Archiv des Themenkreises ›NZZ‹


Die Rezensionen

Paris, 23. August 2009, 09:30 | von Paco

Gestern, Samstag, haben alle Zeitungen ordnungsgemäß ihre Kritiken zum morgen erscheinenden Buchbuch der Saison gebracht. »Infinite Jest« von David Foster Wallace hat im amerikanischen Original 1.079 Seiten, in der deutschen Übersetzung »Unendlicher Spaß« nun 1.648 Seiten.

Und hier sind endlich auch die Längenangaben der Rezensionen:

TAZ: 8.384 Zeichen     (Ekkehard Knörer)
FR: 11.031 Zeichen     (Guido Graf)
NZZ: 14.652 Zeichen     (Angela Schader)
FAZ: 16.117 Zeichen     (Richard Kämmerlings)
SZ: 17.194 Zeichen     (Alex Rühle)

 


Well Ror’d, Wolf!

Paris, 25. März 2009, 07:37 | von Paco

Mitte Januar hat Martin Krumbholz für die NZZ einen Ror-Wolf-Prosaband aus dem letzten Jahr rezensiert, »Verschiedene Möglichkeiten, die Ruhe zu verlieren«, zusammengestellt von Brigitte Kronauer.

Demnächst folgt eine Rezension desselben Bandes in einer großen deutschen Literaturzeitschrift, deren Redaktion bei Gabriel eine bestimmt geartete Überschrift in Auftrag gegeben hat. Der entprechende Rezensent würde seine Besprechung in einer bestimmten Tonlage und einem genau beschriebenem Anspielungsrahmen verfassen bzw. habe dies schon getan.

Die Überschrift nun sollte auf jeden Fall generisch sein und tendenziell auch andere in den letzten fünf Jahren erschienene Bücher von Ror Wolf mit einbeziehen, die man aus Platzmangel leider nicht habe besprechen können.

Als Gabriel gestern kurz vorbeikam, zeigte er mir en passant seine »errechnete« Überschrift und erklärte mir den »Rechenweg«. Wir trafen uns in einem Café im 5ème, und ich habe nicht mehr alles behalten, es ging irgendwie um die von Ror Wolf vorgenommene Kontraktion von Lautheit, außerdem fielen Begriffe wie Subtilitäts­grad und Reziprozität. Im Moment der Erklärung leuchtete mir das jedenfalls alles ein, auch die Shakespeare-Anspielung machte mehr als Sinn, und beim Anblick der klar gegliederten Überschrift ist die Entstehungsgeschichte sowieso unwichtig:

Well Ror’d, Wolf!

Dieser Titel wird also demnächst eine Rezension einleiten und erfüllt sicher wieder den heiligen Zweck einer Überschrift, prägnanter und vollständiger zu sein als der ihr folgende Text (siehe auch: »Die Vermeesung der Kunst«).


Die Bratwurst in der Literatur:
»Niemals mit Senf«

Zürich, 31. Dezember 2008, 10:20 | von Marcuccio

Noch ein kleiner literaturgeschichtlicher Nachtrag kurz vor Jahresende. Hanns-Josef Ortheil hat sich in seinem immer noch aktuellen Roman »Das Verlangen nach Liebe« (2007) als Kurator einer exquisiten Sonderausstellung im Bratwurstmuseum empfohlen, und Rainer Moritz unterstützt ihn in der NZZ (23. 1. 2008):

»Selten dürfte in der Weltliteratur derart genüsslich der Verzehr von St. Galler Bratwürsten nebst Bürli beschrieben worden sein«.

Die Szene im O-Ton: Ortheils Ich-Erzähler Johannes besucht den Grillstand am Zürcher Bellevue (S. 25):

»Als ich den Platz erreichte, erkannte ich einen schmalen, zum Teil überdachten Grillstand, der in einer Häuserlücke untergebracht war, diesen Grillstand kannte ich, ja genau, hier gab es diese unvergleichlichen Bratwürste, wie hießen sie doch gleich, diese leicht gedrungenen Würste mit einer hellen, porenlosen, milchig wirkenden Füllung von Kalb- und Schweinefleisch. Wegen ihres intensiven und für Bratwürste ganz raren Eigengeschmacks aß man sie niemals mit Senf, sondern mit dunkelbraunen, knusprigen Bürli, die ebenfalls eine Köstlichkeit waren und in nichts mehr erinnerten, was man im Deutschen als Brötchen bezeichnete. Bürli waren nämlich innen flockig, porös und weich wie gewisse Pilz-Schwämme, außen aber überzogen von einer hier und da aufgeplatzten Kruste mit einer ganz unmerklich dunklen Lasur. Eine solche Bratwurst und ein solches Bürli, dazu ein kaltes Glas Bier – das war genau richtig (…).«

Irgendwann wird es also sicher Zeit, Elisabeth Frenzels »Motive der Weltliteratur« um die Bratwurst zu erweitern.


Zum Relaunch-Jahrestag der FAZ:
Welche Lesertypen sich bei Relaunchs outen

Konstanz, 5. Oktober 2008, 14:10 | von Marcuccio

[ Inhalt: Prolog1. Der Abbesteller2. Der Gratulant3. Der Betrogene4. Der Buchhalter5. Der Beschwerdeopportunist
6. Der Intimitätenausplauderer7. Der Zurückgebliebene
8. Der Co-Referent9. Der Markenleser10. Der Mythenfortschreiber ]

Prolog

Die einen wurden, so wie Paco & Co. in Madrid, böse überrascht. Die anderen versuchten, den Teufel noch in letzter Minute auszutreiben. Tatsächlich bedeutet so ein Relaunch wie derjenige der FAZ am 5. Oktober 2007 ja viel mehr als eine rein kosmetische Operation: Er ist der Moment der Katharsis jeder Leser-Blatt-Bindung und scheint überhaupt eines der letzten Exklusiv-Events zu sein, die das Printmedium zu bieten hat (nachdem es die Nachrichten als solche ja schon lange nicht mehr sind und echte Scoops auch nur halb so oft vorkommen wie wir Feuilletonjunkies gern behaupten).

Mediensoziologen sollten dringend mal sämtliche Leserreaktionen von allen Layoutreformen der letzten Jahre einsammeln und in einen Sammelband packen. Heraus käme ein ganz wunderbarer Reader über parasoziale Beziehungen voller Marotten und Spleens.

Das Schattenwesen ›Zeitungsleser‹: Es war nach dem Generallifting der FAZ vor einem Jahr genauso zu besichtigen wie bei der NZZ Anfang 2006 – nämlich sonderseitenweise – und hat auf jeden Fall das Zeug zur Typologie. Nirgends sonst lernt man seine Mitleser, aber womöglich auch sich selbst besser kennen wie nach Layout-Reformen seiner Zeitung.

(Alle Zitate stammen aus Leserbriefen der NZZ (26. 1. 2006), FAZ (10. und 13. 10. 2007) sowie den Kommentarsträngen zu Beiträgen des Fontblogs und des Antibuerokratieteams.)

1. Der Abbesteller

»Ich habe mein langjähriges Abonnement noch am selben Tag gekündigt.« Das ist und bleibt verdammt noch mal die aktivste Form, auf einen Relaunch zu reagieren. Deswegen ist der Abbesteller auch der eigentliche Actionheld aller Leser: wie die ganze Abbesteller-Szene längst ein Mythos, der von der Markenstrategie jeder mittelguten Zeitung denn auch ordentlich gepflegt wird. Oder wie sonst soll man es erklären, wenn Tobias Trevisan, Geschäftsführer der FAZ, von »rund 200« Abo-Kündigungen infolge der Layoutreform spricht?

Es irrt, wer glaubt, der Abbesteller kenne nur eine Handlung und Haltung. Der Abbesteller kann viel mehr als abbestellen: Er kann auch bloß vorhaben oder androhen, Abbesteller zu werden (»will ich dann nicht mehr abonnieren«) und er muss noch nicht mal Abonnent sein, um Abbesteller zu spielen:

»Ich sage es Ihnen ganz klar: Ich kaufe die F.A.Z. vorerst nicht mehr. Vielleicht hilft Ihnen mein bescheidener Protest als Korrektiv zu Ihrer zweifelhaften Umfrage, deren Ergebnisse zum ›Souverän‹ zu stilisieren Sie nicht müde werden.«

Der Abbesteller scheint stets aktiv und souverän. Dabei vergisst er, dass es ihn auch im Passiv geben kann. So ist sein natürlicher Feind der Leser, der sich im Relaunch-Graben mit der Zeitung verbündet und fordert: »Entziehen Sie den Nörglern das Abonnement!«

2. Der Gratulant

… ist mindestens so schnell aber eben nur halb so cool wie der Abbesteller. Alles Neue eines Relaunchs einfach gut finden kann auch ein FAZ-Leser. Die auffälligsten unter den Gratulanten sind die älteren Semester, die alle Neuerungen schon allein deswegen gut finden, weil sie um Himmels willen nicht als traditionalistisch und konservativ rüberkommen wollen. Besondere Kennzeichen: das explizite oder implizite »zwar … aber«:

»Gut gelungen, modern, attraktiv. Gratulation. Bin zwar schon 77 Jahre alt, aber für Neues noch immer aufgeschlossen.«

Besonders viele Gratulanten hatte übrigens die NZZ nach ihrem Relaunch vor knapp 3 Jahren. Was wir daraus für Schlüsse auf das Durchschnittsalter der Leserschaft der alten Tante schließen dürfen?

3. Der Betrogene

… definiert seine eigene Leser-Blatt-Bindung wie eine langjährige Beziehung und ist, zumindest was seinen Printmedienkonsum anbelangt (Radio, TV und Netz konsumiert man ja insgesamt promisker), streng monogam.

Umso mehr fühlt sich ein unerwarteter Relaunch seiner Zeitung für ihn ungefähr so an, als ob er seine bessere Frühstückshälfte in flagranti beim Fremdgehen erwischt: Da sieht die neue FAZ dann plötzlich so aus wie die alte FR, erinnert die Schreibung der Ressortnamen in Großbuchstaben unvermittelt an das Layout der NZZ. Kurzum: Der Betrogene erkennt sich in seiner eigenen Umblätter-Beziehung nicht mehr wieder.

Es gibt Betrogene, die versuchen, schon im Vorfeld auf den Betrug, den der Relaunch ihnen bescheren wird, vorbereitet zu sein. Sie haben extra einen Beziehungsratgeber gelesen und gelernt, auch in Extremsituationen verständnisvoll zu sein. Für sie geht die Zeitung, nur weil sie sich optisch verändert, noch lange nicht fremd.

»Als langjähriger F.A.Z.-Leser finde ich mich plötzlich in der Rolle eines treuen Ehemannes wieder, dessen Ehefrau gerade frisch vom Friseur kommt. Irritiert, und doch zugleich angenehm überrascht nehme ich Kenntnis von ihrem neuen Outfit.

Auch einen neuen Rock hat sie sich zugelegt. ›Gut siehst du aus‹, sage ich, auch um mich selbst zu überzeugen und meine zögerliche Haltung zu übertönen. Doch, doch, ich freue mich, dass sie sich schick macht. Schließlich tut sie’s ja für mich. Die Hauptsache ist freilich, dass in der Verpackung immer noch die Frau steckt, die ich kenne. Eine Ehe lebt mit wachsender Dauer davon, dass man dem, mit dem man sein Leben teilt, vertrauen kann. Aber auch von der Offenheit beider Partner, sich mit der Zeit weiterzuentwickeln und nicht ewig auf dem gleichen Punkt zu verharren. Zumindest hat das die Beziehung zwischen zwei Menschen mit der eines Lesers zu seiner Zeitung gemein.«

Eine andere Betrogene dachte eigentlich immer, sie führe eine offene Beziehung. Das Äußerliche, die visuelle Anmutung ihrer Zeitung schien ihr (gegenüber dem intellektuellen Gehalt) im Grunde gar nicht so wichtig. Bis zum Tag X: »Ich hätte selbst nicht vermutet, dass ich so emotional auf formale Aspekte reagieren würde, aber wenn man sich über viele Jahre an das Besondere (inhaltlich und eben auch gestalterisch) der F.A.Z. gewöhnt hatte, ist es ein ziemlicher Schlag.«

4. Der Buchhalter

Der Buchhalter führt genau Protokoll über alle Kränkungen, die seine Zeitung ihm und anderen Lesern zufügt. Er ist ein Pedant, der auch und gerade beim jüngsten Relaunch immer sämtliche Daten der Relaunchs aus früheren Jahren parat hat.

»Schon beim Übergang zu den Farbfotos machte sich hochqualifi­zierter Protest bemerkbar in den Leserbriefen vom 14. Februar 2003. Die Farbe Rot in verschiedenen Anwendungen löste dann eine weitere kritische Welle aus in den Leserbriefen vom 9. Dezember 2005 und 22. Dezember 2005. In den veröffentlichen Zuschriften ist damals mit großem Sachverstand und viel Herzblut das Nötige vorgetragen worden. Es war eine Zweidrittel- bis Dreiviertel­mehrheit aller Stellungnahmen. Bewirkt hat sie nichts.«

Warum der Buchhalter all diese Zeugnisse sammelt und ob er sie eventuell noch als Zeugenaussagen braucht, weiß man nicht so genau. Entweder er plant noch ein rückwirkendes Leser-Plebiszit, oder aber er führt für die Zeit seines Ruhestands eine Sammelklage im Schilde: Rückerstattung der Abo-Gebühren oder – wenn das nichts nützt – Schmerzensgeld. Im Grunde ist der Buchhalter ein besonders armer Hund: einer, den es eigentlich volle Breitseite emotional erwischt, der aber mit seinen Emotionen trotzdem nicht umgehen kann. Selbst das Schlussmachen gerät ihm zum formal-bürokratischen Akt: Und deswegen »… beende ich die jahrzehntelange Liebe zu dieser Zeitung bereits jetzt.«

5. Der Beschwerdeopportunist

… hat sowieso schon lange »feststellen müssen, dass die Qualität nachgelassen hat«. Aber im Grunde wird er vor allem jetzt »das dumpfe Gefühl eines Qualitätsverlustes nicht los«, denn jetzt ist Beschwerdezeit. Indiskretion Ehrensache hat dieses Prinzip in seinem schönen Münsteraner Brunnengleichnis zusammengefasst: In Münster wurde ein seit Jahren friedlich plätschernder Brunnen erst in dem Moment wahrgenommen, als man eine Skulptur drumherum baute. Ähnliches gilt für die Stellvertreterkritik am Layout, die eigentlich den Inhalt meint:

»Erst durch den Relaunch scheinen sich einige Leser Gedanken über die Zeitung zu machen, die sie seit Jahren lesen.«

Ein Relaunch ist so gesehen nichts anderes als der Elternsprechtag in der Schule oder das Stadtteilgespräch mit dem OB, ein formal organisierter Anlass zur Aussprache und Beschwerde.

Mancher Beschwerdeführer läuft dabei richtig zur Hochform auf und spinnt das Szenario gleich schon mal weiter. Science-Fiction für uns Leserbriefleser sozusagen:

»In zehn Jahren wird der ›Wandel der Lesegewohnheiten‹ zur F.A.Z. im Tabloid-Format mit noch größeren Farbanteilen und hundert Seiten Umfang geführt haben.«

6. Der Intimitätenausplauderer

Ähnlich wie der Beschwerdeopportunist hat auch der Intimitätenausplauderer eigentlich nur auf die Gelegenheit gewartet, sich mal mitteilen zu können – allerdings vor allem in eigener Sache.

Der Intimitätenausplauderer kann zum neuen Layout niemals nur gratulieren, er tut dies zum Beispiel als »Ihr treuester ostdeutscher Leser (seit 17 Jahren)«. Richtig so: Da wohnt der Typ also in Leipzig und will auch einmal Anerkennung (und sei es nur Leserbrieföffentlichkeit) dafür, dass er seine innere Einheit mit seinem damals extra bestellten Abo der Zeitung für Deutschland jetzt auch schon fast zur Volljährigkeit gebracht hat.

Mitteilen kann man – bzw. frau – sich aber auch, indem man seine Lebensgeschichte erzählt …

»Ich bin eines der selten gewordenen Kinder, die tatsächlich mit der täglichen Zeitungslektüre, sowohl der eigenen als auch der der Eltern, aufgewachsen sind.«

… seine aktuelle Lebenssituation schildert …

»Ich darf Ihnen mitteilen, dass mein Freund und ich, seit wir in unsere Studentenwohnung gezogen sind, Ihre Zeitung abonniert haben. Mein Freund, der von seinen Eltern eine andere Zeitung kannte, empfindet die Lektüre der F.A.Z. mittlerweile ebenfalls als Bereicherung.«

… oder seine Lesegewohnheiten. Hier wird es schon wieder ganz interessant, vor allem da, wo es Schnittmengen zum eigenen Verhalten gibt:

»Ich lese die F.A.Z. auch an Tagen, an denen ich wenig Zeit habe. (…) Wenn mich ein Text besonders interessiert, so hebe ich ihn für das Wochenende auf.«

Die letzten drei Zitate übrigens von ein- und derselben Leserbriefschreiberin. Übel spielt das Schicksal auch jenen mit, die eine Layoutreform als erhebliche Störung ihrer rituellen Lesepraktiken empfinden:

»Jede Ausgabe wird von mir mit der großen Papierschere zerschnitten nach interessanten Beiträgen, die ich an befreundete Menschen, aber auch an meine Kinder verschicke. Die Quellenangabe F.A.Z. konnte ich mir oft sparen, denn die Empfänger erkannten schon an der Aufmachung, aus welcher Zeitung der Beitrag stammte. Das ist nun vorbei (…).«

Wer weiß, wie viele Verwandte und Freunde jetzt nur deswegen keine Post kriegen, weil der Herr keine Lust mehr hat, extra überall FAZ dazuzuschreiben. Solange die Leute noch nicht erzählen, wie der Fischhändler heißt, der seine Fische mit ihrer alten Zeitung …

7. Der Zurückgebliebene

… ist der tragischste aller Lesertypen, die sich nach einem Relaunch outen. Er kriegt wohl weiter mit, dass es mal wieder – schon wieder – Veränderungen im Blatt gab, doch in Wahrheit leckt er immer noch seine Wunden vom vorletzten und vorvorletzten Relaunch. Seine Meinung zur aktuellen Layoutreform äußert er nur, um die Erinnerung wach zu halten. »Vor einigen Jahren hatten Sie freitags die Spalte für den Philatelisten. Ich vermisse sie immer noch.«

Zum Loser in den Leserbriefspalten wird der Zurückgebliebene vor allem neben dem Gratulant, der fragt: »Wann kommt der nächste Schritt?«

8. Der Co-Referent

… scheint auf den ersten Blick emotionslos, weil er nach dem Relaunch nicht zürnt, nicht lamentiert, nicht leidet. Seine Leidenschaft gilt den überzeitlichen Dimensionen: Wie wäre es zum Beispiel mit einem Nachruf auf die Fraktur?

»Am 6. Oktober 2007 endete ein halbes Jahrtausend der ›Zweischriftigkeit‹, das heißt der Konkurrenz der gebrochenen Schriften aus Mittelalter und der römischen Antiqua, welche die Humanisten zu neuem Leben erweckten. Während in den Nachbarländern die sogenannten gotischen Schreib- und Druckschriften mit ihren eckigen, spitzen, verzierten Buchstaben bald außer Brauch gerieten, blieben sie im deutschen Sprachgebiet für alle deutschen Texte bewahrt, die Antiqua war lateinischen und anderen fremdsprachigen Texten vorbehalten und kurioserweise allen Fremdwörtern, die auf diese Weise – mitten im Fraktur-Fließtext – als Ausländer markiert würden.«

Wer sich für den ganzen Vortrag interessiert – in dem es u. a. noch um Friedrich den Großen, der »als frankophoner Literat die Antiqua bevorzugte«, eine Reichstagsdebatte 1911 und den Führererlass zur Fraktur 1941 geht – sollte bei eBay dringend eine FAZ vom 13. Oktober ersteigern oder sich direkt an Prof. Dr. Horst Haider Munske aus Erlangen wenden.

9. Der Markenleser

Der Markenleser schätzt seine Zeitung wie den Manufactum-Katalog. Es gibt sie noch, die gute alte Fraktur, die Titelseite ohne Bild, die Linien zwischen den Spalten. Der Markenleser ist also ein Leser, der sich ganz bewusst entschieden hat. Er ist bzw. war stolz, »eine Zeitung zu lesen, die es nicht mit den Boulevardzeitungen hielt, nämlich eine Verkaufsaufmache für Analphabeten zu gestalten«.

Vom Relaunch wird er aufgescheucht wie ein Stück Wild. Es gefällt ihm ganz und gar nicht, »im Einerlei des Blätterwaldes keine Zuflucht mehr zu haben«, und er wünscht sich nichts sehnlicher zurück als seine alte Schutzzone: »Warum muss die F.A.Z. die Leser mit Bildern auf der Titelseite behelligen, wo wir doch Tausende Bilder täglich auf uns einwirken sehen?«

Als aufgeklärter Leser hat natürlich auch der Markenleser verstanden, dass Relaunchs heute zur Marketingstrategie dazugehören. Also versucht er, auf dieser Ebene zu argumentieren:

»Ich wünsche mir sehr, dass Sie zu Ihrem bisherigen Layout zurückkehren, ich betrachte es nicht zuletzt auch als einen betriebswirtschaftlichen Wert, eine Unique Selling Proposition.«

Aber im Grunde seines Herzens überwiegt die Enttäuschung:

»Es bleibt mir auf der ganzen Linie unerklärlich, wie eine Zeitung wie die Ihrige auf die Idee verfallen kann, ein weltweit einzigartiges Markenzeichen – Titelseite ohne Foto – (…) einfach aus der Hand zu geben.«

Vielleicht muss sich aber mal wieder ein Christian Kracht für ein neues Bilderverbot stark machen, um die Leser-Blatt-Bindung zu reaktivieren?

10. Der Mythenfortschreiber

Was den Mythenfortschreiber von allen anderen Leserreaktionen abhebt, ist sein Gespür für das, was geht und kommt und bleibt. Schon im Vorfeld kann er den Relaunch, so wie Kommentator Bernie, kaum erwarten:

»Als Abonnent freue ich mich schon seit Tagen darauf! Die Leserbriefspalten waren zuletzt so lustig, als sie die neue Rechtschreibung eingeführt haben. Erst in den FAZ-Leserbriefen erfährt man, was das Abendland wirklich ausmacht (und wie bald es untergehen wird).«

Der Mythenfortschreiber tut so, als ob er klein-klein über Typo-Fragen fachsimpelt, so wie die Jungs vom Antibuerokratieteam oder die Fontblogger. In Wahrheit schreibt er die alten großen Erzählungen unserer Feuilletonväter fort: Dinge wie die »Prantelei« der S-Zeitung oder die Farbenlehre der »Zeitung für Deutschland«. Schwarz die Politik, rot das Feuilleton, gold (gelb) der Wirtschaftsteil. Es gibt Hunderte solcher Geschichten, bei Relaunch-Gelegenheiten kommen sie bevorzugt ans Licht.

Ganz großes Kino ist natürlich auch der taz-Genosse, der sich in der FAZ vom 13. 10. 2007 als Abbesteller outete: Vielleicht zeigt gerade sein Statement, was taz und FAZ zu den besten Verbündeten innerhalb der Halbwelt des Feuilletons macht:

»In Wahrheit war die F.A.Z. – mit ihrer anarchistischen Frakturschrift, der ästhetisch schwarz-weißen Titelseite inmitten der allgegenwärtigen Bilderflut, der David-gegen-Goliath-Standhaftigkeit gegen die unsinnige Rechtschreibreform, dem unabhängigen, exzentrischen Feuilleton (die besten Artikel über Reggae-Platten und Pop-Konzerte), dem Pfund guerrillahaft-unabhängiger Medienberichterstattung, den anachronistischen Konservativ-Kommentaren und vor allem dem altmodischen Mut zur Ernsthaftigkeit – die radikale Tageszeitung Deutschland.«

Eine schönere Liebeserklärung hat man jedenfalls lange nicht gelesen. Ob der schwer verliebte taz-Genosse sich am Tag X auch so sehr in diese Seite seiner taz verknallt hat?

TAZFAZ


Mit Thomas Bernhard auf NZZ-Rallye

Konstanz, 18. Juni 2008, 07:05 | von Marcuccio

Wir Umblätterer tun ja viel, um an unseren Stoff zu kommen: Wir stellen uns dem Tauben-Terror und teilen brüderlich den »Spiegel«. Aber bei aller Passion haben wir immer noch ein unerreichtes Role Model: Thomas Bernhard.

»Und es ist mir damals auch klargeworden, daß ein Geistesmensch nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt. (…) Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen (…).«

Was sich hier und heute wie ein bestelltes Testimonial-Statement liest, steht so tatsächlich in »Wittgensteins Neffe« (Suhrkamp-Ausgabe von 1982, S. 90) und kündet von weiland echter Not: Denn erstens gab es damals weder NZZglobal noch Perlentaucher noch sonstige Netz-Dienstleistungen des »betreuten Lesens« (Kathrin Passig). Und zweitens war die papierne NZZ in Österreich seinerzeit wohl wirklich nicht an jeder Ecke erhältlich. »Jedenfalls«, so Bernhard, »nicht an jedem Tag und gerade dann, wenn man sie unbedingt braucht.«

km 0

Einmal aber, schreibt Bernhard in »Wittgensteins Neffe«,

»(…) hatte ich die Neue Zürcher Zeitung haben müssen, ich wollte einen Aufsatz über die Mozartsche Zaide, der in der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt gewesen war, lesen und da ich die Neue Zürcher Zeitung, wie ich glaubte, nur in Salzburg, das von hier achtzig Kilometer weit weg ist, bekommen kann, bin ich im Auto einer Freundin mit dem Paul um die Neue Zürcher Zeitung nach Salzburg, in die sogenannte weltberühmte Festspielstadt gefahren. Aber in Salzburg habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen. Da hatte ich die Idee, mir die Neue Zürcher Zeitung in Bad Reichenhall zu holen und wir sind nach Bad Reichenhall gefahren, in den weltberühmten Kurort. Aber auch in Bad Reichenhall habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen und so fuhren wir enttäuscht nach Nathal zurück. Als wir aber schon kurz vor Nathal waren, meinte der Paul plötzlich, wir sollten nach Bad Hall fahren, in den weltberühmten Kurort, denn dort bekämen wir mit Sicherheit die Neue Zürcher Zeitung und also den Aufsatz über die Zaide und wir sind tatsächlich die achtzig Kilometer von Nathal nach Bad Hall gefahren. Aber auch in Bad Hall bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht. Da es von Bad Hall nach Steyr nur ein Katzensprung ist, zwanzig Kilometer, fuhren wir auch noch nach Steyr (…)« usw. usf. (S. 88)

Man mag die absatzlose Rallye kaum unterbrechen, um raffend zu erwähnen, dass es bei dieser ganzen erfolglosen NZZ-Besorgungsfahrt noch »durch halb Oberösterreich und bis nach Bayern« ging. Gleichzeitig läuft Bernhards Österreich-Zorn, sein »Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig abstoßend größenwahnsinnige Land«, in dem noch nicht mal eine ordentliche Zeitung zu bekommen ist, mal wieder zur Hochform auf.

km 350

Am Ende sind es dann wirklich »dreihunderfünfzig Kilometer« geworden, noch dazu, »das muss ausdrücklich gesagt werden, in einem offenen Auto, was unweigerlich eine wochenlang anhaltende Verkühlung von uns dreien zur Folge gehabt hatte«.

Der vermutlich längste, auf jeden Fall atemloseste Zeitungs­einkaufsversuch der deutschen Literatur. Und alles wegen eines einzigen Artikels über die Zaide.

»Ich habe den Aufsatz längst vergessen und ich habe naturgemäß auch ohne diesen Aufsatz überlebt. Aber im Augenblick hatte ich geglaubt, ihn haben zu müssen.« (S. 91)

That’s true passion for the paper. Das ist Umblättern. Wer das nächste Mal zu faul für den Sonntagsspaziergang zur FAS-Ausgabestelle ist, denke gefälligst an den Bernhard’schen Roadmovie.


Fußball-Feuilleton (Teil 4):
Eidgenössisches Protektorat Ostpreußen

Konstanz, 7. Juni 2008, 16:52 | von Marcuccio

Käse stand bis jetzt noch nie in Tobi Müllers Eurokolumne, aber die Sache mit Tilsit wäre doch mal ein echter Leckerbissen für die deutsch-schweizerische Völkerverständigung zur EM (von wegen »Nazi«-Sturm usw.). Denn ich frage mich manchmal: Ist das wirklich passiert? Dann muss ich es noch mal lesen, aus dem Protokoll der Gründung von Tilsit vom 1. August 2007:

»Zum Ostpreussen- und Thurgauerlied wurde die Tilsit-Ortstafel enthüllt. […] Horst Mertineit, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V. mit Sitz in Kiel, überbrachte als Gastgeschenk den Bronzenen Elch (Symbol von Ostpreussen/Tilsit) und eine Tilsit-Fahne. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Gründungsurkunde wurden die Tilsit-Strassentafeln gesetzt. Sie erinnern daran, dass hier der erste Schweizer Tilsiter hergestellt wurde […].«

Da machen die Schweizer also klar, was in Deutschland noch nicht mal mehr ein Vertriebenenverband öffentlich zu fordern wagt: Sie sorgen dafür, dass in Tilsit wieder deutsch gesprochen wird, ja, sie holen Tilsit heim ins (Käse-)Reich. Und als stolze Bürger, die seit angeblich über 160 Jahren (Weltrekord?) keinen Krieg kennen, tun sie das sogar noch zu ihrem Nationalfeiertag. Sogar die NZZ berichtete über diesen, klar, am Ende natürlich nur käsemarkenstrategisch erfolgreichen Feldzug. Trotzdem liegt die Frage nahe: Wie viel Löwenzahn, hehe, steckt eigentlich in so einem Stück Schweizer Tilsiter?


Darf man das lesen? (Teil 11: »getAbstract«)

Konstanz, 29. April 2008, 07:01 | von Marcuccio

Wer sich schon immer die Frage stellte, »wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat«, für den geht es heute mal um eine ganz spezielle Dienstleistung in der boomenden Branche: Es geht um Abstracts von »getAbstract« – also die Produkte des (nach eigenen Angaben) Weltmarktführers für Buch-Zusammenfassungen.

Das Prinzip

Jeder noch so dicke Wälzer der Wirtschafts- und Weltliteratur wird auf ein Standard-Format von fünf bzw. acht PDF-Seiten (oder entsprechende MP3-, Palm-, Blackberry-Äquivalente) komprimiert. »Heiße Luft aus Büchern rauslassen«, nannte Rolf Dobelli, der Mitbegründer von getAbstract, das Verfahren mal ganz treffend.

Content von brutto auf netto, sozusagen, wobei dieser Service, nur als Flatrate zu bekommen, nicht ganz billig ist: das Abstract-Abo für die Bibliothek der Wirtschaftsbücher kostet 299 €, das für die Klassiker 189 € pro Jahr. Vielleicht, hehe, fragen wir also besser nicht: »Darf man das lesen?« Sondern: »Möchte man sich das leisten?« Und: Kann das, was für Business-Bücher passen mag, für belletristische oder philosophische Werke überhaupt funktionieren?

Wir machen die Probe aufs Exempel und nehmen heute endlich das Abstract zu Nietzsches »Zarathustra« zur Kenntnis, das uns die NZZ seinerzeit als Gratis-Beilage zum legendären Sonntagstaucher-Frühstück servierte. (Als Promotion bzw. in Kooperation mit Printmedien lanciert getAbstract immer wieder solche Buchzusammenfassungen zum Sammeln. Aktuell kriegt man mit der NZZ am Sonntag die »Klassiker der Wirtschaftstheorie«, 2007 gab’s eine Philosophen-Serie und schon 2006 zwei Staffeln Belletristik.)

Also sprach Zarathustra kompakt – der netto 11 DIN A 5 Seiten (brutto 420 Buchseiten) umfassende Nietzsche hat folgende Inhaltsstoffe zu bieten:

Die »Buchinformation«

… bildet gewissermaßen vorneweg das Abstract des Abstracts. Bis auf die Allerwelts-Attribute, die begründen müssen, warum der »Zarathustra« überhaupt eine Buch-Zusammenfassung wert ist, geht der Satz in Ordnung:

»Das faszinierende und irritierende Hauptwerk Nietzsches, in dem er die Ideen des Übermenschen und der ewigen Wiederkehr als Rettung für die Menschheit verkündet.«

Die »Take-Aways«

… heißen wirklich so und sollen, Bourdieu lässt grüßen, wohl so etwas wie eine Liste gesellschaftlich verwendbarer Stegreifsätze über das Werk anbieten. Nur klingen die meisten von ihnen eher nach der Sorte Floskeln, wie sie ahnungslose Lehramtsstudentinnen verfertigen, um sie für die nächste Prüfung auswendig zu lernen. Stilschublade G8 Abiturwissen, Grundkurs Reli respektive Philo:

»Zarathustra hatte besonders große Wirkung in der Literatur, der Musik und der bildenden Kunst, weniger in der Philosophie.«

Oder hier, das Take Away zum Plot:

»Der Einsiedler Zarathustra steigt nach Jahren der Einsamkeit aus den Bergen herab, um den Menschen seine Weisheit mitzuteilen.«

Wüsste man es nicht besser, man könnte Nietzsche glatt für einen Märchenonkel halten.

Das eigentliche Abstract

Die banalisierende Sprache ist der Dreh- und Angelpunkt, ja vielleicht das eigentliche Problem eines solchen Abstracts, denn in ihr kommt der souveräne Umgang mit dem Gegenstand weiß Gott nicht immer zum Ausdruck: Wenn es etwa heißt, Nietzsche hätte »lange mit dem Nihilismus geliebäugelt«, dann ist das einfach mal das völlig falsche Verb zum richtigen Sachverhalt. Oder liebäugelt man mit Nihilismus wie man mit einem, sagen wir, Topfenstrudel in der Kaffeehausvitrine liebäugelt? Eben.

Umgekehrt gilt aber auch: Nicht alles ist schlecht. Was im hinteren Teil des Abstracts über Nietzsches Stellung in der modernen Philosophie zu lesen ist, hätte so oder so ähnlich in jedem Feuilletonartikel zum nächsten »Zarathustra«-Jubiläum Platz:

»Nietzsche hielt es für eine Illusion, alles Menschliche auf Basis der Vernunft zu konstruieren, weil die Vernunft nur ein Teil des Menschen ist: Wer sie auf ein Podest erhebt, missachtet den Körper und die Leidenschaften. Der Leib, der Rausch, der Impuls gehören genauso zum Menschen wie die Rationalität. Damit nahm der Philosoph die Grundgedanken Sigmund Freuds vorweg. (…) Der moderne Mensch ist auf sich selbst gestellt, absolute Gewissheiten und eine universelle Moral gibt es nicht mehr, insbesondere keine christliche.«

Fazit: »Gott ist tot«

Und der »Nietzsche kompakt« war nicht grad eine lebendige Lektüre. Ein bisschen so wie eine Tube pures Tomatenmark: ordentlich konzentriert wohl, aber als reine Masse fad schmeckend. Wer den »Zarathustra« gelesen hat, wird von diesem Konzentrat wenig überzeugt sein. Und wer das Buch nicht kennt wohl kaum zur Lektüre des Originals verführt.

Das viel bessere Abstract eines Buches versteckt sich manchmal ganz woanders, in einem anderen Buch zum Beispiel. Fabelhaft fasst etwa Rüdiger Safranski den »Zarathustra« zusammen, auf den Seiten 297-301 seines Romantik-Buchs gerät man ganz unversehens in eine süffige, bonmotreiche Paraphrase. Damit gelingt Safranski auf 4 Seiten, was getAbstract auf 11 nicht schafft: Kürze mit Würze.


Hexameter-Kritik im Feuilleton

Leipzig, 23. März 2008, 23:49 | von Paco

Eine dem fremdsprachlichen Original adäquate Versübertragung ist immer noch die Königdisziplin unter allen Übersetzungsmöglichkeiten.

Im Rezensionswesen gehört neben der Kritik altägyptischer Papyri sicher die nicht-wohlfeile Hexameter-Kritik in die Schwergewichts­klasse. (Es ginge natürlich auch ganz billig, etwa wenn Zlatko Trpkovski die Blankverse einer Shakespeare-Verfilmung als »Deppengeschwätz« bezeichnet, hehe).

Zuletzt konnte sich die feuilletonistische Kritik an der Hexametrisierung der »Odyssee« durch Kurt Steinmann austoben, die im letzten Jahr in einer Prachtausgabe bei Manesse erschienen ist (übrigens einige Wochen bevor Raoul Schrott mit einem Langartikel in der F-Zeitung eine neue Debatte zur Herkunft Homers in Gang setzte – der Umblätterer berichtete).

Kurt Flasch in der FAZ lobte Steinmanns Neu-»Odyssee«, Johan Schloemann in der SZ verriss sie. Beide kritisierten aber unisono die Umsetzung in deutsche Hexameter. Flasch spricht von einer »Belastung durch das Versmaß«, Schloemann bezeichnet die Übersetzung als »vielfach rhythmisch holprig und sprachlich unelegant«. Zusammengenommen gibt es folgende Kritikpunkte:

– unnatürliche Wortverlängerungen und Verkürzungen (FAZ)
– Verrenkungen der deutschen Syntax (FAZ)
– unnatürlich starke Wortbetonungen (SZ)
– Tonbeugungen bei mehrsilbigen Wörtern (SZ)

In der NZZ lobt dann Hans-Albrecht Koch an Steinmanns Neuübersetzung vor allem die Hexameter, und zwar lustigerweise aus denselben Gründen, aus denen FAZ und SZ die Versifikation ablehnten:

»Nicht mechanisch fällt bei Steinmann immer der Wortakzent mit dem Versakzent zusammen, das nimmt seiner Sprache die Schwere. Das ist in der langen Tradition deutscher Hexameter-Übersetzungen ein wenig gewagt, aber es ist schön und entlastet.«

Jens Jessen in der »Zeit« widerspricht im Übrigen allen anderen, indem er das Hexametrisieren als Bewertungskriterium herabwürdigt:

»(…) die Leistung einer neuen Übersetzung wird niemals in den Hexametern bestehen. Sie sind die leichteste Übung.«


Wann fusioniert das deutsche Feuilleton?

Konstanz, 2. März 2008, 22:00 | von Marcuccio

Nach dieser Woche kann und muss man sich das schon mal fragen, denn so viel Gemeinsamkeit im Protokoll war selten. Donnerstag abend waren sie alle im Berliner Ensemble, bei Jonathan Littells einzigem Auftritt in Deutschland:

Eckhart Fuhr erlebte für die »Welt« einen »Nazi-Synthesizer«, Harry Nutt von der FR einen »Schriftstellerdarsteller« und Lothar Müller (S-Zeitung) einen Yale-Absolventen.

Sieglinde Geisel von der NZZ griff »sicherheitshalber zur Simultanübersetzung (…); doch auch der Übersetzer hat zu kämpfen«. Dirk Knipphals von der taz sah einen Littell, der mit allem, was er sagte, drauf aus war, »die Sache niedriger zu hängen«, während Hubert Spiegel für die F-Zeitung (Reading Room!) natürlich betont, dass Littell gar »nicht daran denkt, die Provokationen seines Romans kleinzureden«.

Schon am Mittwoch abend waren sie in Weimar kollektiv zur Urlesung von Martin Walsers »Ein liebender Mann« versammelt (und zwar nicht nur die gleichen Zeitungen, sondern sogar Eckhart Fuhr und Dirk Knipphals, so dass man sich unwillkürlich bei der Frage ertappte, ob taz und »Welt« denn jetzt schon Fahrgemeinschaften bilden).

Neben Walsers Krawatte, auf die wir wohl noch eigens in unserer Umblätterer-Rubrik »Eingeschneidert« zurückkommen werden müssen, bleibt uns aus Weimar vor allem Edo Reents als Lach-Detektor in Erinnerung:

An der Stelle »noch Gelegenheit gab zu rühmen, wie gesund er sich hier fühle«, lacht Joachim Kaiser das erste Mal laut auf: »Ha!« In den Anlaut ist ein kleines p hineingeschmuggelt, das a hat leichte Tendenz ins ä oder ö: »Hpäöh!« Was es da zu lachen gibt? Der nächste Lacher kommt bei »dringend zu wünschen«, wo Goethe Ulrike das Wort »unvorgreiflich« erklärt: »Hpäöh!« Das geht dann so weiter: Martin Walser liest in seinem alemannischen Singsang seine nicht immer ganz stubenreinen Goetheana, und Joachim Kaiser macht alle paar Minuten »Hpäöh!«

Das Live-Lachen des Kaisers hat sogar soviel News-Wert, dass es zu einem eigenen Interview mit dem »Leit-Lacher« geführt hat. Da findet man Martin Walser lustig, und schon ist man selber im Feuilleton, hehe.


Die Feuilleton-Hits zu Jahresbeginn (Teil 3):
Peter Urban-Halle über dänische Literatur

Leipzig, 2. März 2008, 08:12 | von Paco

Januar und Februar waren gute Feuilleton-Monate, ganz anders als im letzten Jahr. Wir stellen hier die 6 interessantesten, schönsten, bestgeschriebenen, relevantesten, lesenswertesten Feuilleton-Artikel des Jahresbeginns vor, die auch sozusagen automatisch für die Best of Feuilleton 2008 nominiert sind. Hier ist Teil 3:

Peter Urban-Halle: »Der Krimi soll’s richten« (NZZ, 7. 1. 2008)

Warum soll man gleich noch mal die NZZ lesen? Zum Beispiel wegen der Artikel, in denen die literarische Lage einer Region ganz kurz mal eben ausführlich beschrieben wird. Vor zwei Wochen gab es einen gründlichen Artikel über Slowenien (von Wilhelm Baum), und einen Monat davor war dieser kritische Artikel über die dänische Gegenwartsliteratur erschienen.

Wenn in Dänemark im Moment offenbar keine ›echten‹ Schriftsteller erwähnenswert sind, dann könnte man ja wenigstens über die Krimiautoren reden. Peter Urban-Halle meint aber, dass sich wegen der mangelnden literarischen Qualitäten auch das nicht lohne. In Zeiten des skandinavischen Krimi-Booms kriegt es Dänemark irgendwie nicht auf die Reihe, davon zu profitieren.

Insgesamt polemisiert er recht unterhaltsam, etwa gegen die Werke von Stig Dalager, »deren Weltgewandtheit sich darin äussert, dass sie den Kalender nach interessanten Daten durchschauen und danach politisch korrekte Bücher verfassen, den Roman zum Jahrestag sozusagen«.

Neben Heimat und Mythos sei vor allem auch der Körper ein urdänisches Thema, mittlerweile aber eben eher als Obduktionsobjekt im nordischen Kriminalroman. Von der Verknüpfung dieser drei Themenkreise innerhalb eines Krimis verspricht sich P. U.-H. allerdings ein »Literaturfest«. Im Moment scheint die dänische Literatur sowas dringend nötig zu haben.