Archiv des Themenkreises ›Spocht‹


Leo

Frankfurt/M., 13. Februar 2018, 19:05 | von Charlemagne

Neulich saß ich bei Jens Becker in der gleichnamigen Apfelweinhandlung zum samstäglichen Frühschoppen. In Frankfurt kann man an vielen Orten Apfelwein trinken, doch nirgends sitzt man so schön und schmeckt es so gut wie bei JB.

Apfelwein trinkt man, so lernt man das als zugezogener Wahlfrankfurter recht schnell, am besten aus einem 0,3 gerippten Schoppenglas, es liegt gut in der Hand und bricht die bei Sonnenschein darauf einfallenden Sonnenstrahlen auf ideale, das heißt jedes Gespräch beim Apfelwein völlig überflüssig machende, Art und Weise etc. Es gibt Schriftsteller, die beschreiben das alles noch viel besser, aber die sind dann auch nicht zugezogen.

Nachdem es samstags in der Apfelweinhandlung nicht nur Apfelwein, den es hier ohnehin täglich und in beeindruckender Vielfalt, sondern auch »Weck und Worscht« gibt, hatte ich, neben meinem Apfelwein, auch eine Rindswurst von Gref-Völsings und ein Wasserweck vom Bäcker HansS auf dem Pappestreifen, der als ideale Erfindung für den Wurstverzehr außer Haus anerkannt werden muss, vor mir.

Ab und zu verknoten sich meine Gedanken etwas beim Apfelwein und gerade wieder. Wurstverzehr, meine Güte. Es musste am leeren Glas liegen, so ließ sich die restliche Wurst nicht verzehren. Das war ja fast schon wie in »Jetzt«, Bohrer-Bernhard-Rindswurst usw. usf.

Da Jens Becker der großzügigste Gastgeber ist, den ich kenne, steht samstags in der Apfelweinhandlung immer ein offener Bembel zum Nachschenken. Der Bembel, das hatte ich bisher noch gar nicht erwähnt, ist der ideale Aufbewahrungsort für den Apfelwein auf seiner Strecke vom Fass ins Gerippte. Aufgrund der bereits erwähnten Großzügigkeit und der Tatsache, dass beim Apfelwein häufig nachgeschenkt wird, hat der Bembel immer eine anständige Größe. Es empfiehlt sich also durchaus, zum Einschenken kurz aufzustehen und dabei vorsichtig nachzuschauen, ob der Apfelweinpoet, wie ich Andreas Maier seit Jahren aufgrund seiner Texte zum Thema anerkennend und ehrfurchtsvoll nenne, zufällig im Laden ist, häufig ist er’s nämlich tatsächlich.

Natürlich kam er auch an diesem Samstag genau in diesem Moment zur Tür herein, ich hatte ihn soeben wieder heraufbeschworen. Seit Jahren gibt es in Frankfurter Apfelweinwirtschaften und an Apfelweinständen auf Frankfurter Wochenmärkten diesen einen magischen Moment, an dem sofort klar ist, dass die einzige logische Möglichkeit des weiteren Verlaufs das plötzliche Erscheinen von Andreas Maier ist.

Da stand ich also, mit dem Bembel in der Hand und dem Rücken zum Apfelweinpoeten, und überlegte kurz, wie ich diese Situation jetzt bloß bestmöglich auflösen sollte. Ich beschloss also, zunächst einzuschenken, den Bembel daraufhin abzustellen und mich schließlich vorsichtig wieder hinzusetzen. Doch irgendwie hatte er es geschafft, in genau diesem Moment hinter mir zu stehen und, um mich nicht zu erschrecken, mit der kurzen Ansage »Leo« auf seine aktuelle Position im Raum aufmerksam zu machen.

»Leo«. Ich war zunächst gar nicht sicher, ob es am Apfelwein lag oder ob er das tatsächlich gesagt hatte. Seit Ewigkeiten hatte ich den Begriff nicht mehr gehört, zuletzt hatte das Philipp Lahm im EM-Halbfinale 2008 gerufen und schon das war anachronistisch gewesen. Musste erst mal den Bembel abstellen und mich langsam wieder hinsetzen. Geistesabwesend-glücklich dachte ich an unzählige lang zurückliegende Nachmittage auf dem Bolzplatz und aß den Rest meiner Rindswurst.
 


»Ein goldener Moment in der Geschichte
des deutschen Feuilletons«

Stanford, 23. Februar 2011, 02:57 | von Srifo

Kalifornisch unabgeschiedenes Interview mit HANS ULRICH GUMBRECHT: Über deutsche Zeitungen und ihre Einmaligkeit, über Wiederholungen und Hyperbolik, über nächste Projekte, Widmun­gen von Hans Robert Jauß und Männer in grauen Regenmänteln, die noch mal das Matheabitur kontrollieren wollen

In der Februarhitze gehe ich an hastig radelnden Undergrads vorbei zur Pigott Hall, dem Literaturen-Gebäude der Stanford University. An der Ecke zum Circle of Death, einem zur Pausenzeit umrasten Radlerkreisverkehr, hat Hans Ulrich Gumbrecht sein Büro. Es ist 11 AM, ich habe eine Stunde, klopfe, und unter dem blitzenden Licht des Eckfensters plaudern wir los. Apropos Ausleuchtung: Um die Schönheit und die dunklen Geheimnisse der gesprochenen Sprache zu bewahren, wurde das Transkript nicht redigiert.

»Kann ich das in 12.000 Zeichen
erklären?«

Der Umblätterer: Schaut man auf deine Veröffentlichungsliste, Sepp, fragt man sich: Fühlst du da eine gewisse Verantwortung, dich am deutschen geisteswissenschaftlichen Diskurs zu beteiligen? Das Verhältnis Zeitungsartikel zu Buch hältst du bei circa 20:1, was zurzeit etwa mit dem Faktor 34 zu multiplizieren ist, um auf das Gesamtvolumen zu kommen.

Hans Ulrich Gumbrecht: Nein, ich spüre keine spezifische Verantwortung für das deutsche Feuilleton. Ich denke aber, dass nicht nur die Quantität sondern auch die Qualität der deutschen Feuilletons im Moment international einmalig ist. Ich würde sagen, die vier, fünf besten deutschen Tageszeitungen plus Wochenzeitungen, also nicht der »Spiegel«, aber die »Zeit«, sind wirklich völlig einmalig. Nicht nur, weil es auf Englisch kein ›Feuilleton‹ gibt.

Ich bin einmal im Jahr zwei Wochen in Paris, und dann kaufe ich mir »Le Monde«, »Figaro«, »Libé«, und das kannst du nicht vergleichen. Ich würde aber nicht nur sagen, dass international alles runtergekommen ist, nein, es ist einfach ein goldener Moment auch in der Geschichte des deutschen Feuilletons. In den Zwanzigerjahren oder so –, oder wenn man sagt, »oh, das war in den Fünfzigern besser«, nein, war es nicht. Es ist unheimlich gut. Was zum Teil damit zu tun hat, dass Journalisten wie Frank Schirrmacher oder Gustav Seibt, die früher automatisch Universität gemacht hätten, dachten, es sei interessanter. Finanziell interessanter, als Lebensform interessanter.

Für mich war es aber nie so ein Plan, dass ich gesagt habe, ich will jetzt das und das machen. Es interessiert mich selbst aus mehreren Gründen. Einer ist sozusagen sportlich, also wie jetzt dieser Jauß-Text für die »Zeit«: Kann ich das in 12.000 Zeichen erklären? Manchmal denke ich, das geht nicht, aber dann versuche ich es und finde es interessant.

Zweitens freut es mich natürlich, dass es mir über diese Medien gelungen ist, nicht nur ein Wissenschaftler zu sein, sondern auch ein öffentlicher Intellektueller. Andreas Kablitz der mich vor einigen Wo­chen bei einem Workshop in Köln vorgestellt hat, sagte drei Sachen: »Er ist ein Romanist, immer noch, er ist ein Philosoph mittlerweile geworden«, auch in dem Sinn, dass in Philosophieseminaren meine Sachen zitiert werden, und drittens, »ein öffentlicher Intellektueller, und das hat in der Germanistik niemand geschafft, und in der Romanistik einer, das war Ernst Robert Curtius«, und das hat mich ziemlich stolz gemacht.

Das heißt, ich mache das nicht für deine Generation, ich mache das für mich. Ich denke, dass ich einer von ein paar war in Deutschland, Hörisch wäre auch so jemand, die eine größere Nähe zwischen dem Feuilleton – und nicht nur Feuilleton, es kann ja auch das »Philosophische Quartett« sein, Sloterdijk sowieso – und den Geisteswissenschaften geschaffen haben. In dem Sinn, dass das wahrscheinlich das Feuilleton nicht besser, aber komplexer gemacht hat. Ich schreibe ja jetzt doch nicht genauso, wie jemand, der eine journalistische Karriere gemacht hat. In der Hinsicht fühle ich keine Verantwortung, es ist ja wirklich im emphatischen Sinn auch nicht mehr mein Land, ich möchte eigentlich mehr hier investieren.

Der Umblätterer: Aber du schreibst ja schon viel, wirklich sehr viel, so viel wie wenige andere, die nicht angestellte Journalisten sind.

Gumbrecht: Ja, richtig, das ist eben der sportliche Ehrgeiz. Irgendjemand hat mal geschrieben, dass ich einer der wichtigsten Stichwortgeber in der deutschen Kultur der Gegenwart wäre, das fand ich etwas hyperbolisch, aber toll. Klar, das interessiert dich, da hast du einen Ehrgeiz, da kommst du in Debatten rein, ich hatte so eine Debatte letztes Jahr gehabt mit Kaube, den ich gern mag, also Kaube meinte, Geisteswissenschaften seien Wissenschaften, und ich denke das nicht, und schon hast du ein Follow-up. Oder meine Sport-Sache, da habe ich nicht irgendeiner Sportredaktion in Deutschland erzählt, »also ihr müsst aber jetzt anders schreiben«, aber die schreiben tatsächlich anders als vor 15 Jahren, and I think I was part of that.

»Würden Sie was für die ›Geisteswissen-
schaften‹ schreiben?«

Der Umblätterer: Das geht schon zur nächsten Frage, die die erste zuspitzt, wenn man sich nämlich die Personen anschaut, die du schon genannt hast, deine intellektuellen Freunde, Karl Heinz Bohrer und Peter Sloterdijk, oder auch Henning Ritter und Rüdiger Safranski, Frank Schirrmacher …

Gumbrecht: Bei Ritter ist es genau umgekehrt.

Der Umblätterer: Du meinst …

Gumbrecht: … umgekehrt, also wenn man der Sohn von Joachim Ritter ist, kann man natürlich keine akademische Karriere haben, Ritter hat bei Verlagen gearbeitet, dann die FAZ-Sache gemacht, großartig gemacht. Und wenn du ihn heute siehst, kann er überall schreiben, er ist einer der großen Intellektuellen im Land, aber Ritter hat mittlerweile auch einen Dr. h. c., und ich denke, mit Recht. Bei Karl Heinz Bohrer ist es ja biografisch gesehen auch ähnlich.

Lomo-Serie, Florian Fuchs und Hans Ulrich Gumbrecht at Stanford

Der Umblätterer: Oder es gibt auch Schüler von dir im Feuilleton. Du hast zwar gesagt, Verantwortung fühlst du nicht so richtig, aber de facto hast du ja inhaltlichen Einfluss. Eben die Sportjournalisten, die jetzt anders schreiben. Stellst du das hinterher fest und sagst, »Ach, die schreiben ja jetzt anders, das wollt ich ja jetzt gar nicht so, ist ja lustig«, oder ist das mit in den Ehrgeiz eingeflossen irgendwann?

Gumbrecht: Ehrgeiz ist ja immer so ein Wort, was ganz furchtbar klingt, aber das kannst du schon schreiben. Um es so zu formulieren, in Interviews werde ich auch immer gefragt, wie ich das akademisch alles so geplant habe. Aber vielleicht bin ich deshalb auch immer in so katastrophischen Situationen, ich bin kein Mensch von langen Planungen, also ich weiß zum Beispiel, dass ich im Sommer dieses Latenzbuch fertig schreibe, und ich weiß, dass ich wahrscheinlich als nächstes Buch eine Diderot-Biografie schreibe, ein großes Buchprojekt, und das hat mit Lebensende, also mit meinen 62 Jahren zu tun. Das sind Bücher, die ich wirklich noch schreiben will, aber ich plane nicht so langfristig.

Ich hätte nicht sagen können, dass ich mich irgendwann entschlossen hab, ich muss jetzt nach Amerika gehen. Martin Seel hat mal geschrieben, es gehört zur agency dazu, die Fähigkeit sich bestimmen zu lassen von Situationen und Gelegenheiten. Und, ja doch, das war Gustav Seibt, den kannte ich, weil er ein Freund von einem Schüler von mir war, und er war Assistent bei Ritter, und der fragte im Auftrag vom Ritter, als die grade angefangen haben mit der Geisteswissenschaften-Seite in der FAZ, »würden Sie was für die ›Geisteswissenschaften‹ schreiben?« Das habe ich natürlich nicht geplant, das meine ich mit keiner Verantwortung.

Klar möchte ich, dass gut geschrieben wird. Ich möchte z. B. bei bestimmten Debatten, dass die eine Seite gewinnt und die andere nicht, aber ich habe keinen Masterplan, was denn mein Beitrag für die Geisteswissenschaften sein sollte. Eine gute Metapher, die Humberto Maturana immer gebraucht hat, ist der Drift vom Segelboot: Ich hab schon immer eine Ahnung, wo ich hin möchte, aber nicht langfristig, und deswegen meine ich, ich folge keiner Verantwortung.

Eine Analogie ist, dass Sportlern ja immer angemutet wird, sie sollten role models sein, aber das ist nicht, warum man Sport macht. Dass dann irgendwelche Sportler role models sein könnten, ist ja schön, und wenn ich einen Einfluss auf eine bestimmte Richtung nehmen kann, die mir sympathisch ist, ist mir das auch Recht, aber ich könnte dir jetzt nicht sagen, welches denn der nächste Schritt wäre, wo ich möchte, dass das deutsche Feuilleton hingeht.

Der Umblätterer: Du warst 2004 bei einem Vierergespräch dabei, mit Frank Schirrmacher, Henning Ritter und Martin Meyer.

Gumbrecht: Genau.

Der Umblätterer: Damals hast du es ähnlich formuliert …

Gumbrecht (nimmt ein schmales Buch von einem Stapel, »Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren?«): Das hast du, oder?

Der Umblätterer: Nee?

Gumbrecht: Ja dann gebe ich dir das jetzt, das ist das Weihnachtsgeschenk des Präsidenten der Uni Osnabrück, das Foto, das da drin ist, ist das FAZ-Foto von dem Vierergespräch.

Der Umblätterer: Ja, ich habe den Artikel hier, da ist das drin.

Gumbrecht: Nee, ist ein anderes Foto, aber selbe Serie, die Uhr ist leider Gottes stehen geblieben, die haben eine sehr elegante Uhr.

»What was he thinking!«

Der Umblätterer: Jedenfalls sagst du da genau dasselbe über dein Interesse, was den Einfluss auf das Feuilleton angeht. Was sich daran anschließt, ist eine Frage nach dem Gegenwind, den es dann gibt. Du hast im »Freitag« gerade etwas über Risikodenker geschrieben, und die Community, die beim »Freitag« immer sehr lebhaft antwortet …

Gumbrecht: Ja, Wahnsinn.

Der Umblätterer: Die meisten dort haben sich über deinen Artikel beschwert und sagen, »Ihnen nehme ich das natürlich nicht ab, Herr Gumbrecht, dass sie Risikodenker sind«. Und in der »Welt« gab es auch eine Antwort …

Gumbrecht: Vom Feuilletonredaktionschef.

Der Umblätterer: … der das ähnlich sah. Würdest du sagen, um es mal so zu formulieren, die kalifornische und die deutsche intellektuelle Lebenswelt können nur im Dissenz zueinander leben? Du hast im Interview mit der »Welt« Anfang November eine Andeutung in diese Richtung gemacht.

Gumbrecht: Du hast wahrscheinlich auch den Artikel in der »Zeit« gelesen von vor drei, vier Jahren, dort heißt es, meine Reputation und mein Talent sei, immer Meinungen zu spalten. Ich sage irgendwas, und dann sind ein paar Leute stark dafür und, wie bei dem Text über riskantes Denken, andere sagen, »Nein, absolut nicht«. Ich kann nicht sagen, dass ich das bewusst mache oder kultiviere, aber ich merke, dass das eine Wirkung ist, die ich habe.

Zum Beispiel kriege ich größtenteils, wie die meisten hier, bei den class reviews close to einer Idealnote von den Studenten. Aber nach einem Seminar, das ich grade gemacht habe, bei dem ich dachte, es war unheimlich gut, sehe die Grafik der Bewertungen und sage, »Was, das ist ja furchtbar!« 60 Prozent der Studenten sagen ganz explizit, das sei das beste Seminar, das sie in Stanford je gemacht haben, und die anderen sagen, »What was he thinking!«.

Ich kultiviere das nicht, aber ich würde sagen, z. B. so eine Sache wie der Jauß-Text, der bald in der »Zeit« kommt, oder die Sache im »Freitag«, dass das mittlerweile zu mir als Produkt gehört. Die Zeitungen wissen, ich schreibe irgendwas zu so einem Thema, und da kriegen sie eine Menge Reaktion, und das ist es natürlich, was ein Medium interessiert. Es ist ja dem »Freitag« Wurst, ob die Leute beistimmen oder nicht.

Den Unterschied zwischen hier und Deutschland kann man gut sehen, wenn man sich z. B. hier die Division of Literatures, Cultures, and Languages (DLCL) in Stanford anschaut, da finde ich es bemerkenswert, wenn man sagt, es sind 40 faculty members, da gibt es junge Persönlichkeiten und a couple of big guys, die alten, Girard und Serres, oder nur Robert Harrison und mich. Wenn das ein deutsches Seminar wäre, wäre es, statt zusammenzuwachsen, schon längst in zwei Teile gespalten, und es gäbe eine Menge Leute, die miteinander nicht können, nicht zusammen in einer Kommission sein könnten usw.

Das finde ich bemerkenswert hier: Du kannst verschiedene Meinungen haben, du kannst beständig drüber streiten, produktiv streiten, but that’s normal. Das ist in Deutschland, finde ich, undenkbar. Und ich überlege immer, warum mir Deutschland oft auf die Nerven geht, und es ist letztlich das, dass in dem Moment, wo man in Deutschland merkt, dass es einen Dissenz gibt, ziehen alle den Schwanz ein oder du kriegst einen Streit.

Ich meine z. B. schon wenn ich etwas sage, was kontrovers ist, heißt das ja nicht, dass ich nicht den guten Grund der anderen Meinung sehe, aber man kann ja auch mal sagen, das ist wahr. Und du siehst ja die Reaktionen z. B. im »Freitag«, also alle sagen wie furchtbar und wie kann ich das sagen. I mean, in the first place I can say that … Aber noch mal zu deiner Frage: Ich würde sagen, was die Leute hier wählen würden, wenn sie das deutsche Spektrum hätten, oder was die Deutschen wählen würden, also our kind of people, wenn sie hier lebten, would not be so different. Die meisten Deutschen würden hier auch Obama wählen und würden sagen, »wäre schön, wenn er noch ein bisschen linker wäre«, irgend sowas. That is not so different.

Die Differenz, die vielleicht, durch die Tatsache, dass ich in Kalifornien bin, in Deutschland provokant ist, ist, dass ich nicht mehr gewöhnt bin und das vielleicht auch kultiviere, in der Hinsicht strategisch zu sein. Es war typisch von deutschen Freunden, hier zu sagen, um Gottes willen, wie werden die Deutschen auf den Jauß-Text reagieren. Well, I’m interested but I really don’t care. Why should I? For Christ’s sake.

»Streitkultur« oder so

Der Umblätterer: Das nächste hat damit gleich zu tun, nämlich mit kalifornischer Abgeschiedenheit. Und zwar schreibst du, ich habe mir da das erste, was du 1989 in der FAZ über Kalifornien schreibst, angekuckt … Und zwar machst du da, vor 22 Jahren, eine Rundreise von Berkeley über Stanford zu Hayden White nach Santa Cruz. Damals gab es noch diesen lustigen Begriff des Post-Poststrukturalismus, was auch immer der war oder ist, und du sagst, was Hayden White dir damals davon erzählte, würde in Deutschland immer noch als neokonservativ disqualifiziert werden.

Letztlich konterkarierst du beide Positionen – Kalifornien und Deutschland – und schreibst, »Aber im Gegensatz zu den deutschen Apologeten der Aufklärungstradition« – hast du die grade wieder als deutsche Haltung zitiert, wäre die Frage – »hält White grade nicht an dem Universalanspruch des Postulats fest, daß Wissenschaft ›politisch‹ und überhaupt (ernste) ›Wissenschaft‹ zu sein habe. Man könnte sich fragen, ob dieser Verzicht [auf den Post-Poststrukturalismus] in Deutschland eine Folge jener intellektuellen Abgeschiedenheit ist, die – allerdings unter amerikanischen Bedingungen – in Santa Cruz gerade zu dem umgekehrten Ergebnis, nämlich der Inflation des politischen Anspruchs geführt hat.« Die Frage ist also die nach der jeweils spezifischen intellektuellen Abgeschiedenheit in Deutschland und in Kalifornien, besteht die noch?

Gumbrecht: Das ist komplex, das finde ich interessant, weil ich das jetzt nicht mehr so sehe wie damals. (überlegt) Ob sich das wirklich geändert hat oder ob ich mehr kapiert habe über die Umstände hier, ist schwer zu sagen, einen Unterschied sehe ich weiterhin in der schon erwähnten Diskussionskultur hier. Die finde ich hier in Stanford positiv, und die ist nicht überall so, an der Cornell University, NY, ist es wirklich nicht so. Wenn das hier funktioniert, dann, habe ich den Eindruck, funktioniert das, weil sich die Leute als citizens verstehen. Bis in eine discussion sind sie citizens, also nicht, dass du was beitragen musst zu den USA, eher in einem Aufklärungssinn, wenn man will. Wie überhaupt in diesem Land, wenn es gut klappt, diese Aufklärungstradition …

Der Umblätterer: Eine gemeinsinnliche Stimme?

Gumbrecht: Ja so, you meet, like, a town hall meeting, das bedeutet, Leute haben verschiedene Meinungen und man schaut, was rauskommt. Wenn hier in einer Kommission ein Lehrstuhl besetzt wird, dann wird nicht geheim abgestimmt und die Minderheit letztendlich unterdrückt, damit man eine einhellige Meinung nach außen hin abgeben kann, sondern es wird in die Fakultät gegeben zur Diskussion. Denn der Agent, der die Empfehlung an die Universitätsleitung gibt, ist die Fakultät, verkörpert durch die Dekanin. Und da sagt man immer, why should we be unanimous, wenn es mehrere Kandidaten gibt und keiner der Teilnehmer der Kommission findet im schlimmsten Fall keinen von beiden unmöglich, gibt man die Präferenzen heraus. Und dann wird in der Fakultät diskutiert und jeder akzeptiert dann die Meinung, das ist eben ein demokratischer Prozess. Das ist die Illustration von citizenship in meinem Sinn.

Im Gegensatz dazu, und das würde ich für die große Differenz halten, meine Kollegen in Deutschland, die untereinander diskutieren, finde ich, diskutieren nicht als citizens, obwohl sie es immer sagen, oder es heißt dann »Streitkultur« oder so. Sondern sie diskutieren immer als Wissenschaftler. Weil dieser Wissenschaftsbegriff so stark ist, dass man eigentlich Recht haben sollte am Ende. Zum Beispiel wenn befreundete deutsche Professoren mir sagen, dass sie nicht verstehen können, dass ich Paul de Man nicht mag. Dann ist das immer so: »Du bist doch intelligent, du müsstest doch de Man mögen.« Oder: »Am Ende eines Tages wirst du einsehen, dass de Man …«

Der Umblätterer: Also schon noch die »Apologeten der Aufklärungstradition«, die wirken deiner Ansicht nach immer noch?

Gumbrecht: Na gut, ich hab des jetzt deswegen nicht verwendet, weil ich eigentlich, wie ich die Aufklärung verstehen würde, voraussetze, dass andere Leute andere Meinungen haben. Ich meine, im schlimmsten Fall sozusagen, muss man eben abstimmen, es gibt eine Mehrheitsmeinung und die gewinnt dann. Aber es könnte ja auch sein, dass ich, wenn eine Diskussion gut läuft, dass sich was anderes ergibt.

Wenn ich sehe, dass 60% meiner Kollegen, 70%, jemanden wollen, den ich nicht wollte, dann würde ich nicht sagen, die Meinung der Kommission muss dominieren, weil ich meine, das ist jetzt einmal so festgelegt, dass die Fakultät als Kollektiv den Vorschlag an den Dekan macht, verstehst du. Da würde ich aber nicht sagen, »Ja, aber eigentlich haben sie Unrecht gehabt«, sondern da würde ich sagen, ich habe eine Meinung gehabt, die sich als exzentrischer herausgestellt hat, als ich dachte. Ich kann argumentieren, warum ich sie hab, ja, so wie ich ja auch nicht erwarte, dass ein konservativer Bekannter von mir mich eines Tages überzeugt, dass George W. Bush wirklich der beste Präsident war.

Der Umblätterer: Diese Selbstevidenz der Wahrheit.

Gumbrecht: Ja.

Der Umblätterer: Dann eine ganz praktische Frage: Ich weiß, dass du viele Kontakte hast zu Journalisten, steuern diese Kontakte auch deinen Zeitungskonsum? Liest du im Internet? Hier in der Bibliothek kommen die Sachen ja immer sieben Tage später an. Wie läuft das mit deiner Feuilletonlektüre?

Gumbrecht: Nein, also ich lese nur jeden Tag den Sport in der »New York Times«, das stimmt wirklich, das ist nicht nur eine Stilisierung. Wenn ich an einem Morgen keine Zeit habe, dann lese ich ihn hier im Büro. Und falls du das als Jux mit reinschreiben willst: Ich war in der 1. Klasse Volksschule unheimlich schlecht, und das war das Jahr, als Deutschland die Fußball-WM gewonnen hat, und meine Eltern sagten: »Wenn du jetzt lesen kannst, dann kannst du immer Sport lesen.« Und da habe ich angefangen, über Fritz Walter in der »Würzburger Mainpost« zu lesen.

Also den Sport lese ich regelmäßig. Zum Beispiel fahre ich deswegen in Deutschland immer 1. und nicht 2. Klasse im Zug, weil es da for free FAZ, »Süddeutsche« und »Welt« gibt. Und wenn ich Zeit hab, ich mein ich find das sehr angenehm zum Lesen, aber ich verfolge das nicht, weil ich auch denke, nothing happens if I don’t know. Außer wenn mir jetzt jemand sagt, da ist was Interessantes, vor allem, wenn mir jemand sagt, da hat jemand auf dich reagiert. (lacht) Oder so, wie du mir letztens wegen deines Umblätterer-Artikels die Philosophie-Ausgabe der »Zeit« kopiert hast, das finde ich interessant. Auch wieder von der Idee her, dass die akademische Welt, also die Geisteswissenschaften, näher an das Feuilleton gerückt sind und die »Zeit« so ein Thema macht über Philosophie. Das möchte ich dann gerne lesen. Aber jetzt nicht, weil ich denke, ich muss informiert sein, das interessiert mich wirklich. Aber sonst verfolge ich nichts regelmäßig außer Sport.

»I had but one idea in my life.«

Der Umblätterer: Noch eine letzte Frage zu deiner Feuilletontätigkeit. Und zwar, weil du so viel schreibst, so viele Interviews gibst. Allein schon, wenn man nur sieht, was aus den letzten zehn Jahren im Internet zu finden ist. Da sind ja ganz oft Sachen bei, die sich wiederholen. Was sagst du dazu, stört dich das im Nachhinein?

Gumbrecht: Du meinst, dass ich immer dasselbe sage?

Der Umblätterer: Diese Stilisierung, um die es gerade ging, und gleichzeitig diese Präsenz, die du hast. Zum Beispiel diese Sportgeschichte, die du erwähnt hast, die würde man mindestens zehnmal finden. Bist du da irritiert?

Gumbrecht: Nö, also, erst mal würde ich meinen, bin ich vergleichsweise nicht so schlecht. Ich kann schon ein paar Sachen relativ kompetent. Und das würde ich rein als eine Marktsache sehen. Das mit dem Sportthema ist wahrscheinlich deswegen so, weil es relativ neu ist, so über Sport zu reden. Bredekamp hat das mal in der NZZ in einer Rezension über das Sportbuch geschrieben. Das fand ich natürlich toll von Bredekamp, »so hat noch niemand über Sport geschrieben«, ganz positiv und hyperbolisch gemeint, aber du könntest das ja auch deskriptiv meinen, so über Sport zu reden. Das letzte, was ich zu dem Thema gemacht habe, läuft grade, mit der FIFA und dem DFB im Vorlauf für die Frauenfußball-WM. Ich hab ein ganz langes Interview gegeben, warum ich Frauenfußball heute ästhetisch schöner finde. Um das zu erklären, muss ich ein paar Sachen wieder erklären, die in einem Buch stehen. Wie sollte ich nicht?

I can for example claim and am proud of it, ich hab im Leben noch kein Seminar zweimal gehalten, es gab auch keins mit noch mal demselben Titel. Das bedeutet aber nicht, dass, wenn ich, sagen wir mal, in einem Lyrikseminar nicht Sachen sage, die ich schon gemacht habe. How could I? I get your point, und das ist mir immer etwas peinlich, das ist vielleicht eine gute Antwort, man muss sich aber dran gewöhnen.

Und es ist wichtig, dass das völlig counterproductive ist, wenn man das nicht macht. Denn mich freut es z. B., dass der DFB und grade die Frauen darauf aufmerksam geworden sind, wenn ich da jetzt den Punkt gut machen will und erklären will, warum es Gründe gibt, Frauenfußball heute ästhetisch besser zu finden, muss ich bestimmte Sachen erklären. Und wenn ich die nicht erkläre, weil ich denke, das gibt es ja schon irgendwo, verstehst du, es gibt da so eine gewisse Arroganz, man erklärt das dann nicht mehr. Ich sehe sowas auch bei Kollegen, »das hab ich ja schon in dem Artikel von 1993 geschrieben« oder so, und das geht einfach nicht.

Der Umblätterer: Das klingt ähnlich wie deine Kritik an der Wahrheitsliebe, dieser Drang zur Originalität der Wahrheit: Nur einmal ist man origineller Denker und darf es sein und dann ist die Idee bereits abgetreten.

Gumbrecht: Ich habe, kenne und verstehe den Ehrgeiz. Hayden White hat mal gesagt, das habe ich in »Unsere breite Gegenwart« zitiert, und es gefällt mir unheimlich: »I had but one idea in my life, but hey, most people had none.« Ich würde sagen, das mit der Präsenzsache, that I can claim. There is something that’s made a difference, and that’s associated with me. Ich möchte also nicht mein Leben damit beschließen, dass ich nur noch Präsenz mache, und ich möchte auch nicht dauernd sagen, »Stimmung, ja, das hat mit Präsenz zu tun«. I mean, I can show the genealogy, aber es ist nicht das 27. Präsenzbuch, was ich gemacht habe. Oder »Unsere breite Gegenwart« oder jetzt das Latenzbuch, klar, es ist eine Sequenz, aber ich hab einen Ehrgeiz, dass das schon etwas anderes ist, insofern verstehe ich diesen Druck. Aber ich denke immer, vorauszusetzen, dass alles, was du irgendwo gesagt oder publiziert hast, ja irgendwie available ist und deswegen nicht mehr gesagt werden muss, das funktioniert nicht.

Der Umblätterer: Für einen Feuilletonisten allemal.

Gumbrecht: Ich will noch eine Sache sagen, das ist ein großes Problem bei Dissertationen, weil Leute oft glauben, was sie schon mal gesagt haben oder was schon irgendwo steht, da muss man da nur eine Fußnote machen. Das ist nicht immer gut, du musst manchmal Dinge noch mal schreiben. Dann kann man sagen, also für alles weitere siehe da und da. Aber bei zwei von drei Dissertationen gibt es einen Punkt, wo ich sage, nein, also hier musst du zwei Seiten einfügen, weil ich weiß, was du sagen willst, aber das Argument ist nicht rund, wenn das da nicht steht.

Der Umblätterer: Noch ein paar kurze Fragen.

Gumbrecht: Okay.

Der Umblätterer: Schnellschussfragen.

Gumbrecht: Gut, so was mache ich gern.

Der Umblätterer: Ein Kolloquium mit deinen fünf Wunschgästen – wo und wer?

Gumbrecht: Fünf Wunschgäste … (Es klopft.) Ja?

(Adrian Daub, Assistant Professor of German, der nächste Bürobesucher, kommt herein.)

Gumbrecht: Ein Interview, we are almost in the final stretch. Du kannst dich gern beteiligen. Die Frage war, ein Kolloquium mit fünf Leuten, die ich einladen würde.

Der Umblätterer: Wo und wer.

Gumbrecht: Also, im Humanities Center hier im Sommer, wenn nichts los ist. Wen möchte ich einladen, also Sloterdijk immer, der ist im Kolloquium sehr, sehr gut. Dann vielleicht Harold Bloom, dann noch Martha Nußbaum, ich möchte einladen Adrian Daub und dich.

Adrian Daub: Ich komm auf jeden Fall. (Auf dem Tonband Gelächter.)

Der Umblätterer: Ich will Euch nicht aufhalten.

Gumbrecht: Nein nein, komm, mach, es ist ja Schnellschuss.

Der Umblätterer: Es gäbe auch noch eine ganze Seite mit …

Gumbrecht: Mach kurz Schnellschüsse.

Der Umblätterer: Die nächste hat mit dem Tisch, an dem wir sitzen, zu tun, bzw. mit dem, was auf ihm steht: Dr Pepper oder Coke?

Gumbrecht: Ja, das hat sich geändert, normalerweise Diet Dr Pepper, das ist richtig, in recent for some reason I like Zero Coke, ich bin im Moment in so einer Schnellphase, jetzt habe ich gern das mit Lime, hier, Coke Light Lime.

Adrian Daub: Das überrascht mich jetzt auch ein bisschen.

Gumbrecht: Ja ja, eigentlich Dr Pepper, ich meine, man mag das weiter, ich weiß nicht, eine Übergangsphase.

Der Umblätterer: Du hast einen Jeep Wrangler ’87, richtig?

Gumbrecht: Nee, ’89.

Der Umblätterer: Hast du den gekauft, als du hier angekommen bist?

Gumbrecht: Nee, nicht gleich, da hatte ich kein Geld.

Der Umblätterer: Dann geht die Frage nicht, dann überspringen wir die.

Gumbrecht: Du willst wissen, ob das wirklich wahr ist, dass das aus der Erinnerung an die GIs war, die Väter von meinen Klassenkameraden in der Volksschule waren.

Der Umblätterer: Wahrscheinlich will ich das wissen, ja.

Gumbrecht: Ja, das ist richtig. Unmittelbar als wir ankamen, habe ich kein Geld gehabt.

Der Umblätterer: Dein Anathema?

Gumbrecht: Also ein Thema, über das man überhaupt nicht reden soll? (überlegt) Na ja, da haben wir schon vorhin drüber geredet, wie soll man die Geisteswissenschaften in Zukunft verändern, sozusagen, programmatisch. Das ist okay im Sinn dieses Drifts, dass man nur reagieren kann auf das, was passiert, aber so ein »Das sollen sie eines Tages werden«, das bitte nicht.

»Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan
je gewesen.«

Der Umblätterer: Welches der Memorabilia in deinem Büro hast du hier, weil du dachtest, du vergisst vielleicht seine Herkunft und nicht das, was es darstellt oder abbildet.

Gumbrecht: Ja, das ist die Todesanzeige von meinem Mathematiklehrer. Weil, das war immer ganz furchtbar, ich hab mir immer gedacht, dass ich saudumm bin, weil, ich meine, in Mathematik konnte ich nur gut sein, wenn ich auswendig gelernt habe vor den Klassenarbeiten in Bayern. Der hat ganze lange gebraucht, bis er gestorben ist, hatte auch den Namen Wohlleben, und jetzt ist hier die Todesanzeige von Herrn Wohlleben.

Der Umblätterer: (Blick zur Pinnwand.)

Gumbrecht: Das ist nicht nur, aber auch ein memento mori, aber auch ein Hinweis darauf, dass ich vielleicht doch nicht so schlau bin, wenn ich da auf Herrn Wohlleben kucke. Ich hatte wirklich immer einen Albtraum. Ich kann, weil ich so wenig schlafe wahrscheinlich, mich nie an Träume erinnern.

Aber an einen Traum kann ich mich immer erinnern, und der hat damit zu tun, dass ich dann ein ganz glorreiches Matheabitur geschrieben habe. Aber ich habe mir das selber nie zugetraut und die Geschichte ist, ich kann sie kurz erzählen. Also, ich sitze hier, und es kommen so Männer mit grauen Regenmänteln rein und sagen (bayrischer Akzent): »Guten Tag, Herr Professor, wir sind vom bayrischen Kulturministerium und wollten Sie noch mal aufsuchen, denn bevor die Abiturarbeiten von 1966 geshreddet«, wie heißt das auf Deutsch, vernichtet, »vernichtet werden, wolln mia no ma senn, es ist nämlich Zweifel aufgekommen, ob das mit rechten Dingen zugegangen ist mit ihrem Mathematikabitur.«

Und dann haben sie hier das Matheabitur von 1966, und ich sitze hier und komme zunehmend ins Schwitzen, und nach vier Stunden kommen die zurück und sagen: »Ja, gar nix, das ham wir uns gedacht. Würden sie jetzt bitte mit uns zum Präsidenten kommen, weil Sie sind nicht nur kein Professor mehr, Sie sind auch kein Doktor, und Sie haben nicht einmal ein Abitur.« Im besten Fall wache ich dann auf, im schlimmeren Fall wache ich auf, wenn ich bei Hennessy [dem Präsidenten von Stanford] bin, im schlimmsten Fall wache ich auf, wenn ich Ricky [seine Frau] anrufen und ihr erzählen muss, »that’s it«.

Der Umblätterer: Okay, und die letzte Frage: Welche ist die zurzeit in deinem Kopf präsenteste Widmung in einem deiner Bücher, an dich oder nicht an dich.

Gumbrecht (überlegt murmelnd).

Der Umblätterer: Weil ich weiß, die sind alle voller Widmungen, die hier stehen.

Gumbrecht: Ich kann dir das sagen, wenn du die wahre Antwort willst, weil ich grade über Jauß etwas schreibe, und da habe ich natürlich meine ganzen Jauß-Bücher hervorgeholt, und der hat mit seiner Ameisenschrift, die klein aber lesbar war, eine Widmung geschrieben, und ich hätte nicht gedacht, dass das so schlecht ist. In »Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik«, da steht drin, »Für Isa und Hans Uuhlrich …«, langgezogenes U, hat er immer gesagt, der konnte Sepp nicht sagen, weil er irgendwie … »Für Isa …«, Isa war meine erste Freundin, die war Psychiaterin, »Für Isa und Hans Uuhlrich, da hermeneutisch gleichermaßen betroffen – von Ihrem Hans«. Und diese Kombination von first name und Sie und »Isa und Hans Uuhlrich«, und dieses »da hermeneutisch gleichermaßen betroffen«, weil er kapiert, dass der Psychiater auch was mit Hermeneutik zu tun hat, das fand ich sowas von … Das geht mir also leider nicht aus dem Kopf. Ich würde das gern shredden. Ich seh das auch vor mir, da hat er immer dann Hans Robert, und dann so ein ganz langes ›J‹ … na ja, ich muss das, glaube ich, aus dem Buch rausreißen.

Der Umblätterer: Okay, das war’s.

Gumbrecht: Die anderen in meinem Kopf sind jetzt auch alles Jauß-Widmungen. Zur Habilitation hab ich ein klar von ihm schon gelesenes Exemplar des zweiten Bandes von Max Frischs Tagebuch bekommen. »Zum schönen Ereignis vom 20. Juni 19…«, wann war das, »19…74«, den hatte er also schon gelesen gehabt. Ich bin auch kein Max-Frisch-Fan je gewesen. Okay. (Seine Sekretärin Margaret kommt herein, mit Papieren.) Okay, okay.

Okay, okay. Ich gehe ins Freie, um das Eckrund von Pigott Hall herum, quer über den Circle of Death und zu meinem zweiten Morgenkaffee.
 


Vossianische Antonomasie (Teil 13) – WM-Spezial

Konstanz, 12. Juli 2010, 08:33 | von Marcuccio

 

  1. der spanische Beckenbauer
  2. der deutsche Messi
  3. ein portugiesischer Beckham
  4. der Rooney Nordkoreas
  5. der Perón des Rasens*

*Mit Dank an Christine.

 


Die Mona Lisa des Fußballs

Konstanz, 19. Januar 2010, 11:44 | von Marcuccio

Sport vs. Feuilleton: der Ressortvergleich. Der Sportteil bolzt Synonyme, das Feuilleton kultiviert Antonomasien.

Begegnet bin ich diesem offenen onomastischen Geheimnis gerade wieder in meiner, ja, Regionalzeitung, in einer Art Eigensprachanalyse des Sportteils. Es ging darum, dass mit Schumis Comeback nun natürlich auch »der Kerpener« wiederkommt. Der ewige Kerpener. So wie der Leimener und die Brühlerin und diese ganzen Synonyme überhaupt. Eingebrannt ins kollektive Gedächtnis.

Paul Biedermann kommt wahrscheinlich noch nicht überall als der Hallenser durch den Synonym-Scanner. Aber Sportfans wissen auch, dass man solche Synonyme (legendär auch: der Rostocker, der Merdinger, der Scherzinger) immer solange lesen, hören, schlucken muss, bis der (Doping-)Arzt kommt.

Richtig assoziieren

Was kann der Sport außer Synonymen? Er kann Vergleiche, wenn zum Beispiel Christoph Daum sagt: »Ronaldo ist wie Mona Lisa.« Was kein so ganz schlechter Vergleich war, auch wenn man eine Mona Lisa im Gegensatz zu vielem anderen Pariser Zeug ja noch eher selten auf dem Transfermarkt gesehen hat und auch das mit dem ins Stadion »hängen« noch mal genauer zu bedenken wäre.

Aus Vergleichen, die erst erklärt werden müssen, macht das Feuilleton zum Glück meistens schon vorher eine Antonomasie: »Die Mona Lisa des Fußballs« oder so. Da fragt keiner nach und jeder hätte in etwa natürlich trotzdem richtig assoziiert, was zu assoziieren war: zu exponiert, zu teuer, in Fachkreisen viele Gegner, aber alle wollen sie trotzdem sehen usw. usf.

Wenn im Sportjournalismus Antonomasien bemüht werden, kommt meist etwas Ungelenkes heraus: »Die Tour de Ski ist die Vierschanzentournee der Langläufer.« (ZDF) Man macht auf Antonomasie, landet qua Prädikation dann aber doch wieder nur beim profanen Vergleich. Da war RTL mit der »Formel 1 des Winters« schon mal weiter. Apropos.

Höher, schneller, weiter

Muss denn erst wieder ein Peter Richter zeigen, was die Disziplin Hochsprung alles kann. Sein Dubai-Artikel in der vorletzten FAS barg nämlich nicht nur den wohl zeitgemäßesten Eintrag ins neue Guiness-Buch der Rekorde:

»Von den technischen Daten her ist der Burj Khalifa (…) das, was beim Autoquartett der Superstecher war.«

Nein, es gab auch mal wieder eine Antonomasie vom Feinsten, Bezug nehmend auf westliche, europäische Vorbehalte gegen dieses neue höchste Haus der Welt und überhaupt gegen alle Gegner der Emirate und ihre Strategie, sich da jetzt die abendländische Kultur einzukaufen (Stichwort: Louvre-Dependance in Abu Dhabi):

»Man darf davon ausgehen, dass die üblichen Ressentiments dem neuen Prunk am Golf gegenüber in etwa dem entsprechen, was einem italienischen Mönch des 18. Jahrhunderts durch den Kopf gegangen sein mag, wenn er daran dachte, wie jenseits der Alpen, in [Achtung!] den Dubais des Nordens neureiche Potentaten italienische Kunst und Kultur zusammenkauften.«

Schreibt Peter Richter, den die Sportjournalisten an dieser Stelle wohl standesgemäß den Elbflorenzer nennen müssten, hehe.


Zeitungsgeburtstage 2008 (Teil 3):
1 Jahr FR im Tabloid-Format

Konstanz, 23. Dezember 2008, 01:25 | von Marcuccio

Nach Teil 1 (60 Jahre WamS) und Teil 2 (30 Jahre taz) gibt es heute:

Das Feuilleton-Match des Jahres! Wir feiern nach und übertragen (re-live, wie es bei Eurosport so schön heißt) die Partie:

Österreich–Schweiz (AUT–SUI)

Das ist das redaktionelle Benefizspiel, das die »Frankfurter Rundschau« am 30. 5. ausgetragen hat, zur Feier ihres ersten Geburtstags im neuen Tabloid-Format und zur Einstimmung auf die Euro 2008 natürlich auch. Deswegen mal schnell White Stripes einlegen und los geht’s!

Die Spielidee: Die beiden EM-Gastgeberländer sollten mal über eine komplette Zeitungslänge zu einem sportlich-landeskundlichen Vergleich antreten. Eine Zeitung als Zweiländerturnier, quer durch alle Ressorts und Themen, ja in insgesamt 30 Kategorien. Das ging von der Frage nach der schöneren Flagge und dem besseren Humor bis hin zu Hunderassen, Schriftstellern und Nobelpreisträgern.

Die Spielregeln: Auf jeder Zeitungsseite hatte die FR unten so einen kleinen redaktionellen Fight Club eingerichtet. Mit jeweils 600 Zeichen Text ging es für die Kombattanten aus Österreich und der Schweiz zur Sache. In jedem Fall wurde per Schiedsspruch ein Zweikampfsieger erklärt, gewertet in Form von einem Treffer (Punkt).

Das Spiel: Was für ein enzyklopädisches Match. Im Prinzip war die FR an diesem Tag das, was Moritz Baßler einen deutschen Pop-Roman nennt: ein Verfahren, das mit Lust und Laune Exponenten aus zwei Landeskulturen archiviert. Neben Klischeevergleichen (Sissi vs. Heidi, Mozartkugel vs. Toblerone) gab es da auch das ein oder andere Tertium comparationis der weniger landläufigen Sorte, ich denke nur an den Umgang mit den Türken vor den Toren.

Ein Zweikampf ist derweil auch schon historisch: Im Duell der Rechtspopulisten vom Mai schlägt Christoph Blocher noch Jörg Haider, inzwischen aber wohl nur noch sich selbst bei Eidgenössischen Bundesratswahlen.

Jetzt aber endlich direkt zur

1. Halbzeit (mit den Ressorts:)
POLITIKREPORTAGEMEINUNGWISSEN & BILDUNGWIRTSCHAFT

Halbzeitpause

2. Halbzeit (mit den Ressorts:)
SPORTFEUILLETONMEDIENMAGAZINRHEIN-MAIN

Zum Endergebnis

*

Und ab hier die eigentliche Liste, also so was wie der archivierte Live-Ticker der gesamten Partie AUT–SUI (mit Ressort / Zwei­kampfkategorie / Resultat).

1. Halbzeit mit den Ressorts

– POLITIK

Fahne: Rot-Weiß-Rot vs. Schweizerkreuz 0:1.

Klarer erster Treffer. »Ist die schon Pop, die Schweizer Fahne?«, fragt die FR. Von Swissness mal ganz zu schweigen.

Polit-Frauen:
Benita Ferrero-Waldner vs. Beatrice Weder di Mauro 0:1

Bei diesem Duell mit dem onomastischen Etwas hätte die Schweiz mit Carla Del Ponte noch mindestens eine ebenbürtige Auswechselspielerin auf der Bank gehabt.

Nationalheldinnen: Sissi vs. Heidi 0:1

Heidi ist wohl der größere Global Player (Japan usw.)

Demagogen: Jörg Haider vs. Christoph Blocher 0:1

Im Mai vergab die FR noch einen »Punkt für die Schweiz: Weil die Eidgenossen ihren Demagogen trotz Wahlsieg aus der Regierung kickten.« Haider hat sich derweil selbst aus dem Verkehr gezogen, bürgt aber als »Lebensmensch« weiterhin für das österreichische Wort des Jahres 2008.

Chor / Korps: Wiener Sängerknaben vs. Schweizer Garde 1:0

Homophonetisch die attraktivste Kategorie – laut FR 1:0 für Österreich, »weil Weltruhm als Musikstar verlockender ist als Rumstehen im Clownskostüm«.

– REPORTAGE

Autobahngebühr: Pickerl vs. Autobahn-Vignette 0:1

Legendär sind ja die Pasing-Münchner, die die Maut auf der Landstraße Mittenwald-Innsbruck-Brenner umfahren. (SBB gegen ÖBB, wäre auch noch ein Duell gewesen, ein sehr unfaires jedoch.)

Kulinarik: Wiener Schnitzel vs. Zürcher Geschnetzeltes 1:0

Hier wurde aus dem Gästeblock der FAZ-Leser der Ruf nach »Schiedsrichterball« laut: Jürgen Dollase, bitte übernehmen Sie!

– MEINUNG

Bundespräsident: Heinz Fischer vs. Pascal Couchepin 1:0

Oh je, dieser Vergleich ist wohl besonders heikel. Zur politischen Staatskunde immer empfehlenswert: die Neugieronautik von rebell.tv!

– WISSEN & BILDUNG

Nobelpreisträger: Elfriede Jelinek vs. Kurt Wüthrich 1:0

Alte Feuilleton-Frage: Wollen wir den »Wahnsinn« als Land (Österreich) oder als Protein-Molekül in Rinderhirnen?

Psychoanalytiker: Sigmund Freud vs. Carl Gustav Jung 1:0

Künstler: Alfred Hrdlicka vs. Niki de Saint Phalle 0:1

Eigentlich ja ein sicherer Treffer für Österreich, allein schon wegen der Pferdenummer für Kurt Waldheim, aber versehentlich verbucht die FR dann doch einen Punkt für die Mutter aller Nanas.

– WIRTSCHAFT

Manager: Ferdinand Piëch vs. Josef Ackermann 1:0

Hotel(ier)s: Sacher vs. Ritz 1:0

Alpenkräuter: Almdudler vs. Ricola 1:0

Alpenkräuter im unterschiedlichen Aggregatszustand, nicht schlecht. Die FR ist also von der Werbung (»Wer hat’s erfunden?«) genervt. Man hätte dem Almdudler auch eine Rivella zur Seite stellen können (Kategorie Alkoholfreies Skihütten-Kaltgetränk), dann sähe das Ergebnis andersrum aus.

Tunnel: Arlberg vs. Gotthard 1:0

Die Austriakos mögen im Tunneltest siegen, aber haben sie auch ein Réduit?

Hunderassen: Österreichischer Pinscher vs. Bernhardiner 1:0

Apropos: Christian Kracht aß Hund bei Grissemann & Stermann …

Architektur: Hundertwasser vs. Herzog & de Meuron 0:1

Klare Entscheidung.

Halbzeitpause

Spielstand zur Halbzeit: Österreich führt 10:7 gegen die Schweiz.

Zur Halbzeitpause, die natürlich hier die Mitte der Zeitung ist, zeigt die FR, was auch ein Tabloid-Centerfold so alles kann: Ein rot-weiß-rot gerahmtes Arnold-Schwarzenegger-Porträt.

Der Unehrenbürger

Bernd Melichar schreibt über das Hadern des Herminators mit seiner ihm einst so hagiografisch zugewandten Heimat (hier eine Version für die »Mitteldeutsche Zeitung«).

2. Halbzeit mit den Ressorts

– SPORT

Steuerfluchthilfe: Franz Beckenbauer vs. Michael Schumacher 0:1

= 1:0 für das Bankgeheimnis oder (mit dem Schiedsspruch der FR): »Treffer für die Schweiz, weil sich der Steuerflüchtling Schumi da wohler fühlt als der Fußball-Gott in Österreich«.

Die Türken vor den Toren: Wien 1683 vs. Istanbul 16.11.2005 0:1

Die FR vergibt einen »Punkt für die Schweizer, die vor den Toren ihren Mann stehen, statt sich hinter Mauern zu verstecken«, hehe.

Karriere: Hansi Hinterseer vs. Roger Federer 0:1

Auch gut: »Punkt für die Schweiz, weil bei Federer noch die Hoffnung besteht, dass er nach der Sportkarriere keine Volkslieder singen wird«.

Rinder: Red Bull vs. Lila Kuh 0:1

Ski-Destinationen: St. Anton vs. St. Moritz 0:1

»Lieber Champagner zu Kaviar als Schnaps zu DJ Ötzi«, findet die FR. :-)

– FEUILLETON

Schriftsteller: Thomas Bernhard vs. Max Frisch 1:0

Waaahh … aber doch nicht »Holzfällen« gegen »Homo Faber«, »Wittgenstein« gegen »Gantenbein«, »Reger« gegen »Stiller«! Wo bleibt das Fairplay? Auf 3:3 unentschieden hätte ich hier entschieden …

Musiker: Falco vs. Yello 0:1

»Oooh, yeah!«

Filmemacher: Stefan Ruzowitzky vs. Marc Forster 1:0

Was sagt denn San Andreas?

Pop: Christina Stürmer vs. Stefanie Heinzmann 0:1

– MEDIEN

Models: Werner Schreyer vs. Raquel 1:0

Die Match-Szene auf der Medien-Seite ging völlig unter, weil alles durch Markus Peichl und sein »Neues Deutschland« abgelenkt war. Flitzer!

– MAGAZIN

Naschen: Mozartkugel vs. Toblerone 1:0

»Punkt für Österreich, weil Naschen dort eine runde Sache ist, während die Schweiz sich mal wieder kantig gibt«.

– RHEIN-MAIN

Es gab dann noch zwei weitere Treffer, die wegen regionaler Abseits-Stellung aber nicht gewertet wurden:

Humor: Erste Allgemeine Verunsicherung vs. Kurt Felix & Paola 1:0

Mehr Mythos als der »Ba, ba, Banküberfall, bis die Behörden einschritten«, geht natürlich nicht.

Eintracht-Spieler:
Markus Weissenberger vs. Christoph Spycher 0:1

Endergebnis

+++ AUT–SUI 14:14 unentschieden +++

Ein politisch korrektes Ergebnis. Trotzdem: Ein großes Match und eine große Idee, für einen Tag einfach mal eine komplette Austro-Suisse-FR zu machen, anstatt dem üblichen Nachrichteneinerlei hinterher zu hecheln. Zumal die FR neben allen Zweikämpfern noch jede Menge andere im Blatt hatte. Und Nachahmer, jedoch meistens auf das Feuilleton beschränkt, gefunden hat: siehe Antike-Spezial der FAS, Darwin-Spezial der FAZ usw. usf.


Vor dem Spiel:
Sehr sehr, ganz ganz, absolut

Konstanz, 25. Juni 2008, 18:44 | von Marcuccio

Überraschungsmomente in der Regionalzeitung, heute: Fußballer­sprache. Aber keine Sorge, keine weiteren Kalauer vom Schlage »Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien« oder »Die Medien haben das alles hochsterilisiert«. Nein, an Ralf Mittmanns »Anpfiff« im heutigen »Südkurier«-Sportteil ist überhaupt nichts regionalzeitungssteril.

»Auch für Medienvertreter sind Pausentage schwierige.« Endlich mal ein Sportreporter, der überhaupt noch ausspricht, dass nun nicht jeder Trainingslagergrashalm das ultimative Rasenereignis vor dem Spiel ist. Und der sich, weil trotzdem täglich neue Presse­konferenzen von und mit der deutschen Elf anstehen, auch mal auf neue Standardsituationen verlegt, etwa das Zusammen­rücken der »Sprache vom Bundestrainer bis zum 23. Spieler«:

»Da ist alles ›sehr, sehr‹ oder ›ganz, ganz‹, und muss ein Wort ausreichen, Aussagen zu unterstreichen, dann gibt es nur eines: ›absolut‹. Tag für Tag, ›sehr, sehr‹, ›ganz, ganz‹ und ›absolut‹. So passen wir uns also an und teilen mit: Die sehr, sehr lange Zeit des Wartens hat heute ein Ende. Auch wenn es ein ganz, ganz schwerer Gang gegen die Türken wird, ist es absolut gut, dass gespielt wird. Sehr sehr überzeugt sind wir von einem deutschen Sieg, ganz ganz sicher sind wir aber absolut nicht.«

Das ist doch mal fein aufgegriffen. Und man malt sich schon jetzt zukünftige Strafarbeiten für Medienlinguisten oder Sportpublizistik-Studenten aus: Ermitteln Sie aus den Mannschaftsleistungen auf dem Platz und dem Sprachgebrauch der Spieler bei Presse­gesprächen den Teamgeist-Koeffizienten aller DFB-Pflicht­spiele seit der Ära Klinsmann. Oder so.


Fußball-Feuilleton (Teil 5):
Deutschland – Österreich (Córdoba 1978)

Rom, 15. Juni 2008, 07:15 | von Paco

Kurze Frage: Wer war 1941 Deutscher Fußballmeister?

Antwort: Rapid Wien.

Trotz der bekannten Umstände erzeugt dieser Dialogfetzen beim ersten Hören ein wenig kognitive Dissonanz. Einen ähnlichen Effekt nutzt das deutsch-österreichische Moderatoren-/Comedy-Duo Stermann & Grissemann für seinen schon legendären Córdoba-Sketch. Vor dem morgigen EM-Gruppenspiel DEU–ÖST soll hier ganz kurz daran erinnert werden.

Die Erstsendung erfolgte am 11. 11. 2004 nach 22:00 Uhr in der ORF-Sendung »Dorfers Donnerstalk«. Nachdem der nur 2,5-minütige Einspieler seit März 2006 in der Blogosphäre verlinkt und embedded wurde, hat er eine ansehnliche YouTube-Karriere hingelegt. Mehrere Versionen wurden im Laufe der Zeit bei allen möglichen Videohostern hochgeladen. Die populärste YouTube-Variante weist im Moment mehr als 430.000 Views aus.

Der Plot: Das Wiener Fernsehen greift für den Spielbericht zur Partie Österreich – Deutschland während der WM 1978 in Argentinien auf Ortskräfte zurück, zwei herrlich ignorante Altnazis. Die beiden scheinen die Endniederlage des Deutschen Reiches 1945 durch ihre Emigration irgendwie verpasst zu haben und interpretieren das Spiel nun als Sieg einer imaginären großdeutschen Mannschaft gegen sich selbst.

Demzufolge wird aus dem eigentlichen 3:2-Coup der Österreicher, dem »Wunder von Córdoba«, ein 5:0-Sieg, den »Ergebnis­einblendungen der Feindpropaganda« zum Trotz. Dabei sind vor allem die Attribute, mit denen Grissemann die Torschützen versieht, eine Ohrenweide:

1:0 – Karl Heinz Rummenigge, »der blonde Gott aus Detmold«
2:0 – Hubert Vogts, »Berti, der Kämpfer vom Niederrhein«
3:0 – Johannes Krankl, »der bergdeutsche Bomber«
4:0 – Bernd Hölzenbein, »der Hallodri aus Hessen«

Für das 5:0 (das eigentliche 3:2-Siegtor für Austria) greift Grissemann dann auf die legendäre Formulierung des Ösi-Moderators Edi Finger zurück: »Und da werd‘ ich narrisch, da schießt der Johannes Krankl das 5:0.«

Die Moderation erfolgt steif und zackig und lebt von der Akkumulation archaisch-militärisch klingender Begriffe (»Fernmelder«, »Sportskamerad«, »Zeugwart«, »Sporthemd« usw.). Wie in vielen seiner NS-Parodien scheut sich das Duo auch nicht vor Kalauern (»Um 13:45 wird angeschossen.«).

Die beiden bewahren in ihren Rollen als gute Ewiggestrige aber Haltung und verziehen keine Miene, was die Krassheit des Witzes noch etwas steigert – beim erstmaligen Sehen dürfte jedem der sprichwörtliche Döner aus der Hand gefallen sein.

(Mit Dank an Constanze von willkommen-tv.at!)


Fußball-Feuilleton (Teil 4):
Eidgenössisches Protektorat Ostpreußen

Konstanz, 7. Juni 2008, 16:52 | von Marcuccio

Käse stand bis jetzt noch nie in Tobi Müllers Eurokolumne, aber die Sache mit Tilsit wäre doch mal ein echter Leckerbissen für die deutsch-schweizerische Völkerverständigung zur EM (von wegen »Nazi«-Sturm usw.). Denn ich frage mich manchmal: Ist das wirklich passiert? Dann muss ich es noch mal lesen, aus dem Protokoll der Gründung von Tilsit vom 1. August 2007:

»Zum Ostpreussen- und Thurgauerlied wurde die Tilsit-Ortstafel enthüllt. […] Horst Mertineit, Vorsitzender der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V. mit Sitz in Kiel, überbrachte als Gastgeschenk den Bronzenen Elch (Symbol von Ostpreussen/Tilsit) und eine Tilsit-Fahne. Im Anschluss an die Unterzeichnung der Gründungsurkunde wurden die Tilsit-Strassentafeln gesetzt. Sie erinnern daran, dass hier der erste Schweizer Tilsiter hergestellt wurde […].«

Da machen die Schweizer also klar, was in Deutschland noch nicht mal mehr ein Vertriebenenverband öffentlich zu fordern wagt: Sie sorgen dafür, dass in Tilsit wieder deutsch gesprochen wird, ja, sie holen Tilsit heim ins (Käse-)Reich. Und als stolze Bürger, die seit angeblich über 160 Jahren (Weltrekord?) keinen Krieg kennen, tun sie das sogar noch zu ihrem Nationalfeiertag. Sogar die NZZ berichtete über diesen, klar, am Ende natürlich nur käsemarkenstrategisch erfolgreichen Feldzug. Trotzdem liegt die Frage nahe: Wie viel Löwenzahn, hehe, steckt eigentlich in so einem Stück Schweizer Tilsiter?


Fußball-Feuilleton (Teil 3):
Die Nazis der Schweiz

Konstanz, 1. Juni 2008, 10:57 | von Marcuccio

Die taz hat vor allem bundesdeutsche Leser, und also musste Tobi Müller die Sache in der Eurokolumne (I) schon mal kurz erwähnen: Die Sache ist nämlich die, dass Helvetien bei internationalen Turnieren, sowohl neulich beim Eishockey wie auch jetzt zur Fußball-EM, ganz offiziell von Nazi-Spielern vertreten wird.

In der eidgenössisch-landschaftlichen Koseform wird »Nationalmannschaft« nämlich »Nati« geschrieben und »Nazi« gesprochen (jedoch mit kurzem –a–, also »Nazzi«). Und so gibt es, zumindest mündlich, einen Nazi-Sturm, Nazi-Verteidiger, einen Nazi-Trainer (der ja bald Ottmar Hitzfeld heißt) usw. Schriftlich macht das –t– anstelle des –z– im schriftlichen Nachrichtenverkehr also Sinn, sonst blieben Schlagzeilen wie diese ja wirklich grenzwertig:

»Eishockey-Nati schlägt Weissrussland«

Und dann fällt mir in diesem Zusammenhang auch immer dieses Stück Schweizer Fernsehgeschichte ein (ich transkribiere aus »Stuckrad bei den Schweizern«, Folge 7):

BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE im Zug (blättert Zeitungen, schnellt von seinem Sitz hoch und fragt): Gibt’s hier eigentlich ne Fußball-Nationalmannschaft?

Schweizer antworten spontan längst nicht auf alles, schon gar nicht auf pöbelnde Deutsche im Zug.

STUCKRAD-BARRE (zu einer Mitreisenden am gegenüberliegenden Fenster): Sagt man hier Nati zur Nationalmannschaft?

DIE MITREISENDE: Nazi.

STUCKRAD-BARRE: Nazi? Also, das ginge bei uns nich‘. Das ginge nicht bei uns in Deutschland. Da könnte man nicht sagen: Die Nazis haben heut gewonnen … Sagt man wirklich Nazi hier. Die Nazi?

DIE MITREISENDE: Jaja, das ist einfach Dialekt.

STUCKRAD-BARRE: Bei uns sagt man: Nazis raus. Is ja lustig.

Er blättert weiter Zeitungen, bleibt auf einer Seite hängen und liest laut vor:

STUCKRAD-BARRE: Polizei hebt Bande junger Neonazis aus. Hier, sind ja auch Nazis. Neonazis. (Er zeigt auf einschlägige Szene-Outfits.) Die U21 mit ihren Trikots.

Usw. usf.


Fußball-Feuilleton (Teil 2):
Alles außer Hochdeutsch. Heute: Der Baselbieter

Konstanz, 26. Mai 2008, 10:13 | von Marcuccio

Warum ich von der Eurokolumne der taz so begeistert bin? Kann ich erklären. Da war, gleich in der Auftaktfolge, dieses Foto, das Ottmar Hitzfeld zum »Baselbieter« deklarierte. Baselbieter, Baselbieter. Dieses Wort einfach mal so als Bildlegende einer bundesdeutschen Tageszeitung, ohne dass irgendeine Schlussredaktion das wegredigiert hätte, das spricht absolut für die taz. Denn kaum ein Nichtschweizer weiß, was ein Baselbieter ist: Selbst im nahen Baden-Württemberg dürften nicht viele was mit dem Begriff anfangen können.

Ein Baselbieter kann nur jemand aus dem Kanton Basel-Land sein, und deswegen ist die Idee, Hitzfeld, der aus Lörrach stammt, zum quasi deutschen Baselbieter zu erklären, natürlich eine ganz wunderbare staatsgeografische contradictio in adiecto. Und doch viel mehr als das: Am deutschen Hochrhein spricht man alles außer Hochdeutsch, und wer Hitzfeld jemals hochalemannisch parlierend im Schweizer Fernsehen erlebt hat, der begreift erst, wie bedenkenlos die Eidgenossen ihn, und nur ihn, als ersten Deutschen überhaupt zum zukünftigen Schweizer Nationalcoach verpflichten konnten. Denn der typische Deutsche, der nur Schriftdeutsch kann, ist Hitzfeld eben gerade nicht.

Nur rein statistisch trägt er deshalb auch zur deutschen Gastarbeiterschwemme bei. Wie Tobi Müller in schönen Sätzen zu berichten weiß, machen es die vielen Teutonen den Schweizern ja nicht gerade leicht:

Seit im Land eine Umschichtung in der Zuwanderung von Norden nach Süden einsetzt, seit hochqualifizierte Deutsche en masse in die Schweiz ziehen und die Italiener als größte Einwanderergruppe, zumindest in Zürich, abgelöst haben, seither hört man auch in linksliberalen Kreisen Dinge, die man über Italiener nie gehört hat. Früher hielt man sich ja stets an Max Frisch: Man rief Arbeiter, und es kamen Menschen. Für die Deutschen übersetzt heißt das heute: Man rief Arbeiter, und es kamen Chefärzte. Und: Die sich dann auch noch erfrechen, sich wie solche zu benehmen.

Hitzfeld hingegen ist so etwas wie der lebende Beweis dafür, dass auch deutsche Integration in der Schweiz möglich ist – wenn die Mund- und Umgangsart stimmt, denn an der Sprache hängt nicht alles, aber doch so viel im deutsch-schweizerischen Verhältnis. Insofern ist dem taz-Artikel mit der Ernennung Hitzfelds zum ›Baselbieter h.c.‹ eine schöne Chiffre gelungen.