Archiv des Themenkreises ›Monocle‹


Touristische Ernsthaftigkeit

La Rochelle, 16. August 2011, 01:53 | von Papageno

Je crois qu’il est très important de comprendre que la
France est simultanément le pays des révolutions
et une grande terre de la réaction.

Alain Badiou

»No, I have never been there, this is my first time in Europe, but I heard it is absolutely gorgeous!«, meint Steve, der mir im TGV von München nach Paris gegenübersitzt. Steve kommt aus Miami, hat gerade das College hinter sich und ist auf großer Europatour. München habe ihm, nach Berlin natürlich, am besten gefallen, nur seien die Bayern so unfreundlich gewesen. »A friend of mine told it is even worse in France. He said that the French always answer you in English, even if you try to speak their language.«

Das stimmt natürlich beides nicht. Wie so oft wollte hier jemand einem Davonreisenden aus purem Neid mit einem touristischen Vorurteil Angst einjagen. Denn die Pariser sind in den letzten Jahren zum Beispiel extrem zutraulich und sehr, sehr freundlich geworden, vgl. Gumbrecht 2010.

Wenn man so den Artikel »Charming Paris. Quand la Cité devient parc à thème« von Benoît Duteurtre liest, in der Augustausgabe von »Le Monde diplomatique«, könnte man allerdings meinen, Steves Freund habe doch noch Recht. Der mürrische Autor behauptet da nämlich, dass man in Paris einfach nicht mehr leben könne, besonders in den Sommermonaten sei es unmöglich. Die Attitüde kultureller Überlegen­heit, wenn die amerikanischen Touristen sich anmaßen, jemanden mit »Parlez-vous anglais?« anzusprechen, aber auch die englische Ausschilderung der Sehenswürdigkeiten, all das vermiest Duteurtre reichlich den Sommer. Nur auf Kitsch seien die Touristen aus, das wahre Paris bleibe ihnen allen ja verborgen, es mangele einfach an touristischer Ernsthaftigkeit.

Dieses ewige autochthon-antitouristische Lamento hätte natürlich genau so schon in den letzten 50 Jahren erscheinen können. Gott sei Dank beobachte ich wenig später am Gare de Montparnasse eine amerikanische Familie in Abercrombie & Fitch-Aufzug, die, nach reiflicher Vorbereitung mit einem Wörterbuch, belegte Baguettes bei »Paul« bestellt. Die Verkäuferin antwortet dabei ganz langsam auf Franzö­sisch, zum Schluss wünscht sie ihnen sogar noch einen schönen Sonntag!

Dann lese ich noch den Artikel »Dans le laboratoire de l’écolo-bourgeoisie« von Olivier Cyran über die Grünen, in der Hoffnung, dass die Deutschen vielleicht ein bisschen besser wegkommen. Leider glaubt Cyran, dass Karl-Theodor zu Guttenberg der FDP angehört, und das sind leider nicht mal Breaking News. Das kommt einfach davon, dass man die Praktikanten die ganze Arbeit machen lässt, ähnlich wie ja schon letzten Sommer, als »Monocle« so schön vom Münchner Transrapid geschwärmt hat.

Und dann habe ich in Steves neuer Ausgabe des »Lonely Planet« noch gelesen, dass ausdrücklich davor gewarnt wird, sich in Paris in die Nähe der Rue d’Ulm zu begeben. Dort verbrennen nämlich aufstän­dische französische Intellektuelle Abercrombie & Fitch-Sweater, man fürchte, dass sich die Aufstände ausweiten.
 


»Die rasende Radisch«: Die FAS vom 24. 2. 2008

Leipzig, 24. Februar 2008, 23:03 | von Paco

Bevor es gleich ums FAS-Feuilleton geht: SP*N hat eben einen leicht launigen Geburtstagsgruß Richtung »Monocle« geschickt. Darin wird mal schlagend zusammengefasst, was das Magazin so angenehm macht: »Keine IT-Milliardäre, keine Celebrities, kein YouTube-Hype.« Klingt wie das Gegenteil von SP*N, hehe.

Wir lesen »Monocle« übrigens genauso regelmäßig wie die FAS, und damit zur aktuellen Ausgabe, die man am heutigen Sommersonntag mitten im Februar schon auf den Terrassen aller Kaffeehäuser des Monats lesen konnte.

Aufmacher ist ein Gespräch zwischen Julia Encke und Charlotte Roche. Die beiden siezen sich, und das wirkt irgendwie unfreiwillig komisch, wenn es dabei um Masturbation im Badezimmer und Intimrasuren geht.

Dann Klaus Theweleit zu Littell und den »Wohlgesinnten«. Auf der Seite prangt wieder die Thalia-Werbung (»Das beste Buch des Monats!«), dieser freiwillige oder unfreiwillige Gag kommt immer noch so gut wie letzte Woche.

FAS, Buch des Monats, im Hintergrund die Peterskirche

Nun aber zu Theweleits Aufsatz: Auf diese Stimme hat man irgendwie gewartet. Tilman Krause hatte ja in der »Welt« dreisterweise sogar geschrieben, dass Littell »unserem Bild vom faschistischen Charakter neue, über Theweleits ›Männerphantasien‹ hinausgehende Züge gibt«, und da ist es an der Zeit, dass er selbst spricht.

Zunächst arbeitet sich K. T. aber an der (meiner Meinung nach sehr guten) Rezension von Iris Radisch in der »Zeit« ab. Er nennt sie die »rasende Radisch«, und sofort ist klar: Es geht ein bisschen um Polemik.

Er kann Radisch jedenfalls nicht plausibel widerlegen. Ihm gelingt es aber, und das ist viel wichtiger, eine neue Phase in der Debatte um das Nicht-Jahrhundertbuch (Schirrmacher) einzuleiten. Es geht jetzt um Details, nicht mehr um das große Ganze, über das ohnehin schon alles gesagt wurde, bevor das Buch gestern offiziell erschienen ist.

Die Artikelüberschrift – »Der jüdische Zwilling« – deutet schon an, worin Theweleit einen interpretatorischen Schlüssel vermutet, nämlich in der Darstellung der »affektiv-intellektuellen Symbiose des ›Deutschen‹ mit dem ›Jüdischen‹«. Insgesamt psychologisiert Theweleit etwas zu mutig, es wurde mir auch etwas schwindlig dabei, sozusagen, aber den Aufsatz sollte man sowieso am besten nächste Woche noch mal lesen.

Als es am Ende noch mal um die literarische Qualität geht (die den »Wohlgesinnten« ja reihenweise abgesprochen wurde), prägt Theweleit übrigens, womit er eigentlich die Littell-Kritiker imitieren will, das Wort vom »Literaturgefreiten Littell«, und das ist doch mal eine schöne plastische Formulierung.

Ein paar Seiten weiter gibt es ein Interview, das der Interviewkünstler André Müller mit der Violinistin Julia Fischer geführt hat (die Stefan Raab und Tokio Hotel nicht kennt). Wie es sonst nur bei Jonas Kaufmann üblich ist, stellt Müller der Bildungsgeigerin beständig Fragen nach ihrem Aussehen, die sie aber alle abwehrt. Dann folgende Stelle:

Müller: »Kunst, sagen Sie, ist nicht Unterhaltung.«

Fischer: »Ja, das sage ich, denn ich finde, es gibt eine Trennlinie zwischen der Kunst und dem Entertainment.«

Diese Stelle ist deshalb so herrlich, weil genau auf der gegenüberliegenden Seite Reich-Ranicki widerspricht, Schiller zitierend:

»Der Zuschauer [und natürlich der Leser; R. R.] will unterhalten und in Bewegung gesetzt sein. Das Vergnügen sucht er …«

In der FAS haben schönerweise auch Widersprüche Platz, hehe.

Und zum Schluss noch, hätte ich fast überlesen, die Kolumne »Nackte Wahrheiten«, heute bespielt von Claudius Seidl. Er rechtfertigt sich dafür, dass das Bestsellerbuch »Generation Doof« nicht von der FAS besprochen wird. Denn »die beiden Autoren (waren) beim sogenannten Kerner eingeladen«, und C. S. hat zugesehen und den Titel des Buches offenbar auf das Autorenduo beziehen müssen, und dann wurde entschieden:

»Nein, haben wir vom Feuilleton zu uns selber gesagt, ganz gegen unsere Gewohnheit: Angesichts dieser Variante der Dummheit erklären wir uns einfach mal für unzuständig.«


F-Zeitung, FAS, Monocle, strassenfeger

Berlin, 29. Oktober 2007, 15:54 | von Dique

»Das Grauen vom Lande« eröffnet das sonntägliche Feuilleton, und auf dem Bild zum Text grinst Kurt Beck im kurzärmeligen, karierten Campinghemd, aber es fehlt der »Titanic«-Schriftzug »Knallt die Bestie ab!« – Freitag in Berlin aufgeschlagen, grüßte mich Bruno schon von jeder Zeitung, begonnen mit der Berliner Morgenpost, und da nun ja auch die F-Zeitung ein Bild auf der Titelseite hat, strahlt er auch von dieser.

Die aktuelle »Monocle« (issue 08) hat auch ein FAZ-Bild auf die Titelseite gesetzt, dahinter wahlweise eine junge Frau oder einen jungen Mann mit jeweils schwerer Brille. Ja, richtig, »Monocle« erscheint mit zwei verschiedenen Titelseiten. Gibt es wirklich Leute, die deshalb wissentlich (oder gar unwissentlich, hehe) zwei Mal kaufen?

»Achtung! Hold the front page« heißt der Artikel, und es gibt ein ganzes Zeitungsspezial, das einen netten Überblick über weite Teile der internationalen Zeitungslandschaft gibt. Man erfährt zum Beispiel, dass die japanische Tageszeitung »Yomiuri Shimbun« mit einer 14-Millionen-Auflage erscheint, wow!

Ansonsten: »Horn Of Plenty«, ein Artikel über Djibouti, ist sehr spannend, sowie eine lange Nummer über Murmansk (»High Energy«). In der Politiker-Style-Rubrik geht es um Königin Rania von Jordanien, na ja, immer noch besser, als wenn es um den kurzärmeligen Beck ginge.

Aber zurück zum FAS-Feuilleton. Claudius Seidl meint, dass das Übel an Beck sein Provinzialismus sei und kann das auch sehr gut begründen. Dieser Provinzialismus sei eben nicht nur »ein Mangel an Ausdruck, Form und Haltung, sondern ein Mangel an Substanz« (wie ihn auch Peter Unfried in der taz von heute zitiert). Den Seidl-Artikel bitte lesen!

Wenn man Robert Redford aus rahmenloser Brille aus schwarzem Rollkragenpullover aus schwarzem Hintergrund lächeln sehen möchte, schlägt man das Feuilleton-Buch einmal auf. Man kann aber auch gleich eine Seite weiterblättern und die Rezension über die Herman-Melville-Biografie von Andrew Delbanco durchlesen, und die macht wirklich neugierig. (Der Artikel von Manuel Karasek ist nicht online, daher hier die Kritik des Deutschlandradio).

Daneben dann Peter Richter über das Obdachlosenmagazin »strassenfeger«, welches ich mir tags zuvor in einer Berliner S-Bahn kaufte, auch wegen der »Uta« aus Naumburg auf dem Titelbild.

Und dann gibt es noch einen großen Johanna-Adorján-Artikel über das Pyramiden-Project von Ingo Niermann und Jens Thiel. Die Idee entstammt Niermanns Buch »Umbauland« von 2006. Um das Beschäftigungsproblem Ostdeutschlands zu lösen, schlägt er den Bau eines riesigen Totenmonuments in Form einer Pyramide vor.

Diese traumhafte, etwas spinnerte Idee wurde zum Selbstläufer, und nun fangen tatsächlich einige renommierte Architekturbüros dieser Welt mit Entwürfen an. Mit 89.000 Euro fördert die Bundeskulturstiftung das Projekt, und in der Jury des Architektenwettbewerbs befinden sich Namen wie Rem Koolhaas, Miuccia Prada und Omar Akbar.

Alles in allem wie immer eine super Ausgabe, und ich habe hier nur vom Feuilleton gesprochen.


Judith Lembke (zugeschrieben), Alan Greenspan (Rückenschmerzen), Monocle (Zugabe)

Madrid, 24. September 2007, 00:12 | von Dique

Warum hat der Umblätterer eigentlich nichts dazu gesagt, dass vor zwei Wochen Martin Walser für den Wirtschaftsteil der FAS interviewt wurde und in diesem wunderbar gegen die Steuerlast in Deutschland schwadroniert? Wir werden es nicht verraten.

Ich war heute der Einzige in Madrid, der die aktuelle FAS lesen konnte, denn Paco nimmt immer ›Papier‹ und denkt, das merkt sich niemand (LOL).

Judith Lembkes »Neulich in meinem Café« hat dermaßen abgebaut, dass ich der Meinung bin, dass das gar nicht mehr von Judith Lembke geschrieben wird. Wie bei einem zweitklassigen Altmeistergemälde handelt es sich hier maximal noch um Werkstattarbeiten. Zuschreibungen wie »Nachfolger von« oder »Im Stil von« Judith Lembke würden mich bei den Kolumnen der letzten Wochen nicht überraschen.

Ansonsten: Alan Greenspan auf Promotour durch die Gazetten dieser Welt, um sein neues Buch zu preisen. Das doppelseitige FAS-Interview (S. 38–39, hier die Ankündigung auf faz.net) ist sehr gut. Es gibt da ein schönes altes Foto von dem über Rückenschmerzen klagenden Greenspan, am Boden liegend in einem vollbesetzten Büro im Weißen Haus.

Dass er mit der aktuellen Finanzkrise nach seinem Ermessen überhaupt nichts zu tun hat, erscheint ein bisschen kurz geschossen, schließlich hat doch seine Fed Dollars gedruckt wie andere Butterbrotpapier. Egal, ich glaube ihm und freue mich auf die Lektüre von »The Age of Turbulence: Adventures in a New World«.

Dann noch schnell die aktuelle »Monocle«, die September-Nummer (Vol./Jahrgang 1, issue 6). Darin erfährt man etwas über Sarkozys Liebe zu Tassel Loafers. Außerdem widmet sich das Magazin dem Nation Branding. In der Einführung werden potenzielle Kandidaten genannt, z. B. das Kosovo oder das vielleicht irgendwann wiedervereinigte Korea oder auch Schottland, wo die Unabhängigkeitspartei derzeit die Mehrheit im Parlament hält.

Jedenfalls folgt dann das Ideenbeispiel eines Phantasiestaates Costazzurra (Ergebnis einer Vereinigung von Liguria und Monaco im Jahr 2014). Für diesen werden originelle Designs vorgeschlagen, für Briefmarken, die Flagge, Straßenschilder usw.

Der Font Gotham wird als Corporate Typeface benutzt, mit dem alle offiziellen Dokumente des Landes verfasst würden, und er macht sich wirklich prima auf den vorgeschlagenen Schildern, den Briefmarken und dem schnittigen Reisepass.

Dabei muss man dem Artikel als einzige Schwäche ankreiden, dass in der Einführung Belgien nicht genannt wird, ist doch die mögliche Spaltung des Landes gerade wieder weit oben auf der Möglichkeitsagenda, siehe den »Spiegel« von neulich, wir unterhielten uns im »Subway« darüber.


Tyler Brûlé bei Ikea

auf Reisen, 10. September 2007, 15:19 | von Paco

Das Geld, das der »Monocle«-Herausgeber Tyler Brûlé durch die Großzügigkeit des San Andreas gespart hat, wollte er offenbar gleich bei Ikea investieren. Er schrieb darüber in der Wochenendausgabe der »International Herald Tribune« (8./9. September 2007, Seite 7).

Artikel aus der IHT, Tyler Brûlé bei Ikea

Tyler Brûle bei Ikea, ein Hammerthema. Zusammen mit Mutter und Lebensgefährtem unternahm er einen »family trip to the Ikea store that anchors Stockholm’s northern suburbs«. Was aber kann T. B. bei Ikea wollen? Jedenfalls betritt er das Gebäude nicht ohne Zusatzanreiz:

»To keep our sense of humor, we decided to make a game out of it and see if it was possible to get in and out in less than 30 minutes and not fall out in the process.«

Der Parcours ist ja im Einbahnstraßen-Ikea klar vorgezeichnet. Für einige Kunden ist das aber ein Problem: Brûlé beschreibt die Verwirrung bei neuschwedischen Immigrantenfamilien, deren hilflosen Personenansammlungen zu Staus und Behinderungen im Ikea-Straßenverkehr führten.

Trotzdem schaffte Familie Brûlé die Strecke in 28 Minuten und konnte im Zeichen des Sieges die Trophäen aufsammeln:

»The promise of a hot dog and an ice cream has long been the payback for surviving an afternoon out at Ikea.«

Das gesparte Abdruckhonorar von San Andreas wurde also in Fastfood inklusive Nachtisch angelegt. Good appetite!


Todd D. Monokohli

Hamburg, 31. August 2007, 00:45 | von San Andreas

Todd D. KohliWeil hier doch gerade vom aktuellen »Monocle« die Rede war; ich hab heute bei meinem Newsagent drin geblättert. Auf Seite 54 befindet sich tatsächlich ein Interview mit meinem San Franciscaner Buddy Todd D. Kohli, und das kleine runde Konterfei ist ein Foto, dass ich seinerzeit vorm Hamburger Planetarium von ihm gemacht habe. Von Rechts wegen müsste ich diesem »Monocle«-Menschen jetzt eine Rechnung schreiben, aber ich hab gesagt: Tyler, lass gut sein.

(Edit: Story wird hier fortgesetzt.)


Happenings und Grunge-Partys

London, 23. August 2007, 22:46 | von Dique

Was ist los beim großen Städte-Ranking. Die deutsche »Vanity Fair« lese ich nicht, aber dort wurde ja laut Oliver Gehrs München zur coolsten Stadt erklärt, und da ist man sich immerhin einig mit »Monocle«.

Wir kennen das alljährliche Städte-Ranking. Welche ist wohl die teuerste der Metropolen, und der aktuelle Gewinner ist Moskau. London ist auch immer oben dabei, und Zürich, und Genf, und New York, und Tokio, also die üblichen Verdächtigen.

Wo es sich dagegen wirklich gut lebt und warum, ist vielleicht eine andere Frage, und da hat »Monocle« mit einem relativ einleuchtenden System nach bestimmten Grundsätzen und Annehmlichkeiten einer Stadt eben besagtes München auf den Top-Platz gesetzt.

London fliegt raus wegen seines unzulänglichen öffentlichen Verkehrssystems, der vergleichsweise hohen Kriminalität und vor allem, weil man Probleme hat, nach um 11 noch irgendwo in relaxter Atmosphäre einen picheln zu gehen.

Stimmt zwar alles, aber mit dreihundertachtundvierzig Millionen Topmuseen und Galerien, ebenso vielen Theatern, einer Handvoll Opernhäuser und unzähligen Klassik-, Rock-, Pop-Events und Restaurants jeglicher Art und Qualität könnte man bestimmte Prioritäten bezüglich der Lebensqualität infrage stellen.

Aber gut, das ist Tyler Brûlé, und John Roxton hat sicher Recht mit seiner Beobachtung, dass Brûlé eben eine Schwäche für alles Feine, Saubere und gut Funktionierende hat, am besten mit skandinavisch-nordischem Einschlag, damit eben auch eine nachvollziehbare Liebe zu Zürich, München und Wien, aber auch zu Tokio und Kyoto.

Während »Monocle« einen Maßstab anlegt, welcher eins a erklärt wird, haut uns der »Spiegel« mit recht abstruser Begründung so genannte »second cities« um die Ohren, die sich aus dem Schatten der großen, jetzt uncoolen Städte erhoben haben.

So ist auch hier London out, und Berlin und Paris erst recht, aber die estnische Vierhunderttausendeinwohnerklitsche Tallinn ist in und hip und unter anderem hier vermuten die »Spiegel«-Redakteure den nächsten Steve Jobs und/oder Bill Gates.

Mal ganz kurz: Was genau ist eigentlich cool an einem Ort, der Leute wie Gates und Jobs ausspuckt. Ist Silicon Valley cool? Will da oder wollte dort irgendwer leben, der nichts mit Computern zu tun hat?

Warum der »Spiegel« auf Krampf versucht, Amsterdam zu empfehlen, bleibt auch unklar. Die Story hangelt sich an einer Kreativen entlang, die aus Fahrradschläuchen und Luftmatratzen Handtaschen näht und, ach wie toll, die Dinger werden sogar bei Guggenheims verscherbelt.

Ansonsten wohnt die Frau in irgendeinem subventionierten Zentrum für einhundert weitere Kreative, und das ist natürlich super und vor allem cool. Amsterdam ist cool, ja, aber das war es schon immer, und das ist es eher trotz als wegen der Fahrradschlauchtaschendesignerin.

Und dann noch mal Tallinn. »Projekte für die alternative Szene, Happenings und Grunge-Partys« steht da als Unterschrift unter zwei Bildern zum Text. Grunge-Partys, meine Güte, und Happenings.

Auf einem der Fotos aus einer Tallinner Diskothek sieht man zwei tanzende Mädchen, von denen eine einen grinsenden Teufel auf die Jeans genäht hat, eben cool, und am Ende des Textes erzählt uns Erich Follath, dass man über irgendeine Entertainmentfirma einen KGB-Abend einschließlich Verhaftung und Verhör mit anschließendem Wodka-Umtrunk buchen kann.

Das klingt ungefähr so attraktiv wie eine Fahrt mit dem Trabant durch Berlin und anschließendem Eintopfessen mit Erich Mielke im Stasimuseum.

Das ist die längste Spiegelsommerpause ever, erst wurde die Kunst vor 38.500 Jahren in Deutschland erfunden und dann ist Tallinn unter den fünf coolsten Städten Europas. Der einzig gute Artikel ist der auf Seite 126 über den sehr lustigen »Islamic Rage Boy«. Islamic Rage Boy, so ein edler Name, mit dem würde ich gern mal ins Museum für Morgenlandfahrer gehen.


Ahmadinejacket

London, 22. Juli 2007, 22:42 | von Dique

Das Bild geht mir nicht aus dem Kopf: In beige-grauer Karstadt(?)-Jacke und Woolworth(?)-Turnschuhen sitzt der 93 Jahre alte Erich Priebke auf dem Ruecksitz einer Vespa, im Hintergrund Borrominis Quattro Fontane. Fast ganz genau aehnelt Priebkes Jacke dem bevorzugten Modell von Ahmadinedschad.

Ahmedinedschad wurde in der ersten »Monocle«-Ausgabe in der Politiker-Outfit-Kategorie besprochen und seine Jacke dabei vereinfacht ›Ahmadinejacket‹ genannt. Er kauft seine Modelle direkt auf dem Basar von Teheran, und man bekommt sie schon ab 8 Dollar, chinesisches Fabrikat. Priebkes Jacke kommt sicher auch aus China.


Darf man das lesen? (Teil 4: »Monocle«)

London, 18. Juni 2007, 08:46 | von Dique

»Monocle« muss man lesen. Und unter anderem wegen dem Artikel »Feeling Flush« aus Ausgabe 3 ueber die TOTO Multifunktionstoiletten.

Nun erfaehrt man endlich mal, dass TOTO einen 60% Marktanteil fuer diese Washlets, wie man sie auch nennt, in Japan hat. 1980 kamen die ersten TOTO Washlets auf den Markt, und TOTO hat seither ca. 20 Millionen verkauft. Diese Zahl ueberrascht mich etwas, denn, den hohen Marktanteil TOTOs in Betracht gezogen, hat anscheinend nur jeder dritte Haushalt in Japan ein solches Washlet.

Zur Beruhigung kann ich aber aus eigener Erfahrung berichten, dass dieser Anteil im oeffentlichen WC Bereich deutlich hoeher liegt, und ich denke, dass ca. 80% aller Restaurants mit Washlets ausgestattet sind.

TOTO expandiert in den USA und verkauft bereits erfolgreich in Italien und Frankreich. In Deutschland und Grossbritannien kann es allerdings noch eine Weile dauern, bis die ersten Washlets auf den Markt kommen, denn trotz europaeischer Standardisierung haben die beiden letztgenannten Laender eine starke Regulierung, nach der TOTO noch seine Modelle anpassen muss.

»Monocle« kann man uebrigens auch nicht ueberall kaufen.


The Best Newsagent

London, 26. Mai 2007, 10:18 | von Dique

In den Zeitungslaeden deutscher Grossstadt-Bahnhoefe gibt es den »Spiegel« am Sonntagabend offiziell ab 20 Uhr zu kaufen. Obwohl der Spiegel dort schon deutlich frueher eintrifft, wird er keine Sekunde frueher verkauft. Um 19.45 stand ich auf dem Leipziger Hauptbahnhof und fragte nach dem Spiegel. Ich sah den Stapel der Magazine schon hinter der Verkaeuferin auf dem Regal liegen, wurde aber darauf hingewiesen, dass das aktuelle Heft erst in 15 Minuten zu haben sei. Meine Fresse. Ich habe nicht gewartet und ich habe auch nicht gebettelt. 15 Minuten!

Ich habe darueber viel nachgedacht, tue das noch heute. Die haben vernetzte Kassen, denke ich mir. Klar, und wenn die Verkaeuferin das Magazin ueber die Scannerkasse zieht, dann geht es ins Kassensystem, und man kann vielleicht tatsaechlich herausfinden, dass irgendwo, in diesem Fall in Leipzig, eine Zeitungsverkaeuferin einen »Spiegel« 15 Minuten zu frueh verkaufte. Diese Meldung geht sofort nach Hamburg in die »Spiegel«-Zentrale.

Was passiert dann? Am Sonntagabend wohl noch nichts, aber spaetestens am Montagmorgen in der Redaktionssitzung im »Spiegel«-Verlag in Hamburg bringt ein Praktikant dem Herrn Aust verschiedentliche Dokumente. Darunter befinden sich auch die Verkaufslisten der Bahnhofszeitungslaeden. Diese geht Aust dann persoenlich durch, er nennt die Gesamtsumme der illegalen Vorverkaeufe und geht dann jeden einzelnen Posten durch: »Leipzig, 19.45 Uhr, ein Exemplar.« Der Rest ist Standardprozedere, der Filialleiter von »Presse und Buch« erhaelt die Entlassungsurkunde von der »Spiegel«-Redaktion als Vordruck gemailt und braucht sie nur noch zu unterschreiben.

Laut Countdown auf der »Monocle«-Website sollte die erste Ausgabe des Blattes ab 9 Uhr morgens in den Zeitungslaeden in London erhaeltlich sein. Ich war am 15. Februar 2007 bereits um 8 Uhr morgens bei meinem Zeitungsmann und fragte nach »this new magazin called Monocle that is supposed to be coming out today«. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging langsam nach hinten in den kleinen Lagerraum. Ueber seine Schulter sah ich auf dem Regal schon einen Stapel Monocles liegen, und er kommt strahlend zurueck, haelt mir das Heft mit beiden Haenden hin und sagt: »The best newsagent, hehh!?«