Archiv des Themenkreises ›Pornografie‹


Feuilleton und Pornografie (Reloaded)

Leipzig, 15. März 2010, 13:23 | von Paco

Ist jetzt schon eine Weile her (Juni/Juli 2008). Seitdem ist aber nichts sehr Erwähnenswertes hinzugekommen. Deshalb hier noch mal die damals vorgestellten sechs generischen Texte zum Thema:

Teil 1: Alexander Osang über Pornywood
Teil 2: Stephan Maus über die Venus-Messe 2003
Teil 3: Tobias Rapp über Pornpop
Teil 4: Ariadne von Schirach über die Generation Porno
Teil 5: Aaralyn Barra über den »Da Vinci Code«
Teil 6: Jens Friebe über Porn-Surfing

Ach ja, ich wollte dauernd noch etwas über den herrlichen Essay »Pornographic Coding« (2005) von Florian Cramer und Stewart Home schreiben. Das würde dann Teil 7 dieser Reihe werden. Die Notizen dazu hängen leider seit Jahren in meinem Draft-Verzeichnis fest und wandern immer weiter nach unten im Dringlichkeitsstapel. Mal sehen.


Feuilleton und Pornografie (Teil 6):
Jens Friebe über Porn-Surfing

Leipzig, 24. Juli 2008, 18:06 | von Paco

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Motto: »You were born a human being (…) that gets to download porn off the internet, so really, you have everything to live for!«
(Anton Yelchin als »Charlie Bartlett«, 2007)
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Jens Friebe ist der Paul Celan der deutschen Popmusik, deshalb ist bei jeder Deutung Vorsicht geboten. Der Song »Gespenster«, der Opener des Debütalbums »Vorher Nachher Bilder« (2004), lässt sich allerdings nicht wirklich missverstehen. Er beschreibt sehr realistisch den Alltag eines Porn-Surfers:

Hochfahrn und dann auf ›Verbinden‹
›Welcome‹ – Willkommen an Bord
Die Maschine wird es finden
Ein dreckiges Wort

Ok, Windows/Linux/Mac OS ist fertig geladen, der Browser läuft, die Suchmaschine ist bereit:

Denk dir irgendeine Farbe
Wünsch dir irgendeine Zahl
›19-year-old redhead‹
Das ist deine Wahl

Ok, verstanden, der Suchterm ist eingegeben, man landet auf der Porn-Seite und …

(Refrain:)
Und du verliebst dich in Gespenster (4x)

Der absolute Clou des Songs! Die Bezeichnung der digitalen Nackte-Haut-Träger als ›Gespenster‹! Ein schönes Bild, das sofort einleuchtet.

Diese superbe lyrische Sublimierung des Themas hat noch weitere Strophen, die unter anderem vom »Back«-Button des Browsers handeln. Der komplette Text ist auf der Friebe-Homepage zu finden (eine Hörprobe auch).


Feuilleton und Pornografie (Teil 5):
Aaralyn Barra über den »Da Vinci Code«

München, 16. Juli 2008, 11:45 | von Paco

Auch ein schönes Genre: das Pornstar-Interview. Einer der bekanntesten Textesammler in dieser Hinsicht war Luke Ford. Der ehemalige »Matt Drudge of Porn« hat sich inzwischen zurückgezogen und seine Website verkauft (deren URL übrigens auch schon mal in der FAS verbreitet wird, hehe).

Seine Interviews kann man dort trotzdem noch nachlesen, unter anderem das mit Aaralyn Barra. Es ist ein absolutes Ausnahme­gespräch, denn aus dem üblichen Fragenquiz wird auf einmal ein exegetischer Schlagabtausch über Dan Browns Roman »The Da Vinci Code« (2003):

Luke Ford: Interview mit Aaralyn Barra.
In: lukeisback.com, 4. 2. 2006.

Es handelt sich zwar schon noch um ein Pornstar-Gespräch mit den üblichen Fragen:

Luke: »What type of men are you attracted to?«
Aaralyn: »Black men and Germans.«

Aber schon von Anfang an sagt die Porno-Actrice einige super Sätze, die auf jeden Fall eine Komplettlektüre lohnen. Und dann fragt der Interviewer nach Freizeitaktivitäten. Aaralyn liest viel, zuletzt das hier: »I just got done with The Da Vinci Code. I’m no longer a Christian because of it. Have you read it?«

Das ist der Beginn eines nachgerade literaturwissenschaftlichen Streitgesprächs der Extraklasse. Es geht selbstverständlich um das Verhältnis von Realität und Fiktion.

Luke: »The DaVinci Code is a novel. (…) It’s not based on facts. How can it affect your view of anything? It’s a made-up story.«
Aaralyn: »So’s the Bible.«

In-Your-Face! Das sitzt erst mal. Luke versucht weiter abzuwiegeln, er müsste ja eigentlich die besseren Karten haben. Aaralyn erwähnt »the painting«, also Da Vincis »Abendmahl« mit dem weiblich aussehenden Johannes. Luke beharrt darauf, dass Dan Brown einen Roman geschrieben hat, eine erfundene Geschichte.

Aber Aaralyn hat alles nachgegoogelt und »things that I found convincing« gefunden. Und dann fasst sie das Buch doch auch recht schön zusammen: »Christianity is somebody’s idea. His main point in the book is who decided what was true and what was not true. Who put these things down in writing.«

Brown-Fan blieb sie allerdings nicht lange: »I’m reading Angels and Demons now. I’m not impressed. I stopped reading it after two chapters.«


Feuilleton und Pornografie (Teil 4):
Ariadne von Schirach über die Generation Porno

London, 12. Juli 2008, 08:14 | von Paco

Buchstäblich aus dem Nichts kam der »Spiegel«-Essay einer bis dahin unbekannten Philosophiestudentin:

Ariadne von Schirach: Der Tanz um die Lust.
In: Der Spiegel 42/2005 (17. 10. 2005), S. 194-200.

Die These der Autorin lautet ungefähr so: Wenn sogar der niedliche Berlin-Mitte-Boy von nebenan (»stilecht mit Freitag-Umhängetasche«) ungeniert durch die Pornoabteilung einer Videothek surft, dann muss das etwas bedeuten. Nämlich: Porno ist überall, Porno ist gesellschaftsfähig.

Der Ariadne-v.-Schirach-Artikel mit dem wallend blonden Foto als Beweis der Autorschaft war ein Scoop für den »Spiegel«. Alle, wirklich alle wollten wissen, wer das ist – und was dieser Text eigentlich jetzt genau soll. Einordnungsversuch: Der Artikel und Schirachs daran anschließendes Buch »Der Tanz um die Lust« (Goldmann 2007) sind eine Art Porno-Edition von Illies‘ »Generation Golf«.

All die hoffnungsfrohen jungen Leute, die sich von einer ubiquitären Pornografie dominieren lassen, verlängern so ihre Jugend und zögern ihr endgültiges Erwachsenwerden hinaus. Wo Pornos sind, sind Singles, männliche vor allem, denn die sprichwörtlichen »Sexbomben mit Staatsexamen« sind schon noch an Bindung interessiert, befinden sich schon noch in Erwartung des Mr. Right und zeigen sich daher »ungehalten über mangelnde sexuelle Bereitschaft. Die Männer sind verunsichert und flüchten ins Internet.«

»Die Hinweise häufen sich. Rund ein Drittel der deutschen Bevölkerung soll sich angeblich regelmäßig auf Sexseiten im Internet vergnügen. Es gibt Seiten, die ein komplettes Porno-Alphabet anbieten, jede nur erdenkliche Neigung, kunstvoll sortiert, der alte de Sade hätte seine helle Freude gehabt.«

Über Advanced Porn-Surfing hat übrigens Jens Friebe ein sehr schönes Lied geschrieben, es heißt »Gespenster«, stammt vom 2004er Album »Vorher Nachher Bilder« und wird hier später verhandelt.

Zurück zu Schirach. Ihr ist auf jeden Fall eine beeindruckende Phänomenologie der pornografisierten Gesellschaft gelungen. Der »Spiegel«-Text wird vor allem durch die unterhaltsame Beispielgebung getragen, angetreten ist »die Frau von der Triebabfuhr« (taz) aber auch, um irgendwie zu warnen: »Das Problem beginnt, wenn das pornografische Menschenbild zur Norm wird, und Gegenbilder fehlen«, sagte sie im SP*N-Interview. Wohin sie mit ihren Bedenken allerdings will, wird nicht so richtig deutlich.


Feuilleton und Pornografie (Teil 3):
Tobias Rapp über Pornpop

London, 8. Juli 2008, 11:50 | von Paco

Nachdem in den letzten beiden Teilen in kritischem und ironischem Ton über Pornografie geschrieben wurde, folgt heute der verwissenschaftlichte Ton. Tobias Rapp hat vor einigen Jahren in der »taz« den Begriff »Pornpop« geprägt und damit die fortschreitende Pornografisierung der Gesellschaft beschrieben:

Tobias Rapp: Sag deine Wahrheit, Baby.
In: die tageszeitung, 2. 4. 2004.

Holzhammerartige Anspielungen auf Sex und Pornografie gibt es in der Popmusik natürlich mindestens seit Elvis‘ Hüftschwung und Mick Jaggers Mundporträts. Neu ist nun allerdings laut Rapp, dass die Pornografie im »Herzen des Pop-Mainstreams« stattfindet und dass ihr keine Subversionskonzepte mehr zugrunde liegen.

Der geplante Zungenkuss, den sich Madonna und Britney Spears bei den MTV Video Music Awards 2003 gegenseitig in die Gesichter drückten, wird von Rapp zwar nicht erwähnt, eignet sich aber gut zur Illustration dieser These. Diese Live-Aktion zielte eben nicht mehr auf sowas wie die Befreiung der Frau oder die Legitimation der Homo-Ehe.

Diesem eher seichten »Crossover zwischen Pornografie und Mainstream-Pop« stellt der taz-Text die Pornovideos von Snoop Dogg zur Seite. Die Filme, sie sogar kurzzeitig seinen Karriereknick aufhalten konnten, sind die logische Weiterentwicklung der pimpigen Rapvideos: Hier findet der Sex wirklich statt, der in den Clips nur angedeutet wird. »Pornpop ist die vorläufig letzte Möglichkeit, in der Karaokewelt des Mainstreams authentische Geschichten zu erzählen.«

Nun sind Snoop Dogg und Britney Spears etwas weg vom Erfolgsfenster, der Pornpop ist geblieben. Inzwischen hat er ein Update zur These »Alles ist Porno« erfahren, die wenig später von Ariadne von Schirach in den Raum gestellt und über einen berüchtigten »Spiegel«-Essay (in Nr. 42/2005) und später in ihrem Buch »Der Tanz um die Lust« (2007) verbreitet wurde. Darum geht es dann demnächst.


Feuilleton und Pornografie (Teil 2):
Stephan Maus über die Venus-Messe 2003

London, 1. Juli 2008, 11:59 | von Paco

Stephan Maus (früher der beste freie Kritiker around, heute beim »stern«) war 2003 für die S-Zeitung auf der Erotikfachmesse Venus in Berlin. Daraus ist dieser Artikel entstanden:

Stephan Maus: Shuttle-Bus von Sodom nach Gomorra.
In Süddeutsche Zeitung, 20. 10. 2003.

Die »krude Bilderflut der vermarkteten Sinnlichkeit« stellen einen Metaphernhain dar, den der Autor mit Leichtigkeit plündert und in seine Beschreibungssuada montiert. Der Grundton ist, anders als bei Alexander Osangs Reportage über Pornywood, ironisch:

»Manche Nischenmärkte produzieren Tableaus, von denen die Surrealisten nicht zu träumen gewagt hätten.«

Dabei übt sich hier der dezidiert fachfremde Blick auf die Szene. Inmitten all der Pornoprodukte muss Maus das Sehen ganz neu lernen, und verwirrt begeht er dann auch einen schönen Sehfehler:

»Plötzlich fällt der Blick des Besuchers auf eine besonders krude Perversion. Doch nein, es ist nur die Vorratskammer des Weißwurststandes.«

Außer Weißwürsten begegnet Maus noch vielen anderen wundersamen Dingen und wird so »Zeuge der wundersamen Metamorphose von Obsessionen in Nischenmärkte«. Er fragt sich zu Recht, welche Nachfrage eigentlich bedient wird, wenn eine Unterwasserkamer »verträumt« schwebende Fäkalienteile aufnimmt?

Insofern ist es verständlich, dass sich der Autor am Ende seines Textes »nach lebenslanger Enthaltsamkeit« sehnt. Trotzdem ist dieser nun ja schon fast 5 Jahre alte Messebericht noch immer lesenswert, weil es ihm gelungen ist, einmal exemplarisch die bis ins – sagen wir mal: – Surreale reichende Ausdifferenzierung des Pornomarktes zu beschreiben.


Feuilleton und Pornografie (Teil 1):
Alexander Osang über Pornywood

London, 28. Juni 2008, 16:06 | von Paco

Hier werden ab heute (und danach in hoffentlich nicht allzu loser Folge) ein paar Standardartikel zum Thema vorgestellt, die man unbedingt gelesen haben muss. Damit es nicht zu lustig wird, starte ich mit diesem Text:

Alexander Osang: Männer sind knapp im Moment.
In: »Der Spiegel« 21 (17. 5. 2004), S. 142-146.

Osangs Reportage ist natürlich kein Loblied auf die US-amerikanische Pornoindustrie mit deren Hauptschauplatz San Fernando Valley, genannt Pornywood. Vom Tonfall bis zur Pointe zeichnet er ein eher dunkles Sittengemälde der Milliardenbranche.

Zwar werden genaue Berufsbilder vom Modelagenten über den Regisseur/Kameramann und den Produzenten bis zu den Darstellern gezeichnet. Als beruflicher Appetizer der FAZ-Beilage »Beruf & Chance« ließe sich der Text aber dennoch nicht verbraten. Das liegt vor allem am Aufhänger: dem HIV-Skandal, der Pornywood vor 4 Jahren erschütterte.

Während der empfohlenen 60-Tage-Quarantäne herrschte eine Knappheit an männlichen Darstellern, viel Zeit zur Besinnung schien aber nicht zu bleiben: »Die Frauen gehen gelangweilt ihrer Arbeit nach. Die Frauen hier wollen Männer. Für eine ›Girl-Girl‹-Szene gibt es 400 Dollar, für eine ›Boy-Girl‹-Szene doppelt so viel.«

Es waren solche Details, die auch noch Wochen nach dem Erscheinen des Textes Mitte Mai 2004 immer mal wieder Thema an irgendwelchen Nebentischen waren. Diese Nachhaltigkeit ist vor allem auch auf die literarische Grundhaltung des Autors zurück­zuführen: Schon aufgrund des Aufhängers war es Osang nicht möglich, seinen Bericht mit einem ironischen Unterton zu versehen, wie es Feuilletontexte über die Pornoszene sonst gern tun (Beispiele folgen).