Archiv des Themenkreises ›S-Zeitung‹


Post von Eckhart

Amsterdam, 22. August 2018, 20:02 | von Charlemagne

Meine früheste Erinnerung an die Halbwelt des Feuilletons, diesen popkulturellen Maulwurfsbau ohne Fluchtwege, ist eine Beauty-Kolumne im SZ-Magazin. Freitags, auf dem Weg zur Schule, hielt mein Papa immer am Bahnhof, um Presserzeugnisse für uns zu kaufen. Für ihn das Handelsblatt, für mich die Süddeutsche Zeitung. Anstatt übertrieben viel Zeit mit dem Streiflicht oder der Seite Drei zu verschwenden, blätterte ich immer sofort das Magazin auf, von hinten nach vorn, vorbei an Axel Hacke, auf der Suche nach neuen Texten von Eckhart Nickel.

Die Texte handelten häufig von relativ obskuren Pflegeprodukten, zum Beispiel von amerikanischen Rasiercremes, englischer Seife oder japanischer Hautcreme, und bedeuteten die Welt für mich. Sie waren nie besonders lang, hatten aber weitreichende Folgen. Da es die meisten Produkte damals nicht im stationären Einzelhandel zu kaufen gab, musste ich sie umständlich bestellen. Das hatte, neben einem chronisch leeren Sparkonto, auch zahlreiche Ausflüge aufs Amt zur Folge, um bunt beschriftete Pakete aus Übersee aus dem Zoll zu befreien.

Gleichzeitig stellten diese Texte mich aber vor eine noch viel größere Frage: Wer ist denn eigentlich dieser Autor, der so wahnsinnig schön über diese vermeintlich so oberflächlichen Produkte schreiben kann, und warum bedeuten sie mir so viel mehr als sämtliche Texte, die ich im langweiligen Deutsch-Leistungskurs bearbeiten muss? Im Internet gab es nur wenige Hinweise, aber immerhin die Möglichkeit, das Magazin DER FREUND zu kontaktieren (pоst@dеrfrеund.cоm), für das er als Chefredakteur mit Sitz in Kathmandu, Nepal, genannt wurde.

Also schrieb ich hin. Eine Ewigkeit hörte ich nichts und las weiter in seinem Buch über Thomas Bernhard, jetzt allerdings nach japanischen Kirschblüten duftend. Dann tauchte plötzlich eines Tages der kleine Briefumschlag unten rechts in der Menüleiste auf, Post aus Nepal. Der aus dieser naiven initialen Kontaktaufnahme entstandene E-Mail-Austausch war zunächst recht sporadisch; doch nach und nach schrieben wir uns immer häufiger, tauschten auf myspace Lieblingslieder aus oder schickten uns unsere YouTube-Lieblingsausschnitte aus Twin Peaks hin und her. Dieser Austausch gipfelte dann während meines Studiums in Bamberg in einem ersten Treffen, wir trafen uns nachmittags auf einen Kaffee und wunderten uns, glaube ich, ein bisschen über unser Gegenüber, er bestimmt mehr als ich, und wahrscheinlich ist das bis heute noch so.

Während er abends dann aus seinem bis heute unveröffentlichten Roman »Die Wespe« vorlas, stolperte gegen Ende der Veranstaltung unverhofft Christian Kracht als Überraschungsgast in den spärlich besetzten Saal, sein Zug aus München hatte Verspätung gehabt. Zu meiner großen Verwunderung wusste keiner der anderen anwesenden Studenten des Seminars zur sogenannten Deutschen Gegenwartsliteratur, in das ich mich anlässlich der Lesung eingeschlichen hatte, wer da gerade in den Raum hereingeschneit war. Noch seltsamer war nur, dass Christian Kracht, zumindest an diesem Abend, sehr genau wusste, wer ich war, nämlich Eckhart Nickels »pen pal«, wie er, typisch höflich verschmitzt und leicht maliziös lächelnd, treffend bemerkte. Eine Brieffreundschaft ohne Briefe sozusagen, ganz lose und unbekümmert, und so ging sie auch immer weiter, nur »Die Wespe« erschien nie.

Bis gestern, da endete das alles ganz unvorhergesehen, da ich, nach mehr als zehn Jahren, zum ersten Mal tatsächlich Post von meinem pen pal im Briefkasten hatte. Er stand dabei nicht einmal als Absender auf dem Umschlag, ich hatte also zunächst noch keine Ahnung von dieser Zäsur, dieser Epochenwende. Die Sendung kam vom Piper Verlag, aus München: brauner Umschlag, mitteldick. Zu meiner großen Überraschung fand ich darin ein Arbeitsexemplar seines neuen Romans, »Hysteria«, und ich freue mich seitdem wie verrückt auf die Lektüre und bin ganz gespannt, ob es auch um Wespen gehen wird.
 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2015

Buenos Aires, 12. Januar 2016, 14:10 | von Paco

»I told you last time it was the last time.«
(Michael Dudikoff, »American Ninja 4«)

Lo and behold! Nach der runden 10. Verleihung unseres Feuilletonpreises »Goldener Maulwurf« im letzten Jahr sollte ja eigentlich Schluss sein. Aber wie bei abgelaufenen britischen Staffeln oder Serien auch immer noch so eine Weihnachtsfolge nachkommt, gibt es hier noch einen 11. Goldenen Maulwurf, und zwar mit allem üblichen Tsching­de­ras­sa­bum! Die Wahrheit ist aber, dass das deutschsprachige Feuilleton des abgelaufenen Jahres 2015 wieder so skandalös gut war, eben immer noch das beste der Welt, dass wir nicht umhin kamen, wieder unseren Goldpokal springen zu lassen. Und der wurde diesmal sogar charakterstark redesignt und sieht so aus (tausend Dank an Ruth!):

Der 11. Goldene Maulwurf

Nicht nur, weil in Buenos Aires grad Hochsommer ist, herrschte wieder allerbeste Laune bei den Jurysitzungen. Und diesmal war die Bestimmung des Gewinners oder der Gewinnerin des 11. und endgültig letzten Maulwurfsgoldes intern auch nicht so umstritten wie in den Jahren zuvor. Nun: Der Gewinner und letzte Preisträger ist: Fabian Wolff. *tsching­de­ras­sa­bumbumbum* Sein zur Jahresmitte auf »ZEIT Online« erschienener Artikel »Oh, Tolstoi ist im Fernsehen« über und gegen den TV-Serien-Hype des Bildungsbürgertums ist ein solcher Wahnsinnshammertext.

Die anderen Texte sind natürlich auch Gold (und wie immer angeblich nicht gerankt, hehe), hier also die vollständigen Feuilleton-Charts mit den 10 besten Artikeln aus den Feuilletons des Jahres 2015:

1. Fabian Wolff (Zeit)
2. Katharina Link (stern)
3. Katja Lange-Müller (SZ-Magazin)
4. Jan Böhmermann / Andreas Rosenfelder (Facebook / Welt)
5. Regina von Flemming (Russkij Pioner)
6. Peer Schmitt (junge Welt)
7. Clemens Setz (SZ)
8. Andreas Platthaus (FAZ)
9. Botho Strauß (Spiegel)
10. Stephan Hebel (FR)

Ihr könnt auch gleich auf die ganze Seite mit den Laudationes klicken. (Die Schlussredaktion lag bei Josik und mir.)

Und nun ist es also endgültig vorbei mit den goldgewandeten Maulwürfen, jippie! Anlässlich des Feuilletonjahrs 2005 nahm der Golden Mole mit einem Stephan seinen Anfang (der Siegertext von damals ist immer noch superst zu lesen). Und nun nimmt er mit einem Stephan sein Ende, Kreis geschlossen. Demnächst kommt noch ein bisschen mehr Feuilletonstatistik nach.

Para siempre jamás,
Paco
im Auftrag des
–Consortii Feuilletonorum Insaniaeque–
 


Die neuen Feuilletons

Berlin, 7. November 2015, 09:55 | von Paco

Wir kamen natürlich grad aus dem Fitnessstudio und sprangen endlich wieder auf allen Satellitenbildern als pulsierende Punkte durch Neukölln. Gleich im nächstbesten Laden tranken wir ein salziges Lassi und da fiel uns ein, dass wir ja in die »Merkur«-Redaktion eingeladen waren. Das hatte spontan der Untote Ostgote vermittelt, also rein in die Ringbahn und ab nach Charlottenburg.

Man schrieb Mittwoch, es war der Tag, an dem in der »Süddeutschen« eine Rezension zu Alban Nikolai Herbsts »Traumschiff«-Roman erschienen war. Wie gebannt hatte ich nicht die Rezension selber gelesen, sondern alles, was ANH dazu zu kommentieren hatte. Sein praktisch tägliches Arbeitsjournal ist mit das Beste, was zur Zeit an deutscher Literatur entsteht, aber das weiß jetzt logischerweise noch niemand.

Auch ich hatte das Journal die letzten paar Jahre etwas aus den Augen verloren, bis ich neulich die schöne Dissertation von Innokentij Kreknin komplett durchlas, »Poetiken des Selbst«, wo es neben Rainald Goetz und Joachim Lottmann auch um ANH und sein Weblog »Die Dschungel« geht.

Der schönste Satz zum zweiten der genannten Autoren steht übrigens auf Seite 5 der Dissertation und lautet: »Zu Joachim Lottmann existiert außer einem Aufsatz von Heinz Drügh überhaupt keine nennenswerte Forschungsliteratur.« (siehe Google Books) Na gut, die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zu Lottmann hat sich durch Kreknin nun auf zwei erhöht, Tendenz steigend.

Wir waren jetzt doch zu früh dran, spazierten ultralangsam um den Lietzensee herum, und genauso ultralangsam verging die Zeit, weswegen wir noch kurz ins Café Manstein hineingingen. Da gibt es auch Zeitungen, ich las dann in der SZ doch noch die Originalkritik zu ANHs »Traumschiff«, geschrieben hat sie Insa Wilke, aha, nicht schlecht, wirklich nicht schlecht.

Nun war es aber Zeit, ein 15-minütiger Spaziergang lag noch vor uns, und wir passierten dabei auch die Suarezstraße. Ohne es schon zu wissen (»little did we know«), gab der Straßenname dann gleich ein Thema unseres Treffens vor. Nach einer kleinen Privatführung durch die urschöne »Merkur«-Redaktion gingen wir zusammen mit Christian Demand und Ekkehard Knörer rüber ins Haus der hundert Biere und um uns herum saßen an jedem anderen Tisch die sprichwörtlichen Drei Damen vom Grill, so ist das hier und so ist es exakt gut. Und irgendwann kamen wir nämlich auf Suárez zu sprechen, und zwar auf Luis, und zwar auf den 2. Juli 2010 und die letzte Spielsekunde im WM-Viertelfinale, diese weltgeschichtliche Szene voller Drastik und Spannung, dieses Brennglas ethischer Kernfragen des menschlichen Daseins.

Dann ging es noch um das neue Feuilleton der NZZ, das neue Feuilleton der FAZ und überhaupt die neuen Feuilletons aller anderen Zeitungen, und es war einfach ein sehr herrliches Treffen, und besonders mit @knoerer verbindet uns ja ein gegenseitiges Gutfinden, das auf immer komplett gegenteiligen Meinungen beruht, außer eben, wenn es um die Suáreztat geht, denn da herrschte schon stets triste Einmütigkeit.

Später waren wir wieder allein unterwegs nach Kreuzberg und trafen noch Marcuccio im internationalen Restaurant Kuchenkaiser. Die besten Anekdoten der Frankfurter Buchmesse machten noch mal die Runde, Essen und Trinken wurde gereicht, wir bestätigten uns noch mal, wie gut wir alle die erste Sendung des neuen »Literarischen Quartetts« fanden usw. usw., und dann war es Zeit zu gehen und wir verabredeten uns für den nächsten Tag wieder im Fitnessstudio, denn dort ist es doch immer so absolut super.
 


Tex Rubinowitz, der Guttenberg des Feuilletons

St. Petersburg, 1. Februar 2015, 20:13 | von Paco

Also eigentlich fanden wir Tex Rubinowitz immer ganz okay, schon seit er damals in diesem Linklater-Film auf einer Wiener Brücke herumstand, schön! Und letztes Jahr hat er den Ingeborg-Bachmann-Preis abgeräumt, auch super!

Rubinowitz ist ansonsten auch ein fleißiger Leser des »Umblätterers«. Und zwar wissen wir das deshalb so genau, weil er kürzlich mit der großen copy&paste-Schere durch unser Archiv vossianischer Antonomasien gegangen ist und aus unserem Material einen Artikel zusammengeschrie­ben hat, der dann letzten Freitag im SZ-Magazin drinstand (»Der Mozart unter den Texten«: Teil 1Teil 2).

Seit 2009 sammeln wir hier Best-of-Material zum Thema und haben auch selbst erst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen längeren Essay zum Thema abgeliefert (»Jeder kann Napoleon sein«, Ausgabe vom 21. Dezember 2014, Seite 34). Und eigentlich finden wir es per se gut, wenn jemand was zu unserem Lieblingsthema ›Vossianische Antonoma­sien‹ bringt. Es wäre aber wahrscheinlich doch besser, wenn ein neuer Artikel zum Thema nicht nur unser altes Zeug klaut und dann nicht mal ordentlich journalistisch preisgibt, wer die ganzen höhö-Zitate zusammengestellt hat.

Damit das SZ-Magazin die Quellen nachliefern kann, hier mal der Überblick des Rubinowitz’schen Raubzugs. Alles in order of appearance mit Link in unsere Sammlung. Gezählt werden natürlich nur die geklauten Vossantos, nicht die paar, die Tex Rubinowitz sich dann doch woanders her geholt hat oder sich überraschenderweise selbst ausdenken konnte:

  1. der Woody Allen des Barock (VA 88)
  2. der Heino der [deutschen] Literatur (VA 45)
  3. der Brad Pitt des Saarlands (VA 37)
  4. der Mozart des Schachs (VA 35)
  5. der Mozart der Massenproteste (VA 21)
  6. der Mozart des 100-Meter-Laufens (VA 7)
  7. der Mozart der Theologie (VA 62)
  8. der Boris Entrup der Kuhpflege (VA 75)
  9. der Newton des Grashalms (VA 63)
  10. der Lionel Messi der Grill-Modelle (VA 74)
  11. der Günter Grass der Friseure (VA 30)
  12. die Leni Riefenstahl der Volksbefragung (VA 76)
  13. der Homer der Insekten (VA 24)
  14. der Justin Bieber der Kreidezeit (VA 22)
  15. der Helmut Kohl unter den Brotaufstrichen (VA 21)
  16. die bretonische Kuh der Literatur (VA 19)
  17. der Jon Bon Jovi der Schwabenschlichter (VA 18)
  18. die Nana Mouskouri der Inneren Sicherheit (VA 17)
  19. der Mount Everest der Masturbation (VA 16)
  20. die Tuberkulose des Digitalzeitalters (VA 11)
  21. der Porsche Cayenne unter den Schuhen (VA 8)

Tex Rubinowitz, der eifrigste Leser, den wir haben! Er hat sich wirklich sehr systematisch durch unsere Listen geklickt. Copy&paste hat er (hier noch mal geordnet) bei den Folgen 7, 8, 11, 16, 17, 18, 19, 21 (2×), 22, 24, 30, 35, 37, 45, 62, 63, 74, 75, 76, 88 gemacht. Und woher hat Rubinowitz das ganze Zeug noch mal: »das stand alles genauso in der Zeitung oder online«. Ziemlich dreiste Quellenverschleierung à la Guttenberg, ein besonders schöner Fall von »Quelle: Internet«. Rubinowitz gibt den lustigen Zitatearrangierer, sein Artikel besteht aber im Kern aus von uns über 5,5 Jahre kuratiertem Material. Unsere Sammlung macht quasi den halben Text aus.

Im Beitext des SZ-Magazins steht noch, dass sich Tex Rubinowitz grämt, noch nie vossianisch belegt worden zu sein, er warte »sehnsüchtig darauf, dass man ihn mit irgendwem vergleicht«. Easy!

So ist Tex Rubinowitz nun hochoffiziell und für alle Zeiten der Guttenberg des Feuilletons.
 


Zur FAS vom 21. September 2014:
Besuch in der Redaktion!

Berlin, 26. September 2014, 19:07 | von Paco

Wir saßen oben in der Kantine vom Deutschlandradio Kultur am Hans-Rosenthal-Platz, es gab einmal Pommes Weltkrieg für alle (Ketchup, Mayo, Senf) und Göttke sagte, dass ihr schlecht werde vom SZ lesen. Also jetzt nicht schlecht wegen der Inhalte oder Schreibe, sondern wegen der kleinen Schrift und dem geringen Durchschuss, das ergebe so Moiré-Effekte beim Draufkucken und davon werde ihr eben schlecht und deshalb lese sie wieder mehr FAZ im Besonderen und die FAS im Speziellen.

Diese Einzelmeinung ließen wir alle nicht unkommentiert und sprachen dann doch auch weiter über die SZ und da jetzt auch über Nico Fried, denn der schreibt doch super Sachen in letzter Zeit und wahrscheinlich auch schon davor, und Montúfar meinte, er wolle bald einen schwärmerischen Aufsatz über Nico Fried verfassen, und darauf müssen wir nun eben warten.

Eigentlich wollte ich aber etwas anderes erzählen. Nämlich ich war am Wochenende auf eine Hochzeit in Weimar eingeladen, Weimar-Blankenese sozusagen, und in der Zubringerregionalbahn hatte nun wiederum ich mal wieder zwei Stunden Zeit, das FAS-Feuilleton als integralen Gesamttext komplett zu textminen. Wobei ich in dieser Bahn aus Platzgründen neben einer stark tätowierten Internetbloggerin sitzen musste, die auf ihrem 18"-Laptop Blogeinträge las, die sie für den Offlinegebrauch gespeichert hatte und nun einzeln in den Firefox reinlud. Die nicht geladenen Grafiken und JavaScripte erzeugten diese typischen Fehlerartefakte, bei deren Anblick man sofort erschrickt, weil man denkt, dass plötzlich das Internet wieder abgeschafft wurde, und ich musste aber auch aus beruflichen Gründen ständig wieder heimlich auf ihren Screen lugen und versuchte dabei, ihre verschiedenen Special Interests zu erraten.

Nach einer Weile schlug ich dann doch lieber vorsichtig die FAS auf. Das ging trotz der Kleinraumbüroatmosphäre ganz gut und dann ging es auch für mich los. Und passenderweise wurden Josik und ich gerade für diese Woche in die Berliner Mittelstraße eingeladen, um bei der FAS Blattkritik zu üben, also umkreiste ich auch Stellen mit einem Stift, den mir die Internetbloggerin dankenswerterweise auslieh. Inzwischen schaute sie auch rüber zu mir und freute sich so über die Bilder in der FAS, dass ich ihr am Ende die Zeitung einfach komplett und inklusive meiner weiträumigen Anstreichungen da ließ. Die maßgeblichen Stellen hatten sich sowieso in mein Hirn gebrannt.

Tigersprung von 99423 Weimar nach 10117 Berlin und in die Mittelstraße 2–4. Am Fahrstuhl, mit dem man dort nach oben und später wieder nach unten fährt, erwartete uns Volker Weidermann. Und das ist das Schöne, dass man gleich zum Beispiel begeistert über die dreibändige Ausgabe des Briefwechsels zwischen Rudolf und Marie Luise Borchardt reden kann. Dies ist ein guter Ort, dachte ich sofort, im selben Tonfall dachte ich das, wie Joachim Gauck einmal sagte: »Dies ist ein gutes Deutschland.«

Und so ging es weiter, zumindest am Anfang der Redaktionssitzung. Claudius Seidl äußerte sich angenehm aufgebracht zur angeblich letzten Raddatz-Kolumne in der »Literarischen Welt« und verriet uns dann noch die geheimen Entstehungsbedingungen der »Suada« (vgl. »Die Suada der FAS ist so was wie Der Umblätterer in gut.«), die natürlich wieder in der aufkommenden Buchmessenbeilage erscheinen wird. Dann lachten wir mit Cord Riechelmann über eine Stelle aus der Wochenzeitung »der Freitag«, über die wir bald noch Näheres berichten werden. Und dann wurden wir gebeten, Blattkritik zu üben, und da Claudius Seidl ein Exemplar des aktuellen Feuilletons via Volker Weidermann und Harald Staun zu mir spielte, war ich nun dran, und das klang ungefähr so:

Okay, der Opener, Helene Hegemann über »Romeo & Julia« am Hamburger Thalia Theater mit der boah-ey-Überschrift: »Warum haut mich dieser Abend so um?« Als Nächstes schreibt die Hegemannfrau wahrscheinlich für heftig.co, aber das soll gar nicht kritisch gemeint sein, denn das liest sich trotzdem schön weg, und wenn die Textstelle kommt »Fortsetzung auf Seite 42«, dann liest man sofort am angegebenen Ort weiter!

Auf Feuilletonseite 2 hier dann also Harald Stauns Interview mit diesen vier ost-west-südlichen Schriftstellern: mit Junot Díaz, Pankaj Mishra, Priya Basil und Dinaw Mengestu, von denen Ersterer den längsten Wikipedia-Artikel hat. Es geht in dem Zehn-Augen-Gespräch ja um den Westen, meinen und deinen Westen, um den problematischen Ruf dieser kapitalistischen Himmelsrichtung, na ja, aber super.

Dann nächste Seite Andreas Kilb über Christian Petzolds »Phoenix«, super. Und Volker Weidermann über Botho Strauß‘ neuen Hundertseiter »Herkunft«, in dem es so offen um dessen Vater zu gehen scheint, dass man sich wie ein »Leser-Stalker« vorkomme, super. Und Antonia Baum über Celo & Abdi, ähnlich angelegt wie neulich Olli Schulz‘ Besuch bei Haftbefehl, aber in der poetischen Ausführung viel besser als Schulz.

(Antonia Baum hat auch mal eine Reportage gemacht: »Der Kampf gegen Paco«, deswegen wollte ich mit meinem Lob vorsichtig sein, konnte dann aber nicht mehr an mich halten.)

Weiter, Boris Pofallas Bericht von der Berlin Art Week, genau so muss so was klingen, das konkrete Ungefähre so eines Rundgangs summt an jeder Stelle aus dem Text, super. Und ich hab dann sogar die Anzeigen-Sonderveröffentlichung mitgelesen, wo hier ein Interview drin ist über Selfpublishing, mit Wolfgang Tischer, den ich noch von ganz früher kenne, Neunziger, Mailingliste Netzliteratur. Oh, hab ich da gedacht, aha. Dann hier Julia Enckes Interview mit Ulrich Raulff über die Siebziger, und alles, was Raulff da so gesagt hat, hat sich aufs Schönste mit all dem vermischt, was ich während der letzten 15 oder so Jahre noch so alles von Raulff gelesen und gehört habe.

Dann Cord Riechelmanns Text über die jüngsten Bewegtbilder von Michel Houellebecq, wo ja der schöne Satz drinsteht: »In Frankreich hat man einfach mehr Erfahrungen im Umgang mit den derangierten Körpern von Intellektuellen.«

(Und ich erwähnte noch das Tom-Schilling-Interview von Julia Schaaf, das aber im Ressort »Leben« stattgefunden hat. Jedenfalls lässt dort der bekannte Schauspieler seinem Hass auf Comics jeglicher Art freien Lauf, was auch sofort eine DPA-Meldung nach sich zog, super.)

Und jedenfalls lobten und affirmierten wir, wie es der Grundsatz des Umblätterers immer gewesen ist, und dann waren wir fertig und alle konsterniert. Das war wahrscheinlich keine Blattkritik, sondern eine Blattaffirmation.

Und wo Danilo Scholz neulich in Sachen FAS schrieb: »Der Sommer ist vorbei, das tut dem Feuilleton gut«, da müssen wir natürlich widersprechen, denn wie der Umblätterer ja seit Jahren nachweist, ist das deutschsprachige Feuilleton immer genau gleich gut. Aber das half jetzt hier niemandem weiter, und die Ödön-von-Horváth’sche Stille, die da eintrat, wurde dankenswerterweise irgendwann durchbrochen, als Johanna Adorján souverän das Thema wechselte und Josik fragte, ob er aus dem Kosovo stammt (was ich selbst seit langem vermute).

Und da wir anlässlich der Fernsehprogrammseite nach Stefan Niggemeier gefragt hatten, wurde uns noch angeboten, ihm etwas auszurichten, was wir aber sofort und unmissverständlich ablehnten. »Richten Sie bitte Stefan Niggemeier nichts aus!« Das sollte wie die Sympathiebekundung klingen, als die sie gemeint war, denn wieso sollte man jemanden, den man so gut findet, mit ausgerichteten Nachrichten nerven wollen. Es kam aber möglicherweise sehr falsch rüber.

Also, um das alles mal zusammenzufassen: Ich glaube nicht, dass wir jemals wieder zu einer FAS-Redaktionssitzung eingeladen werden.
 


Lyrik gegen Medien!

Berlin, 18. Juli 2014, 09:21 | von Josik

Der Endreim ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Die »Süddeutsche« und andere seriöse Zeitungen kolportieren derzeit ein Gedicht, das u. a. die folgenden Strophen enthält (Schreibweise behutsam verändert):

»FAZ« und »Tagesspiegel«?
Lieber kauf’ ich mir ’nen Igel!

»Taz« und »Rundschau«, ARD?
Hm, Moment, ich sage: Nee!

»Bild« oder »SZ« genehm?
Wie spät *ist* es? Ich muss geh’n!

Der Daumen, der nach unten zeigt,
der trifft bei mir auf Heiterkeit.

Viele andere Medien dürften sich aufgrund der Tatsache, dass sie in diesem Gedicht gar nicht erst erwähnt werden, erheblich düpiert fühlen. Um die Gefühle dieser Medien nicht zu verletzen, wird das Gedicht im folgenden lose weitergereimt.

»Mopo«, »Emma« und »Die Zeit«?
Hört gut zu, ich bin euch leid!

»Isvéstija« und »Kommersánt«?
Haltet einfach mal den Rand!

»Kronen Zeitung«, »Standard«, »Presse«?
Haltet einfach mal die Fresse!

»Tagi«, »Blick« und »NZZ«?
Früher wart ihr einmal phatt!

»Guardian« und »New York Times«?
Ihr vermiest mir voll die rhymes!

»Super Illu«, »Bunte«, »Gala«?
Für euch zahl’ ich nicht einen Taler!

»Börsen-Zeitung«, »Handelsblatt«?
Euch mach’ ich doch locker platt!

»Merkur«, »Lettre«, »Cicero«?
Euch spül’ ich sofort ins Klo!

Auch der Hokuspokus-»Focus«
liegt aus Jokus auf dem Locus!

»Junge Welt« und alte »Welt«?
Widewitt, wie’s euch gefällt!

ORF und ATV?
Euch Wappler mach’ ich jetzt zur Sau!

RTL und auch ProSieben
kann man sonstwohin sich schieben.

Mach’ es wie die Eieruhr:
Zähle die Minuten nur!

Und nun: Schafft zwei, drei, viele weitere Strophen!
 


Listen-Archäologie (Teil 12):
Erlebnisbücher von Auslandsjournalisten

Leipzig, 9. Februar 2014, 13:27 | von Marcuccio

Kann auch eine Infografik Liste sein? Ja, wenn sie ein Bücherregal baut, das lauter Paratexte anzeigt, die sich eben so ansammeln, wenn Journalisten ins Ausland gehen und darüber ein Buch schreiben. Gut gehortet, liebes SZ-Magazin (»Ich war da mal weg« – online sieht es leider nur halb so gut aus wie auf der Doppelseite im Print)! Aber die Leute sammeln schon weiter. Im Zweifel hilft auch immer ein guter Amazon-Empfehlungsalgorithmus.

Ich empfehle jedenfalls die Seiten 14/15 des aktuellen SZ-Magazins schon jetzt für einen Genre-Award beim Wettbewerb »Oddest Book Titles«. Und nominiere sie für den Spezial-Preis der Jury in der Sparte Infografik-Feuilleton.

Unten, von mir einfach mal alphabetisch für die Nachwelt sortiert, das Kalauer-Kompendium der Maria-ihm-schmeckt’s-nicht-Abkömmlinge. Völkerverständigungsliteratur light.

Das Buchtitel-Pendant zum Einmarsch der Nationen bei Olympia. Völker der Welt! Vergesst Sotschi! Lasst die Journalisten-abroad-Literatur sprechen. Ihr Zwang zur Alliteration geht sogar soweit, dass Calvin wie Cottbus in Berlin geschrieben sein muss: mit K.

Werbephilologen werden noch lange mit diesem SZ-Schatz sympathisieren; Statistiker können (ebenso wie sie die häufigsten Talkshowgäste auszählen) eruieren, welche Journalisten Genrekönige sind. Es ist Wolfgang Koydl von der SZ mit drei Treffern. So schnappt das SZ- dem Philososphie-Magazin (Wolfram Ellenberger: zwei Treffer) die Ideen weg! Statistisch könnte man auch sagen: Die erste Silbe des Vornamens muss auf »Wolf-« lauten, um besonders erfolgreich lautmalerische Bücher zu schreiben wie …

  1. Alles Azzurro. Unter deutschen Campern in Italien (Markus Götting)
  2. Alles Neisse, oder? Meine Geschichten aus dem Osten (Petra Nadolny)
  3. Alles wegen Dänen! Überleben mit Smørrebrød (Elmar Jung)
  4. Alter Schwede! Zwei Hochzeiten und ein Elchgeweih (Gunnar Herrmann & Susanne Schulz)
  5. Auf Heineken können wir uns eineken. Mein fabelhaftes Jahr zwischen Kiffern und Kalvinisten (Kerstin Schweighöfer)
  6. Avanti Amore. Mein Sommer unter Italienern (Dana Phillips)
  7. Bitte ein Brit! Neue Abenteuer auf der Insel (Wolfgang Koydl)
  8. Das kommt mir Spanisch vor. Madrid für Anfänger (Andrea Parr)
  9. Die Spinnen, die Finnen. Mein Leben im hohen Norden (Dieter Hermann Schmitz)
  10. Elchtest. Ein Jahr in Bullerbü (Gunnar Herrmann)
  11. Finne dich selbst! Mit den Eltern auf dem Rücksitz ins Land der Rentiere (Bernd Giesking)
  12. Finnen von Sinnen. Von einem, der auszog, eine finnische Frau zu heiraten (Wolfram Ellenberger)
  13. Fish and Fritz. Als Deutscher auf der Insel (Wolfgang Koydl)
  14. Hopp! Hopp! Es geht weiter. Vom Glück und Unglück im wilden Westen (Oliver Tappe)
  15. In Brasilien geht’s ohne Textilien. Ein Deutscher in Rio de Janeiro (Andreas Wimm)
  16. Kanada kann mich mal. Von einem, der mit seinen Kindern in die Ferne zog (Wolfram Ellenberger)
  17. Kann denn Fado fade sein? Meine Abenteuer in Portugal (Christina Zacker)
  18. Le Fettnapf. Wie ich lernte, mich in Frankreich nicht zum Horst zu machen (Anja Kuchenbecker)
  19. Madonna, ein Blonder! Ganz und gar nicht alltägliche Geschichten aus Rom (Martin Zöller)
  20. Mordsgouda. Als Deutsche unter Holländern (Annette Birschel)
  21. My dear Krauts. Wie ich die Deutschen entdeckte (Roger Boyes)
  22. Papa ante Palma. Mallorca für Fortgeschrittene (Stefan Keller)
  23. Pizza alla famiglia. Ein turbulentes Familienleben zwischen Deutschland und Italien (Michael Weirether & Adriana Falcieri)
  24. Queenig & Spleenig? Wie die Engländer ticken (Nina Puri)
  25. Russki Extrem. Wie ich lernte, Moskau zu lieben (Boris Reitschuster)
  26. Sitzen vier Polen im Auto. Teutonische Abenteuer (Alexandra Tobor)
  27. Spaghetti in Flagranti. Überleben in Italien (Angela Troni)
  28. Spätzle al dente. Neue Geschichten von meiner sizilianischen Familie (Luigi Brogna)
  29. Unter Galliern. Pariser Leben (Sascha Lehnartz)
  30. Werft die Gläser an die Wand! Meine russische Familie und ich (Juliane Inozemstev)
  31. Wer hat’s erfunden? Unter Schweizern (Wolfgang Koydl)
  32. Zwischen Boule und Bettenmachen. Mein Leben in einem südfranzösischen Dorf (Christiane Dreher)


 


Die Ergebnisse der …
Feuilleton-Meisterschaft 2013

Leipzig, 14. Januar 2014, 04:14 | von Paco

Der Maulwurfstag ist da! Heute zum *neunten* Mal seit 2005. Der Goldene Maulwurf 2013:

Der Goldene Maulwurf

Dass Özlem Gezers Gurlitt-Porträt aus dem »Spiegel« vergoldet werden musste, war natürlich ein bisschen offensichtlich. Aber wie wir in der Laudatio schreiben: »Es ist alles andere als einfach, zu einem ubiquitären Topthema auch den singulären Toptext zu liefern.«

Andreas Puff-Trojan wiederum ist die mit Abstand beste und pastichierendste Literaturkritik des Jahres gelungen. Sie wurde im »Standard« veröffentlicht, und überhaupt: österreichische Tageszeitungen! Wir können die nur immer wieder empfehlen, gerade für die Momente, in denen das Feuilletonlesen nicht mehr so viel Spaß zu machen scheint wie früher.

Alles Weitere steht in den 10 Laudationes. Hier nun also die Autorinnen und Autoren sowie die Zeitungen der 10 angeblich™ besten Artikel aus den Feuilletons des Jahres 2013:

1. Özlem Gezer (Spiegel)
2. Andreas Puff-Trojan (Standard)
3. Sascha Lobo (FAZ)
4. Wilfried Stroh (Abendzeitung)
5. Simone Meier (SZ)
6. Claudius Seidl (FAS)
7. Liane Bednarz (Tagespost)
8. Margarethe Mark (Zeit)
9. Peter Unfried (taz)
10. Joachim Lottmann (Welt)

Auf der Seite mit den Jurybegründungen sind neben den Links stets auch die Seitenzahlen angegeben. Wie immer waren natürlich die Printversionen der Artikel maßgeblich für die Entscheidungen, wobei es sich bei dem Artikel der »Münchner Abendzeitung« um ein On-/Offline-Gesamtkunstwerk handelt. À propos, das gutgelaunte »Servus aus München«, das der AZ-Kulturredakteur Adrian Prechtel beim Feuilleton-Pressegespräch im Deutschlandradio Kultur immer in den Äther schickt, ist der momentan wohl schönste feuilletonistische Kampfschrei und wir sind ganz süchtig danach.

Nächstes Jahr steht endlich der 10. Goldene Maulwurf an, Jubiläum! Hinweise auf feuilletonistische Ubertexte des laufenden Jahres 2014 bitte wie stets an <umblaetterer ›@‹ mail ›.‹ ru>.

Bis später,
Euer Consortium Feuilletonorum Insaniaeque
 


Der Malerdarsteller

Barcelona, 20. November 2013, 18:43 | von Dique

Lange hat man nichts von ihm gehört und jetzt hatte er einen Auftritt bei Jay Leno: George W. Bush, Nr. 43 der ewigen Bestenliste, hehe. Nach eigener Aussage ist er jetzt Maler geworden. Dazu inspiriert habe ihn ein Buch von W. Churchill, »Painting as a Pastime«.

W. Churchill war ja ein sehr berühmter Hobbymaler, ebenso wie der berühmte und deutsch-österreichische Postkartenmaler A. Hitler. Und schon im Februar hatten amerikanische Quatschmedien festgestellt, »dass Bush gar nicht so ungeschickt male für einen Amateur – besser jedenfalls als Adolf Hitler und Winston Churchill«.

Der entsprechende Dialog bei Leno geht nun so:

Leno: Now, I know you’ve taken up some hobbies, you’re painting now, you showed me some of your paintings. I was very impressed.
Bush: I am a painter.
Leno: Yeah, yeah … oh, you are a painter now!?
Bush: I mean, you may not think I’m a painter. I think I’m a painter.
Leno: Is that second on your credits, President of the United States, painter, on your resume?
Bush: It depends whether you like the painting or not.

Natürlich bin ich sofort neugierig, was wird er malen und in welchem Stil? Glücklicherweise werden gleich ein paar Beispiele eingeblendet. Sein Hund Barney ist als erstes zu sehen und dazu gibt es gleich noch die herrliche Anekdote, wie der kleine Terrier mit eigenem Wikipedia-Eintrag damals von W. Putin gedisst wurde, als dieser auf Besuch bei Bushs war.

Das nächste Motiv ist Bushs neuer Kater Bob (noch ohne Wikipedia-Eintrag) und als große Überraschung gibt es dann als Gastgeschenk noch ein Jay-Leno-Portrait. Von weitem erinnern die Bilder ziemlich an die Malerei, die normalerweise entlang von Einkaufsstraßen und auf Pariser Brücken angeboten oder verfertigt wird (grobe Pinselstriche, dicker Farbauftrag, etwas unnatürlich wirkende Farben), aber das kann täuschen.

Bei einem seiner vierjährlichen Fernsehauftritte bei Denis Scheck gestand Christian Kracht einmal, dass er eigentlich Maler habe werden wollen und nicht Schriftsteller. Sogar ein entsprechendes Studium sei er angegangen. Irgendwann habe er dann aber feststellen müssen, dass er gar kein Maler sei, sondern nur ein Malerdarsteller, also jemand, der sich kleidet wie ein Maler und sich benimmt wie ein Maler, der sich sogar Farbflecken auf seinen Overall kleckst, um die Darstellung zu perfektionieren.

Zum eigenen Leidwesen habe Christian Kracht seinen Plan irgendwann aber aufgegeben und hat uns nun als Schriftstellerdarsteller ein paar sehr schöne Romane geschenkt und jetzt sogar noch einen grandiosen Film in Gemeinschaftsproduktion mit seiner Frau.

Seiner historischen Leistung nach zu urteilen, ist auch George W. Bush also ein Malerdarsteller, und zwar ein sehr guter!
 


Im neuen Rijksmuseum

Amsterdam, 1. August 2013, 08:00 | von Paco

Ich hatte noch gut zwei Stunden Zeit, ging also kurz ins Hotel zurück, stellte am Fernseher einen Sender mit Naturgeräuschen an (myZen.tv) und erholte mich ein bisschen. Nach einer Weile ging ich auf einen Kaffee rüber ins Rijksmuseum. Ich blätterte in der »Süddeutschen«, wurde aber gleich abgelenkt, denn am Nebentisch saßen vier sehr sympathische Norddeutsche und ich folgte ihrer ruhigen, vertraulichen Gestik und verlor mich dann so ein bisschen mit schrägem Blick in der überwältigenden Helligkeit des neuen Atriums.

Nach einem schnellen Espressoschuss ging ich dann, weil ich eh grad da war, kurz hinauf in den zweiten Stock, um mir noch mal mein Lieblingsrijksmuseumsgemälde anzusehen. Es hängt in der Ehrengalerie, das heißt, man muss mehr oder weniger obligatorisch auch einen halben Blick auf Rembrandts sogenannte »Nachtwache« werfen, die immer noch so heißt, obwohl nach der Säuberung des Firnis nun relativ offensichtlich ist, dass der eigentliche Titel lauten müsste: »Gemälde mit Leuten drauf, die sich am hellichten Tag an einem relativ dunklen Ort versammeln«. Im Vorbeigehen sieht das Bild sogar ganz okay aus, und die Masse von Leuten, die sich allein wegen des zentralen Standorts dieses, wenn man ehrlich ist, nicht allzu eindrucksvollen Werks zu jeder Zeit davor versammeln, stehen jetzt jedenfalls nicht woanders, nicht da, wo ich jetzt hin will.

In einer der acht Seitenkapellen der Ehrengalerie hängen auch fünf Interieurs von Pieter de Hooch, der von zwei kichernden Teenies gerade in »Pieter the Whore« umgetauft wird, als ich daran vorbeigehe. Aber ganz in der Nähe lauert dann endlich das schönste, beste, impressivste Bild der gesamten Rijkssammlung, Jan Asselijns Schwan im preemptive-strike-Modus, und allein die pechschwarzen Kampffüße, die mit dem lichtdurchfluteten Federkleid kontrastieren, sind Gold wert:

Jan Asselijn, Der bedrohte Schwan (vor 1652) – Source: Wikimedia Commons

Ich bin immer wieder erschrocken, wenn ich das Bild neu sehe, aber so ein Blick auf den Kampfschwan ist auch ein Muntermacher und das Zen-TV und meine Kontemplation im Museumscafé sind vergessen und ich mache mich, wie verabredet, frisch auf zum Leidseplein, wo ich schon von weitem usw. usw.

 
(Bild: Wikimedia Commons)