Проснувшись однажды утром, Грегор Замза обнаружил,
что он превратился в Йозефа К.
— Kritzelei auf einem Tisch in einer Petersburger Universität
Es ist ein ganz gewöhnlicher Sonntagmorgen in St. Petersburg, das sich den Titel »Venedig des Nordens« unter anderem mit Kopenhagen, Stockholm und erstaunlicherweise Duisburg teilt, obwohl doch »Amsterdam des Ostens« deutlich angebrachter wäre. Beim Frühstück schlage ich den »Kommersant« (kurz »Ъ«) vom Vortag auf und stelle beruhigt fest, dass er immer noch täglich eine Statistik publiziert, in der Putins und Medwedews Medienpräsenz sekundengenau verglichen wird.
Um elf Uhr fahre ich mit der Metro zum Alexander-Newskij-Kloster, wo es das beste Brot der Stadt gibt. Ich kaufe zwei Laibe (Wochenration) und weil ich schon einmal da bin, gehe ich mir auch gleich noch den Gottesdienst anschauen. Während die Gläubigen »Gospodi pomiluj« singen und ich ein bisschen mitsumme, um nicht wie ein Tourist zu wirken, merke ich plötzlich, dass direkt neben mir Nikolaj Gogol steht: Extrem spitze Nase, dünner Schnurrbart, seltsame Frisur. Als der Gottesdienst vorbei ist, verliere ich ihn aus den Augen; der Schriftsteller verschwindet im Strom der Gläubigen.
Danach besichtige ich noch den Friedhof vor dem Kloster, wo ja schliesslich Dostojewskij, Tschaikowskij und Leonhard Euler begraben liegen. Als Basler in St. Petersburg kommt man sich manchmal vor wie Leonhard Euler, natürlich mit dem Unterschied, dass Euler besser rechnen konnte. Ausserdem wusste er noch nicht, was Aquafitness ist. Doch von Anfang an.
Am Nachmittag nieselt es. Ich beschliesse, schwimmen zu gehen. Der Eintritt ins öffentliche Schwimmbad ist mit 200 Rubeln verhältnismässig teuer. Auf meine Frage, ob es an der Universität ein Becken gibt, hat man mir nur mit einem mitleidigen Lächeln geantwortet. Im etwas sowjetisch anmutenden Hallenbad kontrolliert eine ältere Dame meine Fusssohlen, bevor sie mir für 80 Rubel eine Schwimmerlaubnis aushändigt; danach setzt sie sich auf den Bademeisterstuhl und macht sich schlussendlich wieder ans Putzen. Pünktlich um 18 Uhr reisst mich laute Popmusik aus meinen ruhigen Schwimmzügen. Eben: Aquafitness (аквааэробика). Eine Vorturnerin zeigt am Beckenrand die Übungen vor, drei Frauen mit lustigen bunten Badekappen turnen sie im Wasser nach. Ich stelle mir vor, ich wäre Leonhard Euler, schwimme noch ein paar Längen und verlasse dann fluchtartig das Hallenbad.
Auf dem Heimweg möchte ich in einer Bäckerei eine Bulotschka kaufen. Hinter der Theke macht eine Frau Kaffee, ein junger Herr steht herum und zwei weitere Angestellte sind vollkommen ins Gespräch vertieft. Ich warte fünf Minuten und verlasse schliesslich (wie so oft, hehe) das Geschäft mit leeren Händen. Die Russin vor mir bleibt geduldig stehen. »Ein solches Volk«, heisst es in einem seltsamen Artikel über den angeblich »epilepsieartigen« Charakter der Russen, »hält die Erniedrigung durch die eigene Regierung aus, aber bei einer tödlichen äusserlichen Bedrohung ist es unbesiegbar«.
Gegen Abend spaziere ich mit Ivan Borisowitsch der Fontanka entlang. Ivan Borisowitsch promoviert in Mathematik und interessiert sich für Kant und Nietzsche und hat kürzlich begonnen, ein Buch über russische Epigraphen des 18. Jahrhunderts zu verfassen. Tatsächlich stand es vor Puschkin um den russischen Epigraphen so schlecht, dass der Nationaldichter in seinen Mottos seinen Freund, den Fürsten Wjasemskij, zitieren musste, der zwar eine Biografie über Denis Fonwisin verfasst hat, aber ausserhalb Russlands kaum gelesen wird.
»Wussten Sie schon«, fragt Ivan Borisowitsch, »dass Alexander III. vergiftet wurde?« Wie er auf diese Idee kommt, frage ich. »Ich habe ein paar Bücher gelesen und selbst Fakten zusammengestellt«, meint Ivan Borisowitsch und grinst, mit sich selbst und der Welt zufrieden.