Archiv des Themenkreises ›Raddatz-Festwochen‹


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 19):
»Süchtig nach Kunst« (1995)

Leipzig, 19. Dezember 2013, 08:25 | von Paco

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 98)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Raddatz ist nicht nur Literaturkritiker, sondern hat sich auch als professioneller Künstlerbesucher einen Namen gemacht. Einen ganzen Packen Künstlerbesuchsprotokolle, zwischen 1982 und 1992 größtenteils im »ZEITmagazin« erschienen, hat er 1995 gebündelt und unter dem Titel »Süchtig nach Kunst« herausgegeben.

Der Untertitel des Buches geht so: »Bekenntnisse zur Figuration«. Denn Raddatz hält Malewitschs schwarzes Quadrat einfach nur für ein schwarzes Quadrat. Und so besucht er Künstler, die nicht nur schwarze Quadrate geschaffen haben, sondern auch Sachen, die man versteht. Er schaut bei Francis Bacon vorbei und beschreibt dessen Tierhaftigkeit, sein »Raubvogelgesicht« (S. 17), unterhält sich mit Breyten Breytenbach (»daß er auch Maler ist, wissen wenige«, S. 29) und besucht Paul Delvaux in dessen eigenem Museum in Sint-Idesbald, wo er etwas befangen ist und nicht weiß, wie er beginnen soll: »Sagt man zu Celan ›Ich schreibe auch Gedichte‹?« (S. 44)

Renato Guttuso steht auf Raddatz’ Besuchsliste, ebenso Rudolf Hausner und Alfred Hrdlicka, die Künstlerhelden der Generation Raddatz. Der »Vater der surrealistischen Malerei« Matta bezeichnet Picasso als »einen gewöhnlichen Mann, der gerne Nasen malt« (S. 92), was Raddatz gern notiert. Wenn er sonst Erkenntnisse anderer anpumpt, sind das meistens die des Kunsthistorikers Wieland Schmied.

Michael Schoenholtz wird noch besucht und Paul Wunderlich, den Raddatz fragt, ob es eigentlich noch ein Kunstwerk Wunderlichs sei, wenn es lediglich nach seinen, Wunderlichs, Vorgaben von einem Gießer gegossen oder einer Näherin genäht wird. Wie neulich bei der Diskussion um Kippenbergers nicht von ihm selbst gemaltes »Paris Bar«-Gemälde lautet die Antwort natürlich: ja.

Wer übrigens alle Ausgaben des »ZEITmagazins« sowieso vorliegen hat, für den gibt es in diesem Sammelband trotzdem noch was Neues zu entdecken, denn das Vorwort ist, wohl überraschenderweise, »bislang unveröffentlicht« (S. 127).

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Süchtig nach Kunst. Bekenntnisse zur Figuration. Begegnungen mit Francis Bacon, Breyten Breytenbach, Paul Delvaux, Renato Guttuso, Rudolf Hausner, Alfred Hrdlicka, Matta, Michael Schoenholtz, Paul Wunderlich. Regensburg: Lindinger und Schmid 1995. S. 3–128 (= 126 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 18):
»Tucholsky. Ein Pseudonym« (1989)

Berlin, 18. Dezember 2013, 08:15 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 97)

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Der erste Satz ein Paukenschlag: »Das Lottchen heißt nicht Lottchen, Malzen nicht Malzen, Nuuna nicht Nuuna und Kurt Tucholsky nicht Kurt Tucholsky« (S. 7). Hatte man diesen Sound nicht schon mal irgendwo gehört? Ach ja richtig, der Raddatz-Hundertseiter »Heine. Ein deutsches Märchen« (1977) begann genauso: »Die Mouche hieß nicht Mouche, Mathilde nicht Mathilde, und Heinrich Heine hieß nicht Heinrich Heine.« (S. 7)

In diesem Pseudonymbuch also lüftet Fritz J. Raddatz das Geheimnis, warum Kurt Tucholsky – with all due respect und unbeschadet seiner sonstigen überragenden Leistungen auf allen anderen Gebieten – immer derart unterirdische, ja nachgerade minderbemittelte Literaturkritiken verfasst hat:

»Von Bertolt Brecht bis James Joyce hat Tucholsky große literarische Begabungen ganz früh erkannt, auch Franz Kafka oder Gottfried Benn. Befreundet war er mit keinem einzigen, die meisten kannte er persönlich gar nicht. Er hat George Grosz bewundert, Walter Mehring bejubelt, Erich Kästner reserviert respektiert, John Heartfield verehrt und Heinrich Mann hoch geachtet – mit keinem von ihnen hat er Umgang gepflegt. Brecht hat er einmal gesehen. Benn ist er flüchtig begegnet, Heinrich Mann wenige Male, den – ungeliebten – Thomas Mann sprach er ebenfalls nur ein einziges Mal (…). Erich Maria Remarque oder Ludwig Renn, Erwin Piscator oder Max Reinhardt, Friedrich Hollaender oder Hanns Eisler: nichts.« (S. 32)

Fritz J. Raddatz hingegen ist mit tout le monde bekannt und eben das verleiht seinen Kritiken ihren unermesslichen Wert. Da hält er es nämlich ganz mit Karl Kraus, der bekanntlich sagte: »Ein Gedicht ist so lange gut, bis man weiß, von wem es ist.« (Fackel Nr. 406–412, S. 131) In diesem Sinn ist Fritz J. Raddatz auch ein würdiger Preisträger des Karl Kraus-Preises 1986; vermutlich der einzige Preis in seinem Leben, den er nicht angenommen hat.

Länge des Buches: > 150.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Tucholsky, ein Pseudonym. Essay. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989. S. 3–155 (= 153 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Tucholsky, ein Pseudonym. Essay. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 17):
»Bilder einer Reise« (1989)

Leipzig, 17. Dezember 2013, 08:20 | von Marcuccio

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 96)

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»Ené, Iné, Aini, Hänne?« Die wichtigste Frage dieses Hundertseiters kommt spät, aber sie kommt: »wie (…) spricht man Heine auf italienisch aus?« (S. 95). Gute Frage. Raddatz, gerade in Bagni di Lucca angekommen, will den Genius loci finden; nur doof, wenn ihn dabei keiner versteht, weil er Heine deutsch ausspricht. Und dann passiert eine echte Pioniertat auf dem Gebiet der Völkerverständigung: Jahre bevor der erste »Lonely Planet« mit Grazie-Ausspracheanweisung erscheint, lässt Lonely Raddatz deutsche Feuilletonleser wissen, wie man Italienern erfolgreich verständlich macht, dass man über Heine parliert: Es muss klingen wie »Imi« (S. 106), das einstige Waschmittel.

Als Imi-Vertreter in Italien macht Raddatz einen großartigen Job, um nicht zu sagen: er startet den feuilletonistischen Schleuderwaschgang. Wobei: Die »›Bedeutung des tollen Lärms‹« (S. 72), die Heine in der Scala empfand, erschließt sich Raddatz bei seinem Besuch nicht so ganz: Stockhausens »Montag aus Licht« scheint ihm eine typische Montagsoper zu sein, die nichts anderes als »Spiegel-Schnippischkeit« verdient habe: »›Wird es laut, klingt es nach Orff, weicht es auf, säuselt es wie ›Cats‹.‹« (S. 72f.)

Weiteres Pointenrumpeln auf S. 90, als Raddatz aus dem Heine-Rachestück des Grafen August von Platen zitiert: Heine sei ein »Laubhüttenpetrarca«. Kurz vor Schluss, das muss jetzt schon Kalauer-Endschleudern sein, teilt uns der Imi-Experte mit: »in restauro«, »non toccare« und »chiuso« – man könne diese »Namen von Italiens drei berühmtesten Künstlern (…) bald nicht mehr hören« (S. 120).

Länge des Buches: ca. 130.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Bilder einer Reise. Heinrich Heine in Italien. Mit Fotografien von Dirk Reinartz. München; Luzern: Bucher 1989. S. 3–127 (= 125 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Bilder einer Reise. Heinrich Heine in Italien. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 203–263 (= 61 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 16):
»Die Wirklichkeit der tropischen Mythen« (1988)

Barcelona, 16. Dezember 2013, 08:05 | von Dique

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 95)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Unsere Mütter, unsere Väter, noch im Krieg geboren oder kurz danach, hat Fritz J. Raddatz ihr ganzes Leben lang begleitet, er schwebt über ihnen und ihrem kulturellen Leben wie ein Schatten, aber ein weißer weicher, gleich einer Kumuluswolke.

Unsere Generation kennt Raddatz dagegen eher aus dem Kellinghusenbad in Hamburg, in dem er regelmäßig seine Runden im Außenpool dreht und sich danach aufregt, wenn mal jemand ohne Socken in seine Bootsschuhe schlüpft oder die Chinos direkt auf der Haut trägt, weil frische Boxershorts gerade nicht zur Hand sind. Unter Hamburger Intellektuellen ist es schon seit einiger Zeit Funsport, Raddatz morgens im Kellinghusenbad aufzulauern und dann vor seinen Augen im Umkleideraum Bekleidungsverbrechen zu begehen und sich danach über die entsetzten Blicke des wunderbaren Literaturkolosses und Ästhetikers zu amüsieren.

1988 machte sich Fritz J. Raddatz auf nach Kolumbien, mit der Lufthansa und in freudiger Erregung. Er begab sich auf die Spuren von García Márquez, der »Stimme Lateinamerikas«. Bei Márquez denkt man natürlich sofort an sein Jahrhundertwerk, »Hundert Jahre Einsamkeit«, das steht auch gleich auf dem Klappentext, schon damals eine Auflage von 10 Millionen Exemplaren, so viele Exemplare sind es heute mit Sicherheit allein in der Schweiz. Zu »Hundert Jahre Einsamkeit« heißt es, dass Borges gefragt haben soll, ob es hundert Tage nicht auch getan hätten. Eine Fragestellung, mit der Borges bei Kurzbuchfana­tikern und Leseökonomen wie uns natürlich offene Türen einrennt.

Raddatz fliegt also mit der Lufthansa nach Bogotá und liegt nicht faul am Strand, von der Sonne braungebrannt (in der kolumbianischen Hauptstadt gibt’s ja auch gar keinen Strand), sondern zirkelt von dort aus durch ganz Kolumbien, immer auf den Spuren von Márquez. Während der Reise kreisen seine Gedanken um dessen Schriften. Er versucht zu ergründen und zu begreifen, hier vor Ort, an der Wiege, und so spiegelt er durch das ganze Buch hindurch seine Erlebnisse gegen Originalzitate von Márquez. Dabei sind die Ereignisse, an denen Raddatz teilhat, nur selten magisch-realistisch, sondern zumeist banal-real und würden gut in den von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Sammelband »Nie wieder! oder Die schlimmsten Reisen der Welt« passen:

»Hier tauchen leider auch Touristen auf. In Cartagena sind es unerklärlicherweise vor allem Kanadier, riesige, fahlhäutige Geschöpfe, Frauen von immensem Umfang, die sich gleich orientierungslos an Land gespülten Walen in Rudeln zwischen die tänzelnd-fragilen Kreolen, Mestizen und Neger verirrt haben. Sie werden gegen Mittag aus den ›Traumschiff‹ genannten schwimmenden Altersheimen gebaggert …« (S. 74)

Ein gutes Buch, ein schönes Buch, und wie bei so vielen Büchern dieser Reihe besticht auch dieses durch seine Länge, genau richtig dosiert, viel mehr würde ich davon nicht haben wollen.

Länge des Buches: ca. 159.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Die Wirklichkeit der tropischen Mythen. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez in Kolumbien. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. S. 3–156 (= 154 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Die Wirklichkeit der tropischen Mythen. Auf den Spuren von Gabriel García Márquez in Kolumbien. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 129–202 (= 74 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 15):
»Lügner von Beruf« (1987)

New Haven, 15. Dezember 2013, 08:20 | von Srifo

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 94)

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Keine der zwei Bibliotheken der Ostküste, die es in irgendeinem Außenmagazin haben, verlieh »Lügner von Beruf« und erst nach langem Warten kam dann ein tadelloses Exemplar aus der Regenstein Library in Chicago. Gerade um dieses Buch hatten sie sich hier nicht gerissen. Dass es einen zu dem Mann aus Robbe-Grillets »Jalousie« macht, der stets halb mit den Lamellen vor dem Fenster, halb mit dem Geschehen draußen konfrontiert wird, das wäre dem Pursuit of Happiness nicht zuträglich gewesen.

Im »Lügner von Beruf« gibt es Lamellen von langen Faulknerpassagen, verschränkt mit Raddatz’ eigenen Erlebnissen »auf den Spuren William Faulkners«. Und es ist ganz unklar, worauf man jetzt jaloux sein soll, ob auf die Faulknertexte, die man gern ganz gelesen hätte, oder auf die Raddatz-Reise, bei der man gern schon von Seite 7 an – »Der Mississippi beginnt am Pont-Neuf« – dabeigewesen wäre.

Es ist jedenfalls 1987, Baudrillard hat grade »Amérique« rausgebracht, Keanu Reeves steht kurz vor seinem breakthrough mit »Bill & Ted’s Excellent Adventure« (»History is about to be rewritten by two guys who can’t spell«) und so gonzojournalismiert Raddatz durch die Südstaaten. Vom Jardin du Luxembourg ist es nach New Orleans gegangen, weiter nach Oxford, MS, wo Faulkner liegt, davor gab es noch einen nördlichen Abstecher rüber nach Tennessee zu Presleys Graceland: »Hier wackeln gleichsam die Accessoires noch mit den Hüften, die rosa Rüschenhemden und samtenen Hös’chen und die goldene Badezimmerwaage mit Pelzbezug (viel zu klein für einen fetten Nascher).« (S. 116) Elvis ist nur dick, nicht verdrogt, die Postmoderne genießt ihr fear and loathing, vor Faulkners Grabstein angekommen nennt FJR den Nobelpreisträger einen »Hurenbock« (S. 120), was schon damals sicher so affirmativ gemeint war wie vor ein paar Tagen sein Meinungsbeitrag in der »Welt« (»Honey, are you going to the Puff tonight?«).

Länge des Buches: ca. 113.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Lügner von Beruf. Auf den Spuren William Faulkners. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 76–128 (= 53 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 14):
»Eine dritte deutsche Literatur« (1987)

Paris, 14. Dezember 2013, 08:10 | von Niwoabyl

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 93)

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Nach »Kuhauge« ist ein weiterer Fritz-J.-Raddatz-Hundertseiter Teil einer Trilogie, ganz so als hätte er endlich auf Goethes Auslassungen gegenüber Eckermann antworten wollen, der ja bekanntlich über den Mangel an guten deutschen Trilogien klagte. Allerdings steht das Buch diesmal am Ende der Trilogie, wie der Titel schon hinreichend ankündigt, und wenn es um eine »dritte« deutsche Literatur geht, bildet sie nicht nur einen Zusatz – das schärfen uns hier alle Paratexte ein –, sondern sie soll den Gegensatz von ost- und westdeutscher Literatur wunderbar hegelmäßig aufheben. Von einer derart didaktischen Sicht merkt man im Buch selbst dann erfreulicherweise wenig.

Auf dem ziemlich schmucklos und spartanisch gehaltenen Rowohlt-Taschenbuch steht auch noch, hier seien »statt zierlicher Akzente heftige Thesen« zu erwarten. Aber mehr als die versprochene Heftigkeit, die sich mir nicht ganz erschlossen hat, gefiel mir, wie Raddatz seine kleine Sammlung kritischer Essays zu einer mosaikartigen Collage von Zitaten, Anspielungen und literatur- sowie zeitkritischen Analysen macht, die ganz ohne Unterteilungen, Kapitel oder gar Kapitelüberschriften auskommt. Hier wird Literatur- und Geistesgeschichte im Kempowskimodus praktiziert. Überall nur fließende Übergänge, von Robert Wilson zu Peter Stein, von Peter Stein zu Botho Strauß, von Botho Strauß zu Peter Handke, bis wir endlich über verschlungene Wege (Schütz, Schleef, Kunert, Kronauer, Christa Wolf, Manfred Frank) bei Martin Walser glücklich die Lektüre abschließen dürfen. Dass Raddatz in diesem Buch nicht vollständig auf Anführungszeichen verzichtet, ist in dieser Hinsicht fast zu bedauern.

Länge des Buches: ca. 251.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Eine dritte deutsche Literatur. Stichworte zu Texten der Gegenwart. (= Zur deutschen Literatur der Zeit. Band 3.) Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1987. S. 3–125 (= 123 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 13):
»Pyrenäenreise im Herbst« (1985)

Berlin, 13. Dezember 2013, 08:10 | von Cetrois

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 92)

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Sehr pragmatisch findet man Fritz J. Raddatz’ »Pyrenäenreise im Herbst« im Regal der Kreuzberger Amerika-Gedenkbibliothek eingeordnet zwischen dem Vorbild von 1927, Kurt Tucholskys »Pyrenäenbuch«, und Jürgen Engels »Mit dem Wohnmobil durch die Pyrenäen«, das 2007 bereits in dritter Auflage erschienen ist. Engel verspricht im Klappentext »Burgen, Gletscher, Höhlen und Schluchten« und, etwas mysteriös, »genaue Hinweise auf Ver- und Entsorgungs­möglichkeiten«; Raddatz verspricht im Untertitel eine Reise »auf den Spuren Kurt Tucholskys«.

Indes muss er, um dieses Versprechen einzulösen, sich gleich zu Anfang ein wenig sputen, denn während Tucholsky schon zum Stierkampf in Bayonne weilt, beginnt Raddatz’ Roadtrip, spätsommer­lich elegisch, natürlich auf Sylt. Und während Tucholsky sich aus den Absurditäten des Pass- und Grenzregimes zu einer ätzenden Kritik des Nationalstaats als Ersatzreligion aufschwingt, ist Raddatz erst einmal froh, dass die »Säsong« vorbei ist, in der »die Düsseldorfer Gebrauchtwagenhändler Grillparties mit Sekkkt feiern« (S. 9).

Allein, vor den geschmacklichen Todsünden der nouveaux riches aller Epochen ist Raddatz auch im französisch-spanischen Baskenborder­land nicht gefeit. Was ihn dann immer wieder, und besonders bei der Besichtigung von Heinrichs IV. Château de Pau, schockiert: der frappante »Unterschied der ästhetischen Sensibilität« (S. 13) – zwischen seiner und der Tucholskys nämlich, dem es in Pau offenbar gar nicht schlecht gefiel. Vor allem aber plagt Raddatz »das eisern durchgehaltene Ritual« der Franzosen: »zwei Stunden Mittagessen« (S. 55) – eine Raddatz verhasste Mahlzeit, die in seinem eigenen, delikat ritualisierten Tagesablauf niemals vorkommt, ja, die er nach eigenem Bekunden (zuletzt im großen Stil-Interview in der FAZ) nicht einmal kennt.

Länge des Buches: ca. 142.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985. S. 3–122 (= 120 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Pyrenäenreise im Herbst. Auf den Spuren Kurt Tucholskys. In: Unterwegs. Literarische Reiseessays. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1991. S. 7–75 (= 69 Textseiten).

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 12):
»Kuhauge« (1984)

Jena, 12. Dezember 2013, 08:05 | von Montúfar

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 91)

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»Kuhauge« ist der erste Teil der Trilogie »Eine Erziehung in Deutschland«. Und das Bildungsromaneske ist nur die eine Seite dieses furiosen Buches, die andere ist die erschütternde Darstellung einer verhinderten Jugend während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Beides wird so genial miteinander verquickt, dass man meinen könnte, die Erzählung stamme von Johann Wolfgang Koeppen.

Kuhauge ist aber auch der Spitzname des Helden, der nur entfernt etwas mit seinem Verfasser zu tun hat, denn obwohl er 1931 in Berlin geboren wird usw., steht seine Mittelinitiale nicht für Joachim, sondern für »Jörn«: Bernd Jörn Walther. Dieser nun leidet zwar an »Nervosi­tätsschnupfen« (S. 13), meistert aber alle Widrigkeiten in seiner Familie und im Krieg. Als er wegen der zunehmenden Bombardierung Berlins zu Bekannten nach Görlitz muss, einem Oberst a. D. und dessen Gattin, fallen seine Lateinstudien trotzdem nicht aus.

Wenn nach dem Essen der Terrier namens Stalingrad die nackten Füße seines Herrchens begattet, brütet Bernd über der Passivform von »amare«, mit Erfolg: »Als Stalingrad erloschen war, nahm der Oberst a. D. Bauschan ein altes Küchenhandtuch, und Bernd fiel es ein: ›amatur‹.« (S. 41) So entdeckt der Junge am Ende der Erzählung seine Geistigkeit und seine Körperlichkeit und stürzt sich genussvoll in beide. Die letzte Szene wird nicht verraten. Aber der erste Satz ist so wunderschön, dass er hier zitiert werden muss: »›Das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut, das Suppenhuhn hat Trompetengold geklaut‹ – Koboldbösartigkeit überglitzerte die Kinderstimme des zehnjährigen Bernd.« (S. 7)

Länge des Buches: ca. 187.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Kuhauge. Erzählung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1984. S. 5–123 (= 119 Textseiten).

Fritz J. Raddatz: Kuhauge. Erzählung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989.

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Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 11):
»Warum« (1982)

Berlin, 11. Dezember 2013, 08:00 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 90)

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Diese Kolumne, die über ein Jahr lang in einer renommierten Hamburger Wochenzeitung erschien, begann immer mit dem W-Wort »Warum«; doch wollte Raddatz hier die dargebotenen Fragen nicht eigentlich beantworten, sondern nur stellen, in seinem ganz eigenen kulturkritisch-ironischen Stil, dessen Ironie er oft so ausnehmend gut verborgen hat, dass nur er selbst sie zu finden in der Lage ist: »Warum ergötzen Menschen sich so lustvoll am Unglück anderer?« (S. 32) »Warum drängeln Menschen sich vor, auch dort, wo es gar keinen Sinn gibt?« (S. 40) »Warum betrügen Menschen – sich oder andere?« (S. 44) »Warum lassen Menschen neuerdings Konventionen so leicht außer acht?« (S. 62) »Warum gehen Menschen auseinander, die ihren Weg gemeinsam gehen wollten?« (S. 64) »Warum scheuen Menschen sich, den eigenen Tod in ihr Leben mit einzudenken?« (S. 68) »Warum haben Menschen so weitgehend die Fähigkeit zur Anteilnahme verloren, zu Erbarmen – gar Barmherzigkeit?« (S. 116) »Warum scheuen Menschen Verantwortung?« (S. 122)

Hier schrieb der Girolamo Savonarola des 20. Jahrhunderts, ja mehr noch, hier schrieb der Peter Hahne des 20. Jahrhunderts; immer auf dem hohen stilistischen Niveau einer oberkonsistorialrätlichen Gewissenserforschung. Hans Magnus Enzensberger, so berichtet Fritz J. Raddatz im Nachklapp, habe diese Kolumne »eine der amüsantesten Rubriken der ZEIT« (S. 133f.) genannt, und Irenäus Eibl-Eibesfeldt habe »einen kleinen Widerlegungsessay« geschickt, »auf imposantem Briefbogen« (S. 134). Schade, dass dieser Widerlegungsessay nicht mit abgedruckt ist; man wüsste doch gerne, wie etwa die seit jeher unwiderlegbar richtige Beobachtung, dass Menschen neuerdings Konventionen so leicht außer acht lassen, widerlegt worden sein soll.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Warum. Frage-Geschichten aus der ZEIT. Mit Zeichnungen von Hans-Georg Rauch. Hamburg: Hoffmann und Campe 1982. S. 5–136 (= 132 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)


Die großen Fritz-J.-Raddatz-Festwochen (Tag 10):
»Das Tage-Buch« (1981)

Düsseldorf, 10. Dezember 2013, 08:10 | von Luisa

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 89)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Neulich erzählte FJR in der LW, wie sehr er den Baron de Charlus bewundere, seines unfehlbaren Geschmacks wegen. Wem käme da nicht gleich das ebenso elegante wie unauffällige complet in den Sinn, in dem der Baron in Balbec vor die Leser tritt? Jedoch: »Ein dunkelgrüner Faden im Gewebe des Hosenstoffs war (…) auf das Streifenmuster der Strümpfe mit einem Raffinement abgestimmt, das deutlich eine sonst überall bezähmte Neigung verriet«. Eine eingewebte Enthüllung also, ein dezentes Fadenverrätertum, das Marcel natürlich sofort entdeckte.

Da der Sinn für solche Feinheiten inzwischen ausgestorben ist, konnte FJR bei seinem großen Fernsehauftritt mit Peter Voss bedenkenlos rote Socken tragen. Ob er damit etwas verriet, weiß ich nicht. Die dunkelgrünen, kaschierten Leinenfäden des 78-Seiters »Das Tage-Buch« signalisieren jedenfalls Seriosität, und die ist, im Gegensatz zu FJRs lärmend-losem 938-Seiter »Tagebücher«, tatsächlich die Grundlage dieser kleinen Schrift. »Das Tage-Buch« war eine 1920 gegründete Zeitschrift, deren Herausgeber und Autor Leopold Schwarzschild nach Paris und später in die USA fliehen musste. Schwarzschilds Artikel und Urteile waren klarsichtig, Thomas Mann und andere Schriftsteller publizierten dort, trotzdem ist die Zeitschrift längst nicht so berühmt geworden wie Ossietzkys »Weltbühne«. FJR erinnert an sie, zitiert und huldigt, und dafür soll er gepriesen sein auch dann noch, wenn Socken und Sottisen längst dahin sind.

Länge des Buches: > 100.000 Zeichen. – Ausgaben:

Fritz J. Raddatz: Das Tage-Buch. Porträt einer Zeitschrift. Königstein (Ts.): Athenäum 1981. S. 3–78 (= 76 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)