Archiv des Themenkreises ›Raddatz-Festwochen‹
Berlin, 31. Dezember 2013, 09:05 | von Josik
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 30):
Ausblicke (1)
Berlin, 30. Dezember 2013, 08:30 | von Josik
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Viel zu schnell gehen die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen ihrem Ende entgegen. Wir bedanken uns bei allen Leserinnen und Lesern für ihr enormes Durchhaltevermögen über einen ganzen Monat hinweg. Vor allem natürlich danken wir auch Fritz J. Raddatz himself. Es ist keine bloße Floskel, sondern es kommt von Herzen, wenn wir sagen, dass ohne ihn die feierliche Durchführung der großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen praktisch gar nicht möglich gewesen wäre. Nun bleibt eigentlich nurmehr der Ausblick auf den morgen erscheinenden zweiten und letzten Teil der Ausblicke.
Und warum des tieftraurig-schnellen Großkritikers Raddatz Gesamtwerk einen Glücksphall der Weltliteratur darstellt, kann man noch mal hier im »Freitag« nachlesen.
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 29):
»Bestiarium der deutschen Literatur« (2012)
Jena, 29. Dezember 2013, 08:25 | von Montúfar
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 105)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
In einem so auf Vollständigkeit angelegten Fortsetzungswerk wie diesem alphabetisch sortierten »Bestiarium der deutschen Literatur« (zauberhaft illustriert von Klaus Ensikat) darf natürlich der Verfasser selbst nicht fehlen. Während Uwe Johnson als »Pottwal« (S. 55) beschrieben und Juli Zeh synekdochisch ausgebaut wird zum »Rauhfußkauz« (S. 130), tituliert Raddatz sich selbst als »Prachtleierschwanz« (S. 133) und präsentiert sich als Ebenbild eines »sehr eitlen Tieres« (ebd.).
Der Prachtleierschwanz trägt seinen Namen, so erfahren wir, völlig zu Recht, denn es »stülpt der gerne vor spiegelndem Wasser Kokettierende den imposanten Sturz seines pfauenähnlichen Schwanzgefieders beim Kopulieren über seinen und des Weibchens gesamten Körper, was ein Forscher ›monströse Schönheit‹ nannte« (S. 133).
Peter Sloterdijk hat sich kürzlich ebenfalls treffend über sein Aussehen geäußert. In »Zeilen und Tage« beschrieb er sich als ›unfrisierbaren Oger‹. Das ist zwar monströs, aber nur bedingt schön. Und bekanntlich hatte Friedrich Engels seinerzeit in »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie« über die materialistische Dialektik behauptet: »damit wurde die Hegelsche Dialektik auf den Kopf, oder vielmehr vom Kopf, auf dem sie stand, wieder auf die Füße gestellt.«
Raddatz – so muss man schlussfolgern – stellt intelligente Literatur- und Literatenbetrachtung vom Kopf auf den Schwanz. Das ist definitiv unterhaltsamer, als grobschlächtige Riesen zu kämmen, und verdient vorbehaltlose Hochachtung. Aber es ist auch Vorsicht geboten, denn: »Diese ›Leierschwanz-Facetten‹ täuschen (…) darüber hinweg, daß das eigentlich scheue Tier gegen Feinde äußerst aggressiv ist, die es durch eine übelriechende Ausscheidung betäubt, um dann mit stolzgeschwungenen langen Schwanzfedern in Siegerpose den Kampfplatz zu verlassen.« (S. 135)
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 28):
»Die Tagebücher in Bildern« (2011)
Jena, 28. Dezember 2013, 08:25 | von Montúfar
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 104)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Dieses Buch leidet anscheinend – und das völlig zu Unrecht – an seiner Kürze. Denn schon im Vorwort berichtet Namensvetter Joachim Kaiser über die Tagebücher: »Sie umfassen immerhin 900 Seiten und knapp zwei Jahrzehnte, und doch habe ich sie in drei aberwitzigen Tagen und Nächten durchgelesen, durchstürmt; nur am Schluß ein wenig überdrüssig.« (S. 7)
Und auch am Ende findet sich abgedruckte Fanpost, in der immer von ekstatischen Leseerlebnissen die Rede ist; wohlgemerkt für die Tagebücher. Dabei sind »Die Tagebücher in Bildern« viel besser als ihr beleibterer und beliebterer Verwandter, denn sie destillieren aus dem »großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik« (Frank Schirrmacher) auch noch einen so schönen wie kleinformatigen Beitrag zur Gattung des Coffee Table Books.
Und was es hier zu sehen gibt, bestätigt augenscheinlich, was ich bisher nur befürchtete: FJR kennt sie nicht nur alle und ist immer der sprachlich Treffsicherste, sondern er ist dabei auch immer am besten angezogen. Ich begann sofort wieder damit, gebügelte Hemden zu tragen, und hätte beinahe wieder angefangen zu rauchen. Davor bewahrte mich nur, dass ich mich relativ schnell ausschließlich auf die Tagebuchauszüge zurückkonzentrierte.
Und da wird dann z. B. der Vorwortgeber, »[m]ein so eloquenter und begabter Freund Kaiser« (S. 76), mit den Worten gewürdigt, dass ihm beim Versuch, über die Schönheit von Musik zu reden, schlicht die Worte fehlten. Das könnte Raddatz nicht passieren. Bei einem Abend für Wolf Wondratschek in Hamburg trifft er einen Boxer, »Herrn Marke oder Maske« (S. 110), und »ein stadtbekannter Zuhälter« (ebd.) stellt ihn, Raddatz, zur Rede: »Sahn Se ma, wat is denn nun der Unterschied zwischen Gedichten und Romanen.« (ebd.)
Ganz am Ende äußert sich Raddatz noch zu einigen undankbaren Kritiken seiner Tagebücher, in einem Faksimileauszug aus seinen fortgeschriebenen Aufzeichnungen. Hier zeigt sich dann doch eine menschliche Schwäche des Titanen FJR: seine Handschrift ist gar nicht so leicht zu entziffern. Wie gut also, dass es nur noch 69 Tage dauert, bis bei Rowohlt die Tagebücher 2002–2012 erscheinen, in Druckschrift. Und welch Hinterfotzigkeit des Verlags, im Vorschautext für diese neue Tagebuchtranche einfach mal die alten Tagebücher zu dissen: »neue Namen tauchen auf: nicht mehr nur Hochhuth, Enzensberger und Grass«.
Fritz J. Raddatz: Die Tagebücher in Bildern. Mit einer Einleitung von Joachim Kaiser, einigen Briefen an den Autor und einem Postscriptum aus dessen fortgeführtem Tagebuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011. S. 3–136 (= 134 Textseiten).
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 27):
»Tucholsky. Eine biografische Momentaufnahme« (2010)
Basel, 27. Dezember 2013, 08:25 | von Baumanski
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 103)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Von Raddatz’ Rechenkünsten war an dieser Stelle ja unlängst schon die Rede. Die Lektüre seines vierten und bis dato letzten Tucholsky-Hundertseiters – es geht hier vor allem um Tucholskys Beziehung zu seiner zweiten Frau Mary Gerold – bietet neuerlichen Anlass zum Lob der »Genau«-igkeit. Auf Seite 81 zitiert Raddatz nämlich ein paar Sätze aus Marys Tagebuch und notiert dazu: »Das stammt aus dem November 1920. Doch schon genau ein Jahr später, im August 1921, muß sie sich eingestehen: (…)«.
Kurz vor Ende des Buchs verlassen wir dann Tucholskys kindisches Liebesleben (FJR, S. 120: »Phallokratie«) für einen 25-seitigen Exkurs über seine Fehde mit dem nicht minder kindischen Karl Kraus, was natürlich dem Unterhaltungswert der Lektüre zuträglich ist. Für den »Great Hater« Kraus war Tucholsky eine »fünfdeutige Gestalt« und, viel schlimmer, »der Herr Tucholsky«, und er meinte dann auch: »Mit Pantern, Tigern und selbst zahmeren Haustieren werde ich bestimmt noch fertig.« Als Leser fragt man sich bei Betrachtung dieser Fiesheiten unweigerlich, was Karl Kraus wohl über Fritz J. Raddatz geschrieben hätte, aber hier spielt natürlich einmal mehr die, hehe, Gnade der späten Geburt.
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 24):
Frohes Fest mit FJR!
Hamburg, 24. Dezember 2013, 08:30 | von San Andreas
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Wir wünschen allen Fritz-J.-Raddatz-Sympathisanten ein schönes »Einzelhandelsfest, genannt Weihnachten« (Raddatz). Nach der Weihnachtspause sind wir hier ab dem 27. Dezember wieder wie gewohnt zur Stelle.
DER UMBLÄTTERER,
Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
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(Bildmotiv: Wikimedia Commons, gemeinfrei)
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 23):
»Nizza – mon amour« (2010)
Berlin, 23. Dezember 2013, 08:10 | von Göttke
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 102)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Als ich gestern Abend bei IKEA an der Kasse stand, rannte ein etwa zehnjähriges Mädchen mit französischem Zopf spontan und schnell auf ihren kleineren Bruder zu. »Ich schneck‘ dich jetzt ab!«, rief sie dabei zwei Mal. Während der kleine Junge durch die Luft flog, zauberte mir das »schneck‘ dich jetzt ab« ein Lächeln auf mein genervtes Kassen-Ansteh-Gesicht. Denn, das bringen die Fritz-J.-Raddatz-Festwochen nun einmal mit sich, mir fiel das Radiointerview zwischen Denis Scheck und Fritz J. Raddatz ein, gesendet am 30. August 2011 um 16:10 Uhr im Deutschlandfunk.
Befragt nach seiner schrecklichen Kindheit, antwortete Fritz J. Raddatz da, dass er sich »in fremde, andere Welten, in Gebäude, in Seele und Geist hineinschnecken« könne. »Wie ein Wurm sich in den Apfel hinein bohrt.« Leider weist Denis Scheck sogleich harsch und unterbrecherisch auf Raddatz‘ stellvertretende Verlagsleitertätigkeit mit Anfang 20 hin und lässt ihn das Bild vom »Sich-Hinein-Schnecken« und »Sich-Hinein-Bohren« nicht superlativisch zu Ende ausführen.
Nun gut. Auf nach Nizza. Ab in Raddatz‘ Winter-Cocoon, ins Schmetterlingsmuseum (S. 15), ins Chagall-Museum (S. 17), ins Hotel »Negresco« (S. 21). »Dabei bietet Nizza dem mußevollen Flaneur so unendlich viel Schönes, jene ›Verzückungsspitze der Welt‹«. (S. 26) »Schließlich ist die Stadt ihr eigenes Freilichtmuseum, öffnet dem Bummelnden immer neue Perspektiven.« (S. 89)
Nizza ist so ganz anders als IKEA. Und während ich mich nun in mein aufgewärmtes Essen von gestern wühle, denke ich, wie viel ugandische Schule sich wohl aus diesem schwedischen Hackklöpschen ergäbe, wenn an Raddatz‘ nizzardischer Rechenfrage: »1 Auster weniger = 4 Wochen Schule für ein Kind in Uganda« (S. 59) etwas dran wäre.
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 22):
»Mein Sylt« (2006)
Berlin, 22. Dezember 2013, 08:20 | von Papageno
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 101)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Was für ein hammermäßiger Beginn, FJR fällt wieder mal mit der Tür ins Haus: »Dinieren Möwen? Küssen Quallen? Wispern Igel?« (S. 5) Ganz klar, wer so fragt, ist ein Verfallener, einer, der vom Wunder seiner Insel geradewegs in die Metaphernhölle fährt, weg vom »Heizdeckenparadies des Billigtourismus« (S. 125) – Sylt, das ist ihm ein »schwarzes Paillettenkleid« (S. 11), Sylt, das ist ihm »ein Juwel in schimmerndem Blütensamt« (S. 11f.).
FJR nimmt sie alle mit und »innerlich gewaschen« (S. 37) kehren sie wieder: Thomas Mann, Hubert Fichte, Kurt Tucholsky, Pastor Traugott, Alexander Mitscherlich, Alfred Kantorowicz, Peter Suhrkamp, Barkeeper Karlchen, Carl Zuckmayer und die »Kreissparkassendirektoren mit zu grünen Jacken, zu blonden Zweitfrauen« (S. 24), ganz zu schweigen vom »wendischen Wettergott« (S. 107). Das Meer zieht ihnen allen »den Schmutz aus der Seele« (S. 37). »Das Meer erzählt seine Märchen« (S. 9), FJR erzählt seine Anekdoten. Unter anderem erfährt man, dass die Gemeindevertretung von Kampen Hermann Göring im Jahre 2005 die Ehrenbürgerschaft aberkannt hat (vgl. S. 63). FJR ist in »Mein Sylt« keineswegs »nur der leicht hinkende weißhaarige Alte, der in verbeulten Cordhosen in Kampen durchs Dorf schlurft« (S. 19, S. 23); er ist ein Sylt-Prediger, der »in lauter kleinen Devotionalienbildern« (S. 37) huldigt.
In FJRs Sylt-Spaziergängen kommt man vorbei am Keitumer Friedhof, an »hellgelbgrünen Weidenkätzchen« (S. 10) oder an »Uta und Armin Findeisens Ziegenkäserei« (S. 139). Der Himmel – der dem »Perlmutt einer umgestülpten Riesenmuschel« gleicht – ist ganz groß, und man denkt: Sylt ist eigentlich doch ganz okay.
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 21):
»Günter Grass. Unerbittliche Freunde« (2002)
Hamburg, 21. Dezember 2013, 08:15 | von Maltus
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 100)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Wieder einmal habe ich es nicht geschafft, frühmorgens das Hamburger Holthusenbad zu besuchen, um dort im Außenbecken Fritz J. Raddatz seine Kreise ziehen zu sehen. Klar, in einem Bad soll man Linien ziehen, sonst fängt man sich von deutschen Bademeisterinnen und ‑meistern, die darin viel mit deutschen Literaturkritikern und ‑kritikerinnen gemein haben, schnell einen Rüffel ein.
Im Vergleich jedenfalls zu den ganzen Leichtmatrosen im Außenbecken des Literaturbetriebs entspricht der Jahrhundertfeuilletonist FJR mit seinem mächtigen Bart einem Walfisch, der die See nach Krill durchsiebt und nur ab und zu noch einmal an die Wasseroberfläche steigt, um dort die gelangweilten Passagiere von Kreuzfahrtschiffen mit seinen lustigen Sprüngen zu erheitern.
Womit wir beim einzigen Thema wären, das Raddatz und Günter Grass noch verbindet: Beide sind jahrzehntelange Bartträger. Das war’s dann aber auch schon. Sie waren mal »unerbittliche Freunde«, so der schöne Untertitel, den Raddatz für seine schmale Sammlung von Texten zu Grass gefunden hat. Eine lebenslange literarische Liebe und doch, wie soll es im Literaturbetrieb anders sein, immer von Verletzlichkeiten hier, Eitelkeiten da gebrochen.
Am Ende des 2002 bei Arche erschienenen Bändchens scheint noch Hoffnung, da druckt Raddatz zwei Briefe ab: Im ersten beschwert er sich bei Grass, der ihn aus dem Hinterhalt in einem Interview als »rechtsgebeugt« (S. 137) bezeichnet habe. Raddatz tief verletzt. Grass antwortet, sich keiner Schuld bewusst. Schuld sei der Journalist. Nie käme er auf die Idee, den lieben Fritz unter dem Sammelbegriff ›rechtsgebeugt‹ in die Gesellschaft von Botho Strauß zu bringen. »Und doch bleibt am Ende ein Rest, für den ich mich nicht entschuldigen und den ich nicht erklären kann« (S. 141).
Es waren Raddatz‘ später erschienene Tagebücher, diese champagnertrunkenen Sudelbücher aus dem Literaturbetrieb, die Grass endgültig vergrätzten. Als ich ihn vor einigen Monaten interviewte, sprach er bereitwillig über alles. Nur Raddatz war ihm am Ende keine Silbe wert, der musste rausgestrichen werden.
Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 20):
»Ich habe dich anders gedacht« (2001)
Berlin, 20. Dezember 2013, 08:05 | von Göttke
(= 100-Seiten-Bücher – Teil 99)
(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)
Ich bin auf dem Weg ins LWL-Museum für Naturkunde in Münster, als ich Fritz J. Raddatz‘ »Ich habe dich anders gedacht« auslese. Am Stadtrand von Münster angelangt, betrete ich die Sonderausstellung »Sex und Evolution«, die es ebenso in sich hat wie Raddatz‘ Erzählung. Ich sehe sich paarende Igel, einen Enten-Gangbang mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang fürs Weibchen und einen halbseiten-hermaphroditischen Falter, der, genau in der Mitte geteilt, auf der einen Seite männlich und der anderen Seite weiblich ist. Den stärksten Eindruck auf mich machen jedoch die Delfine. Viele Minuten lang starre ich auf das männliche Delfinpärchen mit Genital und Blasloch über mir an der Decke.
Mein ponyhofhafter Mädchentraum zerplatzt endgültig, als mich einer der beiden mit tiefer männlicher Stimme wie folgt anspricht:
Delfin: »Träumst Du?« (S. 21)
Ich: »Ich bin eine dumme Eule« (S. 21), »ich wußte ja nichts von diesem (…) Unsinn.« (S. 61)
Delfin: »Du bist jetzt kein Kind mehr, ich muß mit dir sprechen.« (S. 61) »Ich bewundere den glatten, unbehaarten, muskulösen Körper des kleinen Mannes, er verdrängt den gemütlichen Teddy Onkel Sami aus meiner Sehnsucht.« (S. 49)
Ich: »Schluß. Es ist genug. Ich habe dich anders gedacht.« (S. 60)
Delfin: »Erwachsenwerden ist nicht mehr Spiel. Und um zu beweisen, daß wir Freunde sind, trinke ich den Weinbrand und rauche die Zigarette.« (S. 86) Denn: »Fleiß, Kameradschaft, Verantwortungsfreude – das ist das Geheimnis« (S. 81).
Zurück im Zug habe ich noch lange den Geschmack von Weinbrand und Zigarette im Mund.
Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Zürich; Hamburg: Arche 2001. S. 5–110 (= 106 Textseiten).
Fritz J. Raddatz: Ich habe dich anders gedacht. Erzählung. Berlin: List 2004.
(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)