was man im prädigitalen Zeitalter oft über die FAZ sagen hörte: nämlich dass man idealerweise das Feuilleton separat abonnieren können sollte – das traf auf »Out of Office« ja noch viel mehr zu.

Wenn diese Würdigung hier, die schon seit ungefähr zwei Jahren geplant war, nun zu spät kommt und sich wie ein Nachruf liest, ist das einerseits natürlich entsetzlich und furchtbar, war andererseits aber auch irgendwie unvermeidlich. Denn mit uns und der FTD ging es quasi zu wie beim Hasen und beim Igel: Immer wenn wir eine Zusammenfassung des genialen Schaffens der »Out of Office«-Redaktion liefern wollten, hatte die schon wieder ein neues geniales Stück rausgehauen, so dass wir mit dem Sammeln und Hinterherhecheln gar nicht fertig wurden. (Der Vergleich ist aber eigentlich ziemlicher – mit Harry G. Frankfurt gesprochen: – Bullshit, weil in diesem Fall ja nun nicht der Hase, sondern der Igel tot ist.) Vielleicht aber haben wir untereinander in den vergangenen Jahren auch einfach nur, ohne es immer groß zu notieren, zu viel über die »Out of Office«-Bewertungsskala gequatscht. Denn jedes Buch wurde am Ende der jeweiligen Rezension noch auf einer Skala von 1 bis 5 Punkten bewertet.

Zum Beispiel diskutierten wir stundenlang erbittert über die Frage, warum das Buch »Vier Äpfel« von David Wagner, das innerhalb etwa eines Monats schließlich gleich zwei Mal rezensiert wurde, das eine Mal 4 von 5 Punkten erhielt, das andere Mal aber nur 3 von 5 Punkten. Steckte da ein interner Machtkampf der Redaktion dahinter? (Das war meine Vermutung.) Oder war das Ausweis einer liberalen Grundhaltung? (Paco.) Oder eine semiotische Revolution? (Montúfar.) Oder ein Versehen? (Finanzfachmann Dique.) Für ein Versehen sprach immerhin, dass zum Beispiel Adolf Muschgs Roman »Löwenstern«, welcher ebenfalls zwei Mal – diesmal im Abstand von etwa anderthalb Monaten – rezensiert wurde, vollkommen einheitlich und übereinstimmend beide Male zwei Punkte erhielt.

Übrigens muss man sich darüber im klaren sein, dass das »Out of Office«-Team sich einen seiner grandiosen Hauptspäße daraus gemacht hat, immer neu zu verhandeln, ob auf der besagten Skala 5 oder aber ob 1 nun der niedrigste Punkt war bzw. umgekehrt: ob 1 oder aber ob 5 nun der höchste Punkt war. Das musste die Leserschaft eben von Fall zu Fall selber herausfinden. Gab es nur 2 oder 4 oder gar (horribile dictu!) 3 Punkte, so war damit unendlicher Spielraum gelassen für bisweilen boshaft-satirische, bisweilen luzid-verunklarende Formulierungen. Ich zitiere mal zu Demonstrations­zwecken zwei Rezensionen in voller Länge:

»Nachtprinzessin« von Sabine Thiesler

Ein Thriller über die Vereinigung von Eros und Thanatos, wie der Klappentext vollmundig verspricht? Weit gefehlt. Die Prinzessin ist ein homosexueller, narzisstischer Mittvierziger mit krankhafter Mutterliebe, übersteigerter Geltungssucht und genug Liquidität, um sich einen ausschweifenden Lebensstil zu leisten. Als die Mutter einen Schlaganfall erleidet, mordet er das erste Mal. Zu dem als Koch überforderten Sohn kommen noch eine alleinerziehende Kommissarin samt pubertierender Tochter und ein von seiner Frau dominierter Carabiniere: Thiesler zieht sämtliche küchenpsychologischen Klischees heran, wirft alles in einen Topf, rührt kräftig durch – vergisst aber die nötige Würze. Die Fahndung, die Psyche des Täters – alles bleibt oberflächlich und unmotiviert, sodass man das Buch am Ende enttäuscht zur Seite legt.

Von Anna Tschackert

Nachtprinzessin
Autor: Sabine Thiesler | Heyne | 576 S. | 19,99 Euro
FTD-Bewertung: 5 von 5 Punkten

Und:

»Weltliteratur für Eilige« von Henrik Lange

Zum Thema »Fachwissen für Dünnbrettbohrer« gibt es nicht nur tonnenweise Bücher, Fernsehsendungen und DVDs, sondern sogar Volkshochschulkurse. Menschen jedoch, die sich als profunde Bücherwürmer ausgeben wollen, sollten um dieses schmale Bändchen – auch wenn es auf knapp 180 Seiten fast 100 Literaturklassiker vorstellt – einen großen Bogen machen. Am originellsten ist an »Weltliteratur für Eilige« noch der Untertitel »Und am Ende sind sie alle tot«. Auf jeweils einer Seite mit drei Comiczeichnungen und ebenso vielen Sätzen werden Belletristikevergreens von »Der Tod in Venedig« bis »American Psycho« vorgestellt. Leider sind diese Inhaltsangaben so kryptisch, dass man damit noch nicht einmal vor einem einigermaßen belesenen Hund (siehe Thomas Pynchon) als Literaturfachmann auftreten kann.

Von Willy Theobald

Weltliteratur für Eilige
Autor: Henrik Lange | Droemer/Knaur | 186 S. | 7,95 Euro
FTD-Bewertung: 5 von 5 Punkten

Zwei vernichtende Kritiken – und beide Male 5 von 5 Punkten! Man versteht, warum Willy Theobald in seiner von Hellmuth Karasek bezweitgutachteten Dissertation den wunderbar pikaresken Satz schrieb: »Man hat dem Feuilleton (…) immer wieder den Vorwurf des Feuilletonismus gemacht«. Trotzdem gilt aber, dass in der Regel fünf Punkte das Höchste, also das Beste waren. Doch wenn Willy Theobald Martin Walsers »Über Rechtfertigung, eine Versuchung« immerhin 4 von 5 Punkten gab, dann las sich das wieder so:

Vom Holocaust über den Vietnamkrieg bis zur DKP: Walser hat fast überall mit der Schreibmaschine gerasselt, nimmt aber trotzdem das Privileg des ewigen Zweifels für sich in Anspruch. (…) Munter schwadroniert er vom Ablasshandel und dem Schweizer Theologieprofessor Karl Barth – schade, dass er Mario Barth ausgelassen hat – über Max Weber und »Tonio Kröger« bis hin zu Zarathustra. Trotzdem bleibt man am Schluss ratlos: Wenn jede Rechtfertigung ohne »religiöse« Basis zur Rechthaberei verkommt – an welchen Gott oder welche Götzen sollen wir denn nun glauben? Und eine ontologische Letztbegründung scheint Walser mit seiner semiphilosophischen Postwurfsendung sowieso nicht im Sinn zu haben.

Willy Theobald! Unter seiner gefühlten Ägide ist es auch gelungen, Thоr Kunkеl für die Mitarbeit zu gewinnen, der in »Out of Office« fleißig Rezensio­nen publizierte. Er war für die ganz großen Namen und für die ganz großen Werke zuständig, ich nenne hier nur Jean-Jacques Rousseaus »Träumereien eines einsam Schweifenden« (5 von 5 Punkten), León Bloys Erzählband »Blutschweiß« (5 von 5 Punkten), Michael Knokes »Das Tal des Grauens« (5 von 5 Punkten), Guido Rоhms »Blutschnеise« (5 von 5 Punkten), Leander Sukovs »Warten auf Ahab« (5 von 5 Punkten) oder Thomas Steinfelds »Der Sprachverführer« (2 von 5 Punkten). (Apropos Thоr Kunkеl, hat sich eigentlich schon mal jemand um das himmelschreiende Plagiat gekümmert, das der »Guardian« damals an Volker Weidermann begangen hat? FAS, 1.2.2004: »Es sollte eines der Bücher dieser Saison werden. Mit allem, was einen schönen, großen Publikumserfolg zu garantieren scheint: Sex, sehr viel Sex. Nazis, sehr viele Nazis (…) und ein großes romantisches Finale.« – The Guardian, 12.2.2004: »(…) until last week, few in Germany’s literary world doubted that Thоr Kunkеl’s latest novel, Final Stage, was going to be anything but a rip-roaring success. The novel had all the right ingredients – sex, a lot of sex, Nazis, more Nazis, and a spectacular romantic finale.« Aber das nur nebenbei.)

Vermutlich würden sich »sensible Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki« (Willy Theobald) an einem solchen Punktesystem stören. Wenn man aber gar nicht weiß, was die Punkte bedeuten, ist dieses System natürlich als herrliche intellektuelle Spielerei leicht zu rechtfertigen. Dankenswerterweise konnte Willy Theobald auch seine Emphase in der Regel seitengenau verorten: So war er beispielsweise von Andreas Bernards »Vorn« (5 von 5 Punkten) »ab der dritten Seite schwer begeistert«, wohingegen über Philip Roths »Die Demütigung« (4 von 5 Punkten) zu lesen stand: »Dass dieses Buch ein kleines Meisterwerk ist, merkt man erst auf der letzten Seite«, was, wenn man’s genau bedenkt, ja das absolute Gegenteil einer Empfehlung ist.

Ein gewisses Muster ließ sich in »Out of Office« auch immer dann erkennen, wenn von Schauspielern verfasste Bücher rezensiert wurden. So hieß es über »Zehn. Stories«: »Literatur ist ein heikles Feld. Vor allem Schauspieler ernten schnell Häme und Spott, wenn ihre ersten Schritte auf fremdem Terrain zu profan, zu schwülstig oder zu gestelzt erscheinen. Doch Franka Potente bewegt sich mit ihren Kurzgeschichten auf sicheren Wegen«. Und z. B. die »Mittelreich«-Rezension begann folgendermaßen: »Wenn Schauspieler Bücher schreiben, kann es schnell peinlich werden. Diese Gefahr besteht bei Josef Bierbichler nicht.« Trotzdem erhielt Josef Bierbichler überraschenderweise nur 4 von 5 Punkten, wohingegen Franka Potente 5 von 5 Punkten erhielt. Aber das kann ja, wie gesagt, alles mögliche bedeuten.

Bisweilen ersetzte ein einziger Satz aus einer Willy-Theobald-Kritik die Lektüre des Gesamtwerks des rezensierten Autors, zum Beispiel des Gesamtwerks von Nicholson Baker: »Um nicht auf jeder Seite die Wörter Penis, Vagina und Geschlechtsverkehr einzusetzen, benutzte der Autor jede Menge Vulgärbezeichnungen wie ›Schwanz‹, ›Muschi‹ oder ›Ficken‹, schreckte aber auch nicht vor ziemlich merkwürdigen Formulierungen wie ›pochender Höllenhund‹, ›siedender Bienenstock‹, oder ›united Parcel‹ zurück.« Nicht immer aber war der »Out of Office«-Humor so leicht zu durchschauen. Schrieb Alphonse Daudet wirklich ein so grottiges Französisch? Das müsste man mal überprüfen. Oder warum sonst hieß es über Julian Barnes, dass er »auch französische Literatur wie zum Beispiel von Gustave Flaubert und Alphonse Daudet ins Französische übersetzt«? Und warum wurde in der Kritik zu dem Roman »Die Tiere von Paris« (3 von 5 Punkten) diese sonderbare Einschränkung formuliert: »Margit Schreiner ist mit einigen österreichischen Literaturpreisen ausgezeichnet worden – doch der Zugang zu diesem Buch fällt nicht leicht«?

Wie man zumindest in die sichere Nähe eines der bedeutendsten deutschen Literaturpreise kommt, dafür jedenfalls hat Willy Theobald einmal einen goldenen Tipp gegeben, nämlich als er Wilhelm Genazinos »Wenn wir Tiere wären« (5 von 5 Punkten) rezensierte: »Irgendwie entsteht immer der Eindruck, der Autor wandere durch einen Zoo – der eigentlich das real existierende Leben ist – und wundere sich pausenlos über die merkwürdigen Tiere, denen er dort begegnet. Dass es Genazino damit auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, versteht sich von selbst.«

Eine der großartigsten Taten, die die »Financial Timеs Deutschland« vollbracht hat, war aber, dass sie eine sensationelle Parodie auf das Günter-Grass-Gedicht (man kann ja inzwischen praktischerweise im Singular von dem Günter-Grass-Gedicht sprechen, ganz so als ob er in seinem Leben nix anderes geschrieben hätte) als Leitartikel abdruckte. Wer den noch nicht gelesen hat, sollte das möglichst sofort tun, denn in der münsterländischen »Glocke« stand, dass der Webauftritt der FTD »voraussichtlich noch bis zur Jahreswende erhalten« bleibt, also nur noch wenig mehr als zwei Tage. Und wer noch nicht der FTD-Empfehlung, das sagenhafte Wenzel-Hablik-Museum in Itzehoe zu besuchen, gefolgt ist, sollte auch das allerschleunigstens nachholen! Übrigens liegt in einigen Kiosken, nachdem ja aufgrund der großen Nachfrage 30.000 Exemplare nachgedruckt wurden, die »Final Times Deutschland« noch immer aus – das nur zur Info für diejenigen, die sie noch nicht haben oder die noch auf der Suche sind nach einem tollen Neujahrsgeschenk.
 


Das längste Gedicht der Welt

Leipzig, 5. Mai 2011, 07:33 | von Paco

Manchmal ist ein langes Gedicht einfach nur ein langes Gedicht. Der amerikanische Präriepoet Dave Morice (Künstlername: »Dr. Alphabet«) hat so eines geschrieben, es ist 10.000 Seiten lang, und es ist per einstweiliger Behauptung tatsächlich: das längste der Welt.

Ich habe darüber im Feuilleton der »Financial Times Deutschland« gelesen, auf der Seite für basiskulturelle Berichterstattung, die dort »Out of Office« heißt, das ist also tatsächlich die Bezeichnung für das Feuilleton der FTD, und das ist auf jeden Fall besser als kompromiss­lerische Rubriknamen wie »Kultur« oder, noch grausiger: »Kultur & Medien«.

Aber zurück zum 10.000-Seiten-Gedicht. Im FTD-Artikel wird natürlich vor allem die superlative Größenordnung des Werks diskutiert. Dabei hat der Redakteur vor lauter Zahlenmaterial sogar vergessen, den Titel des Gedichts anzugeben. Er lautet wahrscheinlich, so genau weiß ich das auch nicht: »City Poetry Marathon«.

In der weltweiten Berichterstattung darüber geht es eigentlich auch nie um dessen Inhalt. Was steht auf den 10.000 Seiten? Das ist offenbar auf sympathische Weise nicht das Wichtigste, also genau wie bei den Romanbollwerken von Proust, Joyce, Foster Wallace usw.

Das Gedicht wurde übrigens live geschrieben, unter den Augen der Öffentlichkeit, an den 100 Tagen zwischen dem Unabhängigkeitstag und Halloween 2010, in der Main Library der University of Iowa. Dort wurde dann auch ein Exemplar gebunden, und es ist schon eine große Kunst, das Buch sachgemäß aufzuschlagen und zum Beispiel mal zu kucken, was so auf Seite 7.437 steht (siehe das Bild hier).

Ansonsten liegt das Dichtwerk auch komplett in herunterladbaren Word-Dateien vor. Ich bin gerade auf Seite 82 des 1. Bandes. Es geht dort um den unbändigen Hass auf Vokale, der unter Aliens üblich zu sein scheint:

When you write 10,000 pages, you’ve got to go beyond the world
and borrow things from aliens who land here and whisper
»Write a poem that doesn’t have any vowels in it.«
I ask »Why?«
They reply, »We hate vowels.«
Vowel hatred is
not common on
earth.

Und ohne Vokale wäre der Dichter auch nicht auf 10.000 Seiten gekommen.
 


Der letzte »Economist«

London, 20. September 2008, 19:52 | von Dique

Den »Economist« kaufe ich nur noch bei besonderen Gelegenheiten. Ich suche ihn auf wie einen weisen Freund, den man viel zu selten sieht und an den man sich wendet, wenn man von keinem anderen mehr erwartet, brennende Fragen beantwortet zu kommen. Das ist ein bisschen wie in dem besten und wohl einzigen sinnvollen filmischen Beitrag zur Artus-Sage, »Excalibur« von John Boorman.

Am Ende des Films vereinen sich die Ritter der Tafelrunde zur letzten Schlacht gegen Mordred, den bösen Sohn von Artus und dessen nicht minder bösartigen Halbschwester Morgana. Am Vorabend der Schlacht steigt Artus auf einen Hügel mit Monolithen und spricht zum verschwundenen Merlin (Morgana hatte ihn zuvor mit seinem eigenen Zauberspruch verhext), um den er sich seit Jahren nicht gekümmert hat. Er kehrt zurück und erhofft sich Beistand.

Nichts anderes erwarte ich vom »Economist« nach dem Massaker an den Finanzmärkten in der letzten Woche. »The Economist« erscheint am Freitag, und ich ging heute (Samstag) morgen bei meinem Newsagent vorbei. Normalerweise gibt es die gerade aktuelle Ausgabe die ganze Woche lang bis Donnerstag, bevor dann am Freitag die neue in die Geschäfte gelegt wird.

Ich stand nun vor dem Regal mit den News-Magazinen und konnte ihn einfach nicht finden. Dabei hatte ich das Cover-Bild genau im Kopf, nachdem ich schon im Netz das Inhaltsverzeichnis abgescannt hatte: ein reißender Strudel, in dem die Logos großer Finanzwerte hinabgerissen werden.

Vielleicht lag er an der Kasse. Fehlanzeige. »I don’t seem to find The Economist«, sagte ich dann zu meinem Newsagent, welcher mich schelmisch angrinste. »I have only one copy left«, sagte er und holte unter einem kleinen versteckten Papierstapel noch ein Exemplar hervor. »The best newsagent, hehh?«

Jedenfalls bin ich also nicht der einzige Leser, der sich, wenn die Kanonen donnern, auf die sachlichen Lageberichte dieses Blattes besinnt.

War bis eben aber noch gar nicht zum Heft gekommen, denn im FT Weekend Magazine gibt es eine Warren-Buffett-Biografie, »A billionaire in the making«, und die las sich ganz prima zum Kaffee.

Aber nun endlich zum »Economist«, direkt in den Leader auf Seite 13, bei dem ich mich besonders über diesen humorvollen Satz freue:

»Some will argue that the Federal Reserve and the Treasury, nationalising the economy faster than you can say Hugo Chávez, …«


Wyndham Lewis

London, 22. Juli 2008, 08:15 | von Dique

Eliot überall. Im Hofgarten und am gleichen Tag an der Themse, zwar bin ich nicht rezitierend am Flusse spaziert, aber dennoch hatte ich Eliot im Kopf und in »The Waste Land« heißt es auch passend:

Sweet Thames, run softly till I end my song,
Sweet Thames, run softly, for I speak not loud or long.

Am Embankment dann ein Stück aufwärts sind es nur ein paar Schritte bis zur National Portrait Gallery, und dort gibt es seit Anfang Juli eine Wyndham-Lewis-Ausstellung zu sehen und, mit Eliot befreundet, hat Lewis diesen auch häufig porträtiert.

Ich muss aber gestehen, dass mich die Porträts von Ezra Pound noch mehr anzogen, besonders eine schwungvolle Bleistiftzeichnung, welche auch in der FT Weekend im Artikel von Jackie Wullschlager, »An angular vision«, abgebildet war.

In der Ausstellung ist dann eine ganze Wand mit Ezra-Pound-Porträts zu sehen, und noch schöner als das Lockvogelbild aus der FT ist ein Gemälde, welches Pound schlafend zeigt, wohlig zurückgelehnt, eine Zeitung auf dem Tisch.

Und YouTube sei Dank kann man neben Eliot auch der vibrierenden Stimme von Pound lauschen, mit der er seine eigenen Cantos rezitiert. Beim Suchen fand ich dann eine Verwurstelung anscheinend von und auf jeden Fall mit Jonathan Meese, dessen Kunst mir zwar ziemlich schnuppe ist, aber an den ich gern denke, weil Moritz von Uslar ihn im »Spiegel« mal ganz wunderbar zitiert hat, wie er zu einer lebendigen Kuh liebevoll sagte: »Du süße Maus«, oder so ähnlich.

Jedenfalls gibt es da bei YouTube dieses Stück »Jonathan Meese – ›Ezra Pound‹«, und das klingt natürlich erstmal alles ganz schrecklich, ist es aber nicht. Zu Samples von »Der Räuber und der Prinz« von DAF hört man eine Rezitation von Pound (»Hugh Selwyn Mauberly, Part I«: »For three years, out of key with his time, / He strove to resusciate the dead art …«), und im Hintergrund hört man Schafe blöken.

Dazu führen Meese und Konsorten einen irren Tanz auf, und das ist einfach genau DAS GROSSE KINO, welches so gern und so oft herbeizitiert wird. Es scheint sich um einen Teil einer Aufführung an der Berliner Volksbühne zu handeln, mehr weiß ich nicht und google mir deswegen nicht die Finger wund.

Aber zurück in die Lewis-Ausstellung. Seine besten Bilder entstanden in und um die 20er-Jahre und erinnern ziemlich an die Neue Sachlichkeit. Eines seiner Selbstporträts könnte man bei flüchtigem Blick glatt für Christian Schad halten, aber auch futuristische und kubistische Elemente schwingen hinein und herum.

Aber gut, was soll die zeitliche Beschränkung, auch spätere Werke begeistern, wie zum Beispiel das 1943er Porträt von Edith Sitwell (auch im Sessel, in grünem Übermantel und mit leicht aufgetürmtem Hut), bei welchem er einfach die Hände weglässt. Das fällt nicht sofort auf, obwohl Sitwell der Meinung ist, dass diese ihr bestes Feature seien, wie man in der Bildunterschrift lesen kann.

Lewis hat aber nicht nur gemalt, sondern auch geschrieben, und das nicht zu knapp: ganze 17 Titel, mit denen er allerdings gehörig daneben gegriffen hat. Waldemar Januszczak schreibt in seinem Artikel »Wyndham Lewis’s big mistake« in der »Times« dazu:

Some people drop clangers. Lewis dropped the entire carillon of bells.

Sein Artikel beginnt folgendermaßen, und vielleicht hätte das auch hier etwas früher kommen sollen, der viel beschworene Wermutstropfen:

Wyndham Lewis supported Hitler. I mention it straightaway, because I don’t want it looming up later to shipwreck my praise. Supporting Hitler – writing books in favour of the Führer – was Lewis’s greatest mistake as a controversialist. It ruined his reputation as an artist, turned him into a national hate figure and ensured that nobody would ever again take him seriously as a thinker.

Im Untertitel zu diesem Artikel kommt Januszczak aber zu dem Schluss: »Yes, he was a fascist sympathiser, but the firebrand vorticist Wyndham Lewis is still one of our finest portraitists.« Und das stimmt eben auch.


Die FT Weekend und die FAS vom 29. 6. 2008:
Die Butter, die Stille, die großen Häuser Europas

London, 30. Juni 2008, 13:07 | von Dique

Ein Teller mit Butter »is the only item of food Hammershoi is known to have painted«, schreibt Jackie Wullschlager in der FT Weekend in ihrem Review zur VilhelmHammershøi-Ausstellung »The Poetry of Silence« in der Royal Academy of Arts, und da muss ich erneut einen Teilnehmer der kürzlich in den Musei Vaticani absolvierten Speedtour zitieren, »now that’s a useful bon mot«.

Hammershøi ist mir vor Jahren nach einer Empfehlung aufgefallen, von dieser Ausstellung hatte ich vorher allerdings keinerlei Peilung. Wenn man nicht gerade nach Skandinavien fährt, sieht man von ihm auch relativ wenig. Ich bin dann gestern gleich hingegangen, denn so linear können Medien manchmal wirken.

»Hammershøi led an uneventful life.«

Das ist der erste Satz der Einführung in Raum 1 der Ausstellung, und im Œuvre des Malers spiegelt sich das genau so wider. Weniger »eventful« geht es kaum, und das meine ich keinesfalls negativ.

Hammershøi hat sich in weiten Teilen seines Werkes auf das Innenleben seiner eigenen vier Wände beschränkt und erzeugt mit diesen distanzierten Schnappschüssen genau die poetische Stille, mit der die Ausstellung treffenderweise bezeichnet wurde.

Er erinnert an Vermeer, an de Hooch und andere Niederländer dieses Umfelds, und bei denen hat er sich ausdrücklich bedient, allerdings nicht einfach kopiert. Spartanisch eingerichtete Räume, und wir betrachten sie aus kühler Distanz.

Wenn auf den Bildern Personen dargestellt sind, dann sieht man sie von hinten oder wie sie beschäftigt nach unten sehen. Man nimmt nicht Anteil an ihnen, und die Figuren laden auch nicht dazu ein. In dieser Distanziertheit erinnert Hammershøi auch an Edward Hopper, allerdings farblich deutlich gedämpfter. Ein leichter Grauschleier hängt über seinen Bildern, und sie wirken dadurch etwas schlierig und erinnern mich darin im weiten Sinne auch etwas an die minimalistischen Stillleben von Giorgio Morandi.

Die Überschrift des Artikels in der FT Weekend lautet: »Rooms without a view«, und in der gestrigen FAS, welche ich dann beim Kaffee in der RA las, ist Andreas Kilbs Artikel über die Berliner SebastianodelPiombo-Ausstellung so überschrieben: »Warte, bis es helldunkel wird«. Was für Überschriften, und was würde unser Experte Gabriel wohl dazu sagen, zu billig, zu easy? Mir gefallen beide.

Bei Andreas Kilb gefällt mir aber besonders der Artikel. Der ist ganz wunderbar geschrieben, dicht und informativ, man hat das Gefühl, schon erschöpfend dort gewesen zu sein, aber trotzdem noch mal hinzuwollen, allerdings schreibt Kilb:

»Die italienischen und spanischen Museen haben ihre Kostbarkeiten für das Projekt hergegeben; aus den großen Häusern Europas dagegen, der National Gallery, dem Louvre, der Ermitage, kommt fast nichts außer ein paar Zeichnungen«.

Was schlecht für das Projekt ist, ist gut für mich, denn bis zur National Gallery sind es nur ein paar Minuten Fußweg, und ich kann mir gleich noch ein paar der Schätze ansehen, die die »großen Häuser Europas« garstigerweise nicht für die Ausstellung rausgerückt haben.