sine loco, 10. März 2012, 14:31 | von Marcuccio
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Paris
Die »Brasserie Lipp« auf dem Boulevard Saint-Germain.
Nachdem der Kellner die Hors d’œuvre abgetragen hat, kommt Handke langsam in Fahrt.
Daniel Kehlmann? »Das ist überhaupt kein schöpferischer Mensch. Der sitzt am Computer und holt die Details zusammen.«
Eva Menasse? »Die hat vor ein paar Jahren so ein Buch über den Vater geschrieben. Das fing so an: ›Mein Vater war eine Sturzgeburt.‹ Da habe ich gedacht, das sind so richtige Zeitungssätze.«
Ingo Schulze? »Scheißhausliteratur.«
Orhan Pamuk? »Gut gehäkelte Ware.«
Herta Müller? »Kunstgewerbe.«
Thomas Mann? »Das nehm‘ ich dem Thomas Mann wirklich übel, wie er hineingekrochen ist in den Arsch von Goethe.«
Heimito von Doderer? »Der war zwar ein Nazi, aber ein viel besserer Schriftsteller als Musil, denn er hat den epischen Kampf gegen sich selbst gekämpft.«
Malte Herwig: Meister der Dämmerung. München 2010, S. 300.
(Foto © M. H.)
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sine loco, 14. Januar 2012, 11:20 | von Dique
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Wien
Das »Café Frauenhuber« in der Himmelpfortgasse.
(Ich komme gerade aus dem Café Frauenhuber, wo vor ca. einer halben Stunde ein Engländer den vorbeilaufenden Ober fragte, ob es denn hier auch internationale Zeitungen zu lesen gebe. Natürlich, sagte der Ober, haben wir internationale Zeitungen: die »Süddeutsche« und die NZZ! Und er zeigte mit dem Daumen rückwärts in Richtung des Zeitungsstapels.)
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sine loco, 4. Dezember 2011, 18:04 | von Baumanski
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
St. Petersburg
Das »Stirka 40°« in der Kasanskaja Uliza.
(Hier kann man in alten finnischen Maschinen Wäsche waschen und dabei lokale Alkoholiker betrachten, die auf dem Boden schlafen oder in Abfalleimer urinieren. Zu jedem Waschgang bekommt man einen ausgezeichneten Kaffee. Je nach Wochentag wird man von einem Buckligen mit Rastalocken oder von einem grossgewachsenen Otto-Waalkes-Double bedient; beide sind überaus freundlich.)
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sine loco, 7. November 2011, 08:23 | von Guest Star
(eine E-Mail von E. Zentner)
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Berlin
Die »Bäckerei Süß« in der Boxhagener Straße.
(Frank, ich habe soeben eine Idee bekommen. Da ihr regelmäßig das Kaffeehaus des Monats kürt, kann ich, wenn du möchtest, über die Bäckerei Süß am Ostkreuz einen Beitrag liefern. Ich habe dort mittlerweile viel Zeit verbracht und das ein oder andere gesehen. Dort verkehrt zum Beispiel dieser eine Darsteller aus »Gegen die Wand«, der sich damals so stark in seine Rolle hineingearbeitet hat, dass er sie im richtigen Leben einfach weiterzuspielen scheint. Man begegnet aber noch einem anderen Unikum, das stark an Mel Gibson in »Fletcher’s Visionen« erinnert. Genau wie Fletcher ist er ein Verschwörungstheoretiker, der immerfort laut seine neuesten Thesen verkündet. Ein weiterer Bäckereibesucher erinnert aufgrund seiner sich steigernden Ausdürrung an Kafkas »Hungerkünstler«. Allerdings übt er eine andere Kunst aus, nämlich am Ostkreuz nicht mehr genutzte Fahrkarten zu sammeln und sie weiterzuverkaufen. Schließlich ist auch eine Art Nachhilfelehrer ein ständiger Gast, der seinen Schülern, die immer andere sind, den Weg in das Fach der Wirtschaftsmathematik ebnen möchte. Alle von ihnen stellen Künstler der besonderen Art dar, und sie alle sind in dieser Bäckerei zu Hause. Also, falls ich darüber mal was schreiben soll, sag mir einfach Bescheid.)
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sine loco, 14. Oktober 2011, 09:05 | von Marcuccio
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Lüneburg
Das »Pons« in der Salzstraße am Wasser 1.
(»Mons, Pons, Fons« – die Systemtheorie der Stadt Lüneburg steht auf jedem Gullideckel. Wir wählten das »Pons«: unser Kaffeehaus des Monats für Biertrinker, weil vormals »Alt-Lüneburger Bierstube« und Brauereilokal der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern von Niklas Luhmann. Aus der jüngeren Geschichte des Hauses: »Um die Jahrtausendwende übernahm der Sohn Niklas Luhmanns vorübergehend den Kneipenbetrieb.« (Vgl. Lilli Nitsche: Backsteingiebel und Systemtheorie. Merlin Verlag (Nexus) 2011, S. 50.) Feuilletons fanden wir im »Pons« keine, dafür aber mindestens zwei soziale Systeme: Auf dem Weg zur Toilette lag die »Gorleben-Rundschau« aus; und draußen im Biergarten diskutierten Drittsemester die Kontingenz der Speisekarte: Laut Fußnote ist der Feta im »Schafsfladen« nämlich aus Kuhmilch. Mehr zur »Gastronomie der Gesellschaft« dann bestimmt noch mal in einem weiteren Luhmann-Nachlass. Zum Wohl!)
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sine loco, 12. September 2011, 08:14 | von Paco
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
St. Petersburg
Das »Jean-Jacques« (Rousseau) am Anfang der Uliza Marata.
(Das Жан-Жак/Schan-Schak heißt nicht einfach nur so, nein, man kann sich mit den Kellnern ohne Weiteres über den ersten und den zweiten Discours des überschätzten schweizerischen Philosophen unterhalten, auf anhaltend hohem Niveau. Das Restaurant ist auch der ideale Ort für bestimmte Personenkonstellationen, zum Beispiel finden sich dort sehr oft junge Lyriker mit ihren Müttern zum späten Frühstück ein.)
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sine loco, 4. August 2011, 09:50 | von Paco
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Detmold
Der Hüttengrill Hiddesen in der Friedrich-Ebert-Straße.
(Eine sagenhafte Imbissbude mit deutsch-italienischer Küche. Hier haben sich schon vor über 2000 Jahren die römischen Legionen XVII bis XIX versorgt. Die Hausherrin summt alte venezianische Lieder und kocht dabei eine sehr hervorragende Pasta all’amatriciana.)
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sine loco, 2. April 2011, 12:50 | von Austin
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Chemnitz
Das Kaffeehaus Michaelis am Düsseldorfer Platz.
(Lange war es weg, genau ein halbes Jahrhundert, nun ist es wieder da: das Café Michaelis in Chemnitz. Und viele der alten Gäste, das kann man sagen, haben auf diesen Moment gewartet. Seit der Wiedereröffnung vor ein paar Wochen ist es täglich randvoll, und ganz zu Recht: Hier herrscht das größte Tageszeitungsangebot in ganz Südwestsachsen, im Erdgeschoss gibt es eine Unisextoilette, genau wie im »Berghain«, und die Baumkuchentorte ist hervorragend. Es ist auch keine Eile geboten, dieses Mal wird das Michaelis bleiben.)
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sine loco, 8. März 2011, 18:51 | von Niwoabyl
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Lille
»La Capsule« in der Rue des Trois Molettes.
(Dieser billige Stadtführer mit dem sehr unzuverlässigen Stadtplan, schon wieder ziehen wir durch Vieux Lille und suchen ergebnislos den Zwiebelplatz. »Place aux Oignons« heißt der Ort tatsächlich, und dort bekommt man den allerschönsten Estaminet, den man sich wünschen kann. Kreuz und quer geht der Weg und gehen unsere Diskussionen, auch entlang der Polysemie des Wortes ›oignon‹, und wir fragen uns, ob an unserem Zielort früher eine Art Korso stattfand, bei dem alle Männer im Vorbeigehen feierlich ihre Taschenuhren zückten. Am Ende finden wir doch den Estaminet wieder, aber sie haben kein Bier für uns, man komme da nur abends zum Essen hin, sagt der dienstfertige junge Mann an der Theke und schickt uns um die Ecke in die »Capsule«, und das ist nun also unser Kaffeehaus des Monats Nr. 60.)
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sine loco, 17. Januar 2011, 13:09 | von Paco
Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:
Bad Nauheim
Die Café-Bar Phono in der Kurstraße 11.
(Backsteinambiente, die FAZ und zum Frühstück Rührei mit Sucuk, was will man mehr. Und anders als bei Qype alle fälschlicherweise behaupten: Der Kaffee hier ist sehr gut und unter keinem denkbaren Aspekt überteuert. Wenn die FAZ gerade nicht frei ist, kann und sollte man als einzige Alternative die »Wetterauer Zeitung« durchblättern – die nächsten Folgen der Serie »Regionalzeitung« sind gesichert.)
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