Archiv des Themenkreises ›Théâtre‹


Tag in Tula

Moskau, 21. März 2018, 22:54 | von Paco

Samstagmorgen, der Tag vor der Präsidentschaftswahl, und wir fuhren mit der Lastotschka nach Tula. Das dauert von Moskau aus nur zwei Stunden und schon ist man im gefährlichen Tula, denn es ist Eiszapfensaison und, anders als in Moskau, waren noch nicht alle Eiszapfen kontrolliert abgeschmolzen oder abgedroschen worden. An die Häuser waren A4-Zettel mit Warnungen geklebt: Achtung vor dem Eiszapfen! Zehn-Kilo-Eispickel hingen tropfend von maroden Dachrinnen und es war nur eine Frage der Zeit, bis.

Im Beloussow-Park fuhren wir eine Weile Ski, vielleicht die letzte ordentliche Skifahrt diesen Winter, und in der parkeigenen Brasserie »Pjotr Petrowitsch«, benannt nach dem Parkgründer, gab es dann lauter gute Sachen zur Erfrischung.

Um etwas Zeit zu überbrücken, gingen wir ins »Eremitage« geheißene Theater. Dort gab es einen Tschechow-Abend, und gerade, als wir verspätet hineinschneiten, begann die Aufführung der Zwei-Seiten-Erzählung »Datschniki«, die von ungebetenen Gästen handelt, und die von der Truppe irgendwie auf 20 Minuten gestreckt wurde.

Es war aber noch mehr los im Haus. In der Etage drüber gab es ein Jazzkonzert, und die Band stand vor einer frühneuzeitlichen Weltkarte, und zwar der doppelhemisphärischen von Claes Janszoon Visscher, Mitte 17. Jahrhundert, die durch den Jazz hindurch zu mir herüberschimmerte. Nach dem Konzert trat ich näher heran, die Weltkarte stellte sich als riesiges Puzzlespiel heraus, das irgendjemand erfolgreich zusammengesteckt und dann aufgeklebt, eingerahmt und mit Glasscheibe versehen hatte.

Dann wurde es Zeit, schließlich war Salsa Night in der »Stetschkin«-Bar, die benannt ist nach dem berühmten, in Tula ansässig gewesenen Waffenkonstrukteur Igor Jakowlewitsch Stetschkin. Wir trafen einige Leute, die uns unter anderem kopfschüttelnd erzählen hörten, dass wir »in diesem bescheuerten Theater« gewesen seien, aber uns hatte es dort ja gefallen.

Die Salsa Night selber kann man jetzt schlecht beschreiben, jedenfalls waren wir wie geplant um 3 Uhr morgens wieder am Bahnhof und nahmen den Zug zurück nach Moskau, und unterwegs las ich hot-off-the-presses die krasse Berghain-Story im aktuellen »Spiegel«: »Tod in Berlin«, unheimlich aufgeschrieben von Alexander Osang, bleibt erst mal im Hirn wie ein Fincher-Film.

In Moskau angekommen war alles beim Alten und wir schliefen in den späten Nachmittag hinein, um uns von dem Ausflug nach Tula zu erholen.
 


»Lehman Brothers«

München, 12. Februar 2017, 23:05 | von Josik

Nach Regensburg! Nach Regensburg! Die gesamte Regensburger Politprominenz befindet sich gerade in Untersuchungshaft, was Jonesy und ich zum Anlass nahmen, mal nach Regensburg zu fahren, und außerdem hatten wir ja auch Karten für die Premiere von Stefano Massinis Stück »Lehman Brothers« am vorvergangenen Samstag im Regensburger Velodrom.

Mithilfe des sogenannten Servus-Tickets zuckelten wir also nach Regensburg, wobei ich mir als Zug- und Zuckellektüre »Das Rote Rad« von Alexander Solschenizyn, genauer gesagt, den ersten Teil von »März siebzehn« eingepackt hatte. Die ersten paar tausend Seiten des »Roten Rads« hatten mich ja ein bisschen gelangweilt, aber mittlerweile war ich eben bei den Mittagsstunden des 12. März 1917 angelangt und es wurde bereits wahnsinnig viel geballert, und ich wusste ja, dass heute abend, am 12. März 1917, also schon in wenigen hundert Seiten, ganz Petrograd in den Händen der Aufständischen sein würde, die Zeit verging jetzt also wie im, hehe, Zug.

Eine Spannung ganz eigener Art, denn natürlich ist es ja immer noch ein historischer Roman, und die Spannung war, versteht sich, nicht der Art, dass ich fieberte, ob der Zar am Ende es vielleicht doch noch irgendwie schaffen wird, vielmehr schildert Solschenizyn an diesem 12. März einfach sehr viel Geballer, und es war irgendwie geil, von diesem Geballer zu lesen, es war nun wie ein Ballerfilm, nur eben in Form von Literatur.

In Regensburg angekommen, war ich dann ungefähr eine Sekunde lang erstaunt, dass die Stadt so friedlich dalag, bis mir klar wurde, dass hier ja grade keine Revolution im Gange war, sondern das genaue Gegenteil von Revolution, nämlich real life. Auf dem Weg zu unseren Regensburger Stadtführern kamen wir dann auch gleich am Schloss vorbei, Fürstin Glorias mutmaßlichem Erstwohnsitz, und es war doch ein ziemlicher Schock zu erfahren, dass man als gemeiner Pöbel das Schloss gar nicht von vorne sehen kann.

Nun waren es immer noch ein paar Stunden, bis das Theaterstück losging, also starteten unsere Stadtführer ihre kleine Stadtführung, und als erste Sehenswürdigkeit wurde uns überraschenderweise das Haus gezeigt, in dem Bischof Tebartz-van Elst wohnt. Ich meinte mich dunkel erinnern zu können, irgendwo gelesen zu haben, dass Tebartz-van Elst in den Vatikan abgeschoben wurde und dort nun den Posten eines Aushilfsvorbeters oder sowas bekleidet, aber dass Tebartz-van Elst nunmehro auch in Regensburg residiert, war bisher irgendwie an mir vorbeigerauscht.

Punkt 2 der Stadtführung stand eigentlich nicht auf der Liste, aber als wir an einem sehr stylishen Waschsalon Obermünsterstraße Ecke Soundsostraße vorbeiliefen, hörten und sahen wir, dass innen im Waschsalon, mitten im Raum, eine Cellistin ein Stück probte! Wir überschlugen uns vor Begeisterung und wiesen auf diesen Anblick auch einige Umstehende hin, die wir für Eingeborene hielten und die wir fragten, ob es in Regensburg denn ganz normal ist, dass an einem frühen Samstagabend mitten in einem sehr stylishen Waschsalon eine Cellistin ein Stück probt. Die Antwort war: Nein.

Unsere Stadtführer schlugen nun vor, dass wir das Abendessen in einem kurdischen Lokal namens »Schwedenkugel« einnehmen sollten, leider war dieses Restaurant aber zu weit weg und deswegen war nicht mehr genug Zeit, dorthin zu laufen, denn das Theaterstück ging ja bald los, aber essen wollten wir vorher unbedingt noch was, und so gingen wir eben in die Spaghetteria, vor der wir zufällig gerade standen, und bestellten das sogenannte Nudelabenteuer. Auf der Speisetafel stand auch folgender toller Satz: »Akademisches Nudelabenteuer – nur montags außer feiertags«.

Im Lokal befanden sich jedenfalls außergewöhnlich viele Hunde, darunter auch ein Shiba Inu, während wir doch eigentlich nur in Ruhe ein paar Spaghetti verspeisen wollten. Danach sprinteten wir zum Velodrom, nun ging endlich das Stück los! Aber ach, eine Frau in Reihe 17 bekam einen entsetzlichen Schluckauf. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie die Leute sich zu der Frau in Reihe 17 umdrehten, und man konnte sich wohl ausrechnen, dass sie ihr böse Blicke zuwarfen, aber diese Böseblickezuwerferei war natürlich völlig sinnlos, denn es war ja klar, dass die arme Frau in Reihe 17 gar nichts für ihren Schluckauf konnte, und wenn sie rausgegangen wäre, hätte sie ja noch viel mehr Unruhe in den Reihen verursacht, also konnte sie im Prinzip ja nur sitzenbleiben und warten, bis ihr Schluckauf vorbeiging, was nun zwar auch keine besonders tolle Alternative war, aber in Anbetracht aller anderen Möglichkeiten doch eigentlich immer noch die beste.

So richtig konzentrieren auf das Bühnengeschehen konnte man sich während dieses nicht enden wollenden Schluckaufs aber auch nicht, ich versuchte es trotzdem, ich versuchte mir irgendwie einzureden, dass dieser Schluckauf einfach Teil der supersten Bühnenmusik des supersten Thies Mynther sei, ich stellte mir vor, dass Thies Mynther hier krasse Schluckaufsounds designt hatte, aber so ganz gelang mir die Illusion nicht, denn die Bühnenmusik kam ja nun mal von vorne und von der Seite, der Schluckauf aber kam eindeutig von hinten. Kurz nachdem der Schluckauf der Frau in Reihe 17 zu Ende war, war plötzlich auch das Stück zu Ende, jetzt wäre es natürlich egal gewesen, jetzt hätte die Frau in Reihe 17 ruhig weiter ihren Schluckauf vor sich hin hicksen können, denn in dem tobenden Applaus, der nun einsetzte und noch lange nicht abebbte, hätte man diesen Schluckauf ja ohnehin nicht mehr gehört.

Als der Applaus dann doch irgendwann abebbte, gingen wir noch auf die Premierenparty im ersten Stock, und da sahen wir, wie sich am Buffet grade Ulrich Matthes, der Ulrich Matthes, zu schaffen machte. Also konnten die Regensburger doch einen Prominenten auftreiben, der nicht in Untersuchungshaft war. Ich ging dann zum Regisseur, von dem ich wusste, dass er juristisch beschlagen ist, und gab ihm als Premierengeschenk Professor Wolfgang Schilds kleine Broschüre »Verwirrende Rechtsbelehrung. Zu Ferdinand von Schirachs ›Terror‹«, die ich extra mitgenommen hatte und die Professor Heribert Prantl vor einiger Zeit in der S-Zeitung so überschwenglich gelobt hatte und auf die auch der aus dem vorletzten »Spiegel« bekannte Professor Thomas Fischer schon einmal öffentlich Bezug genommen hat.

Am nächsten Morgen beim Frühstück im Café Lila sahen wir sogar wieder Leute, die wir auch im Theater gesehen hatten. Am Tresen im Café Lila lungerten zwei junge Männer Anfang zwanzig herum und soffen schon um halb zehn Uhr morgens ihr Bier, und während Junger Mann 1 auf Toilette war, kippte Junger Mann 2 in das Bierglas von Junger Mann 1 etwas Salz. Als Junger Mann 1 aber wieder zurückkam und sein Bier weitertrank, merkte er nicht mal, dass es gesalzen war. Der Streich ging nach hinten los, alles blieb völlig friedlich, und deswegen hatte ich dann bei der Rückfahrt auch keine rechte Lust, Solschenizyns Revolutionsepos weiterzulesen, sondern vertiefte mich in die Lektüre der aktuellen Ausgabe (No. 169 – Februar 2017) des irgendwo rumgelegen habenden und von uns mitgenommenen Regensburger Stadtmagazins »filter«. Klar, wenn das Wiener Stadtmagazin »falter« heißt, wieso sollte sich dann das Regensburger Stadtmagazin nicht »filter« nennen. Auf Seite 46 war den Redakteuren aber irgendwie was verrutscht, denn dort stand und steht folgendes, ich zitiere in voller Länge:

»04.02.
›Lehman Brothers – Aufstieg und Fall einer Dynastie‹.
Die ultimative Stammgast-Party. Von 21 bis 23 Uhr heißt es ›friends only‹ – alle offenen Getränke gibt es for free. Wie das klappt? Sichere dir jetzt deinen Platz auf der Gästeliste. Frag einfach bei dem/der BEATS-Baarkeper/in deines Vertrauens nach.
Wann: 19.30 Uhr.
Wo: Velodrom.«


Kammerspiele

München, 6. Januar 2017, 16:05 | von Josik

Es war eine sternenklare Nacht. Im Zentrum von München sah man davon natürlich rein gar nichts, aus Feinstaubgründen, aus Nebelgründen und wegen dem ganzen anderen Schmodder. Ich hatte mich mit Don Ron um viertel vor sieben am Eingang der Kammerspiele verabredet. Beide hatten wir einen langen Arbeitstag hinter uns, deswegen konnten wir vorher kein Bier mehr trinken gehen, sondern kamen direkt von der Arbeit. Nun aber wollten wir endlich das tun, worauf wir uns schon seit Monaten gefreut hatten: »Wut« von Elfriede Jelinek sehen, in der Inszenierung von Nicolas Stemann.

Im Foyer der Kammerspiele dann: eine Schulklasse! Welcher Deutschlehrer bitteschön schleift denn eine Schulklasse in eine Jelinek-Inszenierung hinein? Noch dazu eine Inszenierung, die vier oder fünf Stunden dauert? Nun, vielleicht verehrte dieser Lehrer Jelinek ja genauso wie ich, vielleicht war er, genau wie ich, der Meinung, dass Jelinek die Literatur revolutioniert hat wie seit Goethe niemand mehr. Goethe, Jelinek, die ganze Literatur dazwischen war im Prinzip uninteressant.

Mein Namensvetter Josik von Sonnenfels musste damals vor zweieinhalb Jahrhunderten seine Wiener Zeitschrift »Der Mann ohne Vorurtheil« nennen, unter mir als seinem sozusagen Nachfahr würde sie heute »Der Mann mit Vorurtheil« heißen. Denn ich horchte in mich hinein und wurde gewahr, was ich fühlte, nämlich dass ich diese Schulklasse schon jetzt durchaus hasste. Aus Erfahrung wusste ich ja, wie sich diese Siebzehnjährigen im Theater traditionellerweise verhalten, wie sie kichern und wie sie stören, wie sie schwätzen und wie sie mit Bonbonpapierchen rascheln, wie sie pausenlos WhatsApp-Nachrichten mit viel zu vielen Emojis schreiben und wie sie den Zuschauerraum mit ihren Displays beleuchten.

Der Zuschauerraum selbst war überraschend leer: Die Schulklasse mit ihrem wahnsinnigen Lehrer nahm Platz, eine Handvoll Schwabinger Schreckschrauben, außerdem ein paar versprengte Gestalten sowie Don Ron und ich. Seltsam, die Kammerspiele waren doch in aller Munde? Christine Dössel hatte in der S-Zeitung eine interessante Kampagne zu den Kammerspielen vom Zaun gebrochen, und ich hatte gedacht, dass das die Zuschauerzahlen wieder enorm in die Höhe treiben würde. Anscheinend war aber heute abend das Gegenteil eingetreten?

Nicolas Stemann kam auf die Bühne, gab den Conférencier und meinte, es gebe keine Pause, zu einem gewissen Zeitpunkt würden aber die Lichter im Saal angehen und man könne gerne rausgehen und sich was zu essen und zu trinken mit reinnehmen, solle dabei bitte auf die Kissenbezüge achten, das kenne man ja von zuhause, und unterdessen werde auf der Bühne freilich weitergespielt werden, und die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause ist, gespielt würden, seien nicht die schlechtesten, außerdem sei das Stück, das Jelinek bekanntlich anlässlich des Anschlags auf »Charlie Hebdo« geschrieben hat, schrecklicherweise immer aktueller geworden.

Diese Ansage versprach schon mal nichts Gutes: Wenn das Stück so aktuell ist, wie der Regisseur sagt, dann würde man das doch von selbst merken, wozu also hob Stemann das eigens hervor? Dass wir uns in der Pause, die ja gar keine Pause war, keine Fressalien zu holen brauchten, war auch klar, u. a. deswegen, weil ich ohnehin schon Lebkuchen im Gepäck hatte und eine Flasche Moskovskaja, die ich neulich bei einer Wette gegen Don Ron verloren hatte. Ich hatte behauptet, dass Donald Trumps aktuelle Frau aus der Slowakei stamme, aber das war natürlich Unsinn, denn sie stammt ja aus Slowenien. Dass Donald Trumps erste Frau nicht aus Slowenien, sondern aus der Slowakei stammte, half mir logischerweise nichts.

Dann ging das eigentliche Stück los. Man muss leider sagen, dass es gerade am Anfang ziemlich schlecht war. Einige Zeit darauf war es glücklicherweise schon mittelmäßig, und kurz vor der Pause, die ja gar keine Pause war, wurde es sogar beinahe gut. Stemann hatte also wahrscheinlich recht mit seiner Ansage, dass die Szenen, die während der Pause, die ja gar keine Pause war, gespielt werden, nicht die schlechtesten sind.

Man konnte sich sehr gut ausrechnen, wie es weitergehen würde: Nach der Pause, die ja gar keine Pause war, musste die Inszenierung brillant werden, einige Zeit darauf perfekt und am Ende genial! Die Strategie dahinter verstand ich leider nicht. Wäre es im Interesse der Zuschauer nicht umgekehrt sinnvoller gewesen, man hätte mit den genialen Passagen angefangen, dann zu den perfekten und brillanten übergeleitet, und die mittelmäßigen und schlechten einfach gestrichen?

Ich war aber auch ziemlich verstört, weil die Schulklasse absolut aufmerksam war. Wahrlich, man konnte sich keine aufgeschlosseneren, interessierteren und lautloseren Theaterzuschauer als diese Schüler wünschen. Wie war das möglich? Ist Jelinek inzwischen bayerischer Eliteabiturstoff? Und war dieser Theaterbesuch der vollgültige, pragmatische und ja auch einzig mögliche Ersatz für die Lektüre des Stücks? Es war ja klar, dass kein Schüler das Jelinek-Stück gelesen haben konnte. Das Stück steht frei und kostenlos verfügbar auf Jelineks Homepage, aber wenn man nur mal bis zum Ende dieses Stücks runterscrollte, dauerte dies drei Wochen, und wenn man das Stück ausdruckte, brauchte man dafür fünfhunderttausend Blatt.

In der Pause, die ja gar keine Pause war, schlichen Don Ron und ich uns raus, da wir ja noch ein Bier trinken gehen wollten. Nach dem Ende des Stücks wäre es dafür natürlich zu spät gewesen. Außerdem schmerzten unsere Knie, da die Stuhlreihen in den Kammerspielen so dicht beieinander stehen, dass es sogar jemand wie ich, der weiß Gott nicht hoch gewachsen ist, dort nicht lange aushält – anthropologisch gesehen ist der Selbsterhaltungstrieb am Ende dann doch stärker als die Jelinekverehrung.

Wir gingen also ins Conviva, bei den Kammerspielen um die Ecke. Am Nebentisch saß eine stadtbekannte Literaturagentin. Don Ron bestellte ein kleines Bier, ich bestellte ein großes Wasser. Wir sprachen über die soeben gesehene erste Hälfte der Inszenierung, waren aber etwas ratlos. Wäre es vielleicht doch besser gewesen, das Stück vorher auf irgendeine noch zu erfindende Weise zu lesen? Am selben Abend hätte es in einer Außenstelle des Lyrikkabinetts laut Programm auch eine Veranstaltung gegeben, in der diverse Gedichte und Lyrikübersetzungen der von Suzan Kozak, Karin Fellner und Tristan Marquardt angeleiteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Sammelkurse Türkisch Q11 und Q12 vorgestellt wurden. Vielleicht hätten wir lieber dorthin gehen sollen?

Aber es half ja nichts, wir mussten nach vorne blicken. Die stadtbekannte Literaturagentin ging an unserem Tisch vorbei, auf die Toilette. Don Ron erzählte von der großen Jürgen Kuttner’schen Videoschnipsel-Party, die er wenige Tage zuvor in der Volksbühne in Berlin miterlebt hatte, und dass dort der bekannte Wahlkampfsong von Joseph Beuys »Wir wollen Sonne statt Reagan« nicht, wie sonst immer, am Ende vorgespielt worden war, sondern gleich ganz am Anfang. Das überraschte mich nun sehr.

Die Bedienung brachte eine 0,75l-Flasche Wasser und ein 0,25l Glas Bier. Uns traf beinahe der Schlag. In der ganzen Welt versteht man unter einem »großen Wasser« ein 0,4- oder 0,5l Glas Wasser, aber doch keine 0,75l-Flasche! Und in der ganzen Welt versteht man unter einem »kleinen Bier« in etwa ein 0,33l-Bier, außer natürlich in solch lächerlichen und kulturlosen Verwaltungseinheiten wie Köln oder so (no offence!).

Juristisch gesehen hatten wir keine Chance: Ich hatte ein großes Wasser bestellt und ein großes Wasser bekommen, wenn auch ein sehr großes, Don Ron hatte ein kleines Bier bestellt und ein kleines Bier bekommen, wenn auch ein sehr kleines. Zusätzlich hatte mich nun eine große Unruhe erfasst, weil die stadtbekannte Literaturagentin nach vielleicht vierzig Minuten noch immer nicht von der Toilette zurückgekommen war. None of my business natürlich, aber ich machte mir irgendwie langsam Sorgen.

Don Ron hatte sein mit dem menschlichen Auge kaum sichtbares Bier längst ausgetrunken, ich meinen gefühlten Maßkrug Wasser mittlerweile auch. Es war Zeit zu gehen. Wir verabschiedeten uns, und ich machte mich über die menschenleere Maximilianstraße gedankenverloren auf den Heimweg. Obwohl ich nicht Pokémon spiele, ging ich wie immer zu Fuß. Wenn alles nach Plan läuft, werden Don Ron und ich uns in den Kammerspielen demnächst die zweite, die geniale Hälfte von »Wut« ansehen, worauf ich mich schon riesig freue.
 


Auch das noch!

Göttingen, 1. April 2014, 18:27 | von Paco

Alfred Kerr. Immer wieder Alfred Kerr. Eines der berühmtesten, wenn nicht schönsten Zitate aus den Feuilletons aller Zeiten und Völker ist zweifelsohne das folgende. Es gibt davon mehrere Versionen, hier sind mal fünf:

»Als ich das Theater um 21.42 Uhr vorzeitig verließ, regnete es. Auch das noch!« (DER SPIEGEL, 1982)

»Als ich aus dem Theater kam, spannte eine Dame vor mir den Schirm auf. Es regnete. Ich sagte: ›Auch das noch!‹« (via Google Books, 1989)

»Meiner Frau und mir hat das Stück nicht gefallen, und in der Pause, als wir nach Hause gingen, regnete es auch noch.« (via Google Books, 1996)

»Das Stück dauerte dreieinhalb Stunden. Als ich danach auf die Straße trat, regnete es. Auch das noch.« (via Google Books, 1999)

»Dann trat ich vor das Theater auf den Vorplatz und es regnete. Auch das noch!« (Nina Hoss, 2012)

Einige Varianten sind expressis verbis aus dem Kopf zitiert. Aber woher auch sonst? Denn es ist mir nicht gelungen, ein entsprechendes und womöglich gedrucktes Originalzitat zu finden. Bei meiner Suche fragte ich mich bis zur Alfred-Kerr-Stiftung durch. Aber auch der Kerr-Herausgeber Günther Rühle wusste keine Antwort. Es scheint also tatsächlich nur eine Anekdote zu sein, die jahrzehntelang über »Stille Post« weitergetragen wurde. Wunderbar!

Ich war übrigens neulich im Schauspiel Köln und sah Moritz Sostmanns Inszenierung des »Guten Menschen von Sezuan«. Danach hat es nicht geregnet, im Gegenteil, es war eine frühlingswarme und sternenklare Nacht, auch das noch, hehe.
 


Von Berlin nach Baden-Baden

Berlin, 26. Oktober 2011, 07:59 | von Josik

Sophie Rois hatten wir schon lange nicht mehr schreien hören, deshalb entschlossen wir uns, mal wieder in die Volksbühne zu gehen. Wir waren zwar erst vier Tage zuvor dort gewesen, aber nur im Roten Salon, wo das neue und natürlich neuartige Computerspiel »TwinKomplex« vorgestellt wurde, für das berühmte Fassbinder-Schauspieler wie Irm Hermann leibhaftig Videosequenzen eingespielt haben.

Weil »Der Spieler« ja einer der kürzeren Dostojewskis ist, kann, so dachten wir, die Inszenierung auch nicht soo lange dauern. Ein Irrtum! Schon der Titel war gefaket, es ging hauptsächlich gar nicht um den »Spieler«, sondern unter anderem um das viel weniger bekannte, aber noch viel bessere »Krokodil«, und wie immer bei Castorf waren die Videosequenzen und Sophie Rois’ Geschrei am besten.

In der Pause bekamen wir heraus, dass das Stück noch bis Mitternacht dauern sollte, insgesamt also fünf Stunden. Natürlich wollten wir aber auch noch ein Bier trinken und gingen deshalb unverzüglich in eine der umliegenden Kneipen. Wir kamen wieder auf die Berlin-Wahl zu sprechen und die wundervolle Szene vom Wahlabend, als das SPD-Parteivolk einem von Wowereit in der Hand gehaltenen Teddybären zujubelte.

Außerdem erfuhr ich von der hochschwangeren Kellnerin, dass »TwinKomplex«, das Computerspiel aus dem Roten Salon, von Leuten entwickelt wird, die früher mal »Lettre International« geleitet o. ä. haben, und dass Dostojewski in Moskau geboren ist!

Weniger schön war der Nachhauseweg. Ganz entgegen meiner Gewohnheit ging ich nicht zu Fuß, wie es Rousseau, Kant, Franz Hessel und eben alle großen Denker vorgemacht haben. Sondern weil ich am Hackeschen Markt eine S-Bahn schon dastehen sah, sprang ich vor lauter Freude gleich hinein und fuhr los.

Seit nunmehr anderthalb Jahren war ich wegen des S-Bahn-Chaos immer entweder gelaufen oder U-Bahn gefahren, und kaum schloss sich die Tür, wurden natürlich die Fahrscheine kontrolliert. Es gab nichts drum herumzureden, weder hatte ich überhaupt nur daran gedacht, dass ich ein Ticket brauche, noch hatte ich damit gerechnet, dass die S-Bahn nach so vielen Jahren Chaos plötzlich wieder Kontrolleure ausschickt.

Ich ließ mir sofort den Überweisungsschein aushändigen. Die 40 Euro Strafe musste ich dann an die infoscore Forderungsmanagement GmbH überweisen, die kurioserweise in 76532 Baden-Baden sitzt, wo ja auch schon Dostojewski usw. usw.
 


Der »Neon«-Leser als Theaterkritiker

Konstanz, 17. August 2010, 01:09 | von Marcuccio

Neulich hat Gerhard Stadelmaier, liebste Hassfigur des Théâtre alle­mand, eine Kritikertypologie vorgelegt. Jetzt scheint es so, als gäbe es noch einen Nachrückkandidaten: den »Neon«-Leser, der Theater­kritiker bei der Regionalzeitung wurde.

Hier mal das Schema (Formatvorlage und Abwandlung) an zwei historischen Beispielen:

Film-Hermeneutik
in der NEON
vs. Theater-Hermeneutik
im SÜDKURIER
»Lara Croft: The Cradle of Life« (Regie: Ang Lee) Thema »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« (Regie: Samuel Schwarz)
»Worum geht’s?
Die schlagkräftige Action-Archäologin muss sich diesmal den Weg zu einem Unterwas­sertempel freikämpfen, um einen (wie immer sagenum­wobenen) Schatz gegen (wie immer fiese) Schurken zu verteidigen. Einer davon ist Ex-Lindensträßler Til Schweiger.«
Hermeneu-
tischer
Akt I
»Darum geht’s:
Am Fleischmarkt von Chicago herrschen desolate Arbeitsbedin­gungen. Den Fleisch-Großhändlern geht es prima, sie sprechen sich ab, es gibt Insider-Tipps und Intrigen. Die Heils­armee um Titelheldin Johanna Dark will die Verhältnisse ändern – und muss am Ende erkennen, dass das nur mit Gewalt geht.«
»Worum geht es wirklich?
Diese Lippen, diese Titten! Angelina Jolie spielt nicht nur eine Comicfigur, sie ist auch wirklich eine.«
Hermeneu-
tischer
Akt II
»Darum geht’s wirklich:
Um die Fragen, wie viel erträgt der Mensch, ehe er revoltiert, und mit welchen Mitteln wird der Aufstand von den Machthabern unterbunden. In der Hauptrolle hierbei: Die Medien- und Unterhal­tungsindustrie, die, so der Tenor, alte Machtstruk­turen nur reproduziert.«
NEON Nr. 1 (!) vom Juli 2003, S. 167 (online) Zitatnachweis (Erstbelege) SÜDKURIER vom 22. Januar 2010, Ressort »Konstanzer Kulturleben«

 
Wenn man also eine Traditionslinie von »Tempo« (1986–1996) zu »jetzt« (1993–2002) und »Neon« (2003 ff.) ziehen will, dann sind die Reste des Copyshop-Feelings also heuer im Lokaljournalismus angekommen.
 


Horváth in Murnau

Leipzig, 26. April 2010, 12:36 | von Austin

Der Plan: Endlich mal nach Murnau fahren. Horváths Stadt schauen. Und endlich die jetzt superb besprochene neukonzipierte Horváth-Ausstellung im Schloss (S-Zeitung vom 3. März 2010).

Und was soll man sagen. Einst wurde seine Einbürgerung abgelehnt, nun wird hier ausgeführt, dass Horváth der gewissermaßen einhundert­zwanzigprozentige Murnauer war, wie sehr also Horváth mit Murnau eins sei. Plötzlich ist er vor allem Heimatdichter.

Als Kontrast ist dann im Setting eines Biergartens die Mediathek installiert, in der Martina Gedeck und jemand anderes Auszüge von Horváths Texten lesen, als handelte es sich um Peter Weiss‘ »Ermittlung«.

Ich will grade gehen und denke, dass ich mal wieder schauen muss, wie weit die in Wien-Alsergrund sind mit diesem eigenwilligen Gedenk­raum für Heimito von Doderer, da findet sich, im Schaukasten »Horváth und Berlin«, ganz en passant doch noch etwas Erstaunliches. Unter dem Bild von Francesco von Mendelssohn, dem Uraufführungsregisseur von »Kasimir und Karoline«, steht der Hinweis, er sei einige Zeit der Partner von Gustaf Gründgens gewesen. Schau an.

Ansonsten ist neben ein bisschen Gabriele Münter nicht viel zu tun in Murnau. Zum Staffelsee gelangt man durch eine spektakulär gruselige Fußgängerunterführung. Also gleich weiter, aus gegebenem Anlass, nach Kloster Ettal. Hey, gleich der erste Seitenaltar rechts ist dem Hl. Sebastian gewidmet.

Dann Halt in Oberammergau. Dialog zwischen zwei Einheimischen, warum denn der und der besetzt sei und nicht der und der, und ob denn der und der der Rolle gerecht werden könne wie weiland dessen Vater. Eine ganz normale Theaterkantine, nur heuer beim Postwirt. Faszinierend.

Auf der Rückfahrt durch Unterammergau gefahren. Und die Frage: Müssen die sich nicht grade wieder fühlen wie das Villabajo des Voralpenlandes?


Neulich, am Broadway

New York, 3. November 2008, 00:02 | von San Andreas

Wenn man sich der TKTS-Bude auf dem Times Square von Uptown her nähert, kann man schon das Board sehen, auf dem die verfügbaren Tickets aufleuchten. Halfprice, da muss man nehmen, was man kriegt. Heute am Samstag wird’s extra schwierig werden, es ist date night, viel Volk unterwegs. Vom Flug bin ich etwas erschlagen, vielleicht haben sie ja etwas Leichteres im Angebot …

To be or not to be. Die Broadway-Verwurstung des Klassikers tritt ein schweres Erbe an, denn wer balanciert schon Drama, Farce, Politik und Screwball so meisterlich wie Lubitsch. Niemand tut das, obwohl Mel Brooks vor 25 Jahren eine durchaus achtbare Hommage zustande brachte.

Schaut man das Original heute an, überrascht es durch seine zeitlose Frische; die Broadway-Produktion hingegen wirkt schon beim ersten Ansehen angestaubt und altbacken. Die Pointen sind rar gesät und sitzen nicht, die Dramaturgie lässt kein Fettnäppchen aus, stolpert hölzern von Klischee zu Klischee, das Ensemble entwickelt kaum den Hauch einer Chemie.

David »Sledge Hammer« Rasche gibt Josef Tura, einen kapriziösen, letztendlich schlechten Schauspieler, aber er spielt ihn schlicht schlecht, als grotesk chargierenden Theatertölpel. Wie fein nuanciert war Jack Benny in der Rolle gewesen; ihm nahm man auch Turas couragierte Charaden im folgenden Nazigetümmel ab.

Ein netter Gag gelingt immerhin, als während Turas fürchterlicher Rezitation des Hamlet-Monologs sich ein Herr mit Uniform und Blumenstrauß im Publikum erhebt und Entschuldigungen flüsternd den Saal verlässt – die Zeile »To be or not to be« war das Signal für ihn gewesen, Turas Frau zum heimlichen Techtelmechtel hinter der Bühne aufzusuchen. Eine schöne Umsetzung des Theater-im-Theater-Themas, aber man hätte die Chance nutzen sollen, ebenfalls seinen Sitzplatz zu räumen, Halfprice hin oder her.

*

Dienstagabend, 40 Minuten vor Vorhang. Heute hab ich es auf »All My Sons« abgesehen; eine Bekannte versicherte mir, das Miller-Stück wäre »riveting«, doch ausgezeichnete Kritiken und Starpower (John Lithgow, Katie Holmes, Dianne Wiest, Patrick Wilson) würden es wahrscheinlich hard-to-get machen. »A Man for All Seasons« wäre auch interessant, die Geschichte um Thomas Morus, passend zu Holbeins prächtigem Gemälde in der Frick Collection. Leider auch sehr gute Kritiken … Aber da entdecke ich, noch an der Ampel stehend, einen ziemlich kurzen Titel am Board, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte …

Equus. Auch dieses Stück von Tony Shaffer ist ein Revival, die Ur-Premiere war am Old Vic in London, 1973. Dann kam es an den Broadway, und seine Qualität zog viele hochkarätige Kräfte an; in über 1000 Performances spielten u. a. Anthony Hopkins, Richard Burton und Anthony Perkins die Rolle von Martin Dysart, dem Psychologen, der die Beweggründe des Stallburschen Alan Strang zu entschlüsseln sucht, sechs Pferde mit einem Hufpick zu blenden.

Sidney Lumet verfilmte das Material mit Burton, doch das in diesem Fall unangenehm explizite Medium schmälerte irgendwie den Geist des Stücks. Vielleicht hat Daniel Radcliffe den Film deswegen nicht angesehen; er liefert seine eigene Interpretation des Adoleszenten, der die Repressionen seiner Erziehung mit einer Art selbstgebauter Pferde-Religion kompensiert.

Das klingt krude, aber das Stück entwickelt eine bestechende innere Logik. Dysart fischt in den juvenilen Abgründen, fördert religiöse Indoktrination, fehlgeleitete Sexualität und befremdliche Rituale zutage, kommt aber letztlich nicht umhin, Strang um seine genuine Leidenschaft zu beneiden. Selbst in permanentem Selbstbetrug gefangen, realisiert er die Unfreiheit des Individuums, im Zaum gehalten von den Zügeln der Gesellschaft.

Schwerwiegende Einsichten, erstaunlich leichtfüßig vermittelt von Richard Griffiths, dessen fantastische Bühnenpräsenz nicht nur von dem mächtigen Übergewicht herrührt, das der Mann um sich herum versammelt hat. Griffiths strahlt eine Wahrhaftigkeit aus, die man im Theater häufig genug vermisst, lässt geschriebenen Text so wirken, als wäre er ihm gerade eingefallen.

Selbst Shaffers ausufernde, symbolbeladene Monologe gehen über Griffiths direkt ins Blut. Seine Szenen mit Radcliffe knistern, sie überwinden die Psychiatrie-Klischees der Geschichte mühelos und entwickeln in szenischen Überblendungen eine wunderbare Plastizität. Die berührendsten Szenen aber trägt Radcliffe allein; wohldosierte Bühneneffekte verdichten seine Soli zu schaurigen, orgiastischen Schlüsselmomenten. Besonders das Ende des ersten Aktes lässt einem den Atem stocken.

Dass der Neunzehnjährige die letzte Viertelstunde des Stücks ohne einen Fetzen Stoff am Leib auf der Bühne verbringt, ist dann auch eher seiner Kompromisslosigkeit und Integrität zuzuschreiben als dem PR-Kalkül seines Agenten. Freilich drängen sich nach der Vorstellung autogrammheischende VerehrerInnen am Bühnen­ausgang; sie werden den jungen Wizard jedoch künftig mit etwas anderen Augen betrachten.

*

Mit Dique, der endlich in der Stadt ist, will ich eine sonntägliche Matinee-Vorstellung besuchen; wir sind kein Risiko eingegangen und haben die Tickets online geordert – das kleine, aber feine Cort Theatre in der 48th Street ist womöglich schnell ausgebucht. Auf dem Programm steht ein Stück, das Dique in London längst hätte sehen können, denn dort läuft es seit zwei Jahren …

The 39 Steps. Am Broadway wird die Adaption mit dem Präfix »Alfred Hitchcock’s« angepriesen, während im West End mit »John Buchan’s« der Autor der Romanvorlage von 1915 angeboten wird, dessen Name dort wohl noch geläufig ist. Das Stück steht aber weder dem Roman noch Hitchcocks hervorragendem Film besonders nahe, denn hier haben wir eine Karikatur des Stoffes, eine unbändige, bunte Comedy, die so over-the-top ist, dass es schon wieder Spaß macht.

Nur vier Akteure teilen sich Dutzende von Rollen, wechseln Identitäten, Kostüme, Dialekte mitten im Gespräch, hasten in fliegenden Szenenwechseln von Schauplatz zu Schauplatz. Da gerät das Stück zur Liebeserklärung an das Theater schlechthin: mit einfachsten Mitteln werden ruckzuck frappierende Illusionen geschaffen. Da werden ein paar Kisten und einige vorbeifahrende Schilder zur schnaufenden Eisenbahn, verschiebbare Türen und hochgehaltene Fensterrahmen schaffen imaginäre Räume, während ausgefuchstes Sound- und Lichtdesign die Täuschung perfekt macht.

Einmal verwandelt sich die komplette Bühne in ein zweidimen­sionales Schablonentheater; die halsbrecherische Flucht des Protagonisten vor feindlichen Doppeldeckern zündet unmittelbar Assoziationen mit »North by Northwest«, und als links auf der Anhöhe ein kleiner Schattenriss-Hitchcock hochklappt, kann sich kaum ein Zuschauer ein lautstarkes Schmunzeln verkneifen.

Dann und wann brechen Momente der Ironie das überzeichnete Schauspiel: Als sich einmal alle vier Darsteller auf der Bühne befinden, erscheint plötzlich eine Hand hinter dem Vorhang und feuert einen Schuss ab. Alle halten verdutzt inne, schauen sich ratlos an, und der tödlich Getroffene beschwert sich, bevor er theatralisch darniedersinkt: »It was supposed to be a cast of four!«

Das ist Wegwerf-Theater im besten Sinne, hier zeugt jede Improvisation von höchster Kunstfertigkeit, jedes liebevolle Detail von kindlicher Begeisterung für das Medium. »The 39 Steps« mag leichte Kost sein, doch kommt das Stück weitaus ehrlicher daher also so manch aufgeblasenes, überproduziertes Broadway-Spektakel. Warum einen echten Wasserfall auf die Bühne wuchten, wenn es auch ein wackelnder Duschvorhang tut. Und wenn dann Bernard Herrmanns Psycho-Geigen kreischen, ist ein weiterer Lacher gebongt.


Stadelmeiers Theaterstadel

Konstanz, 7. August 2007, 19:23 | von Marcuccio

Grundsätzlich finde ich die Idee ja gar nicht schlecht, dass da irgendwo im deutschen Feuilleton jemand sitzt, der auf einem Spiralblock ausrechnet, auf wieviel verschiedenen Bühnen Yasmina Rezas »Gott des Gemetzels« in der kommenden Spielzeit zu sehen sein wird (auf 15) und was generell so angesagt ist auf dem Theater. Denn dafür ist das Feuilleton ja auch da, dass man nicht immer gleich »Theater heute« studieren muss, wenn man solche Dinge mal en bloc wissen will.

Nur: Wenn man sich so durch Stadelmeiers Nicht-Pointen vom letzten Samstag kämpft (Diagnose: fortschreitende »Selbstauflösung der Theater«, massive Repertoire-Vermüllung durch Roman- und Kino-Adaptionen, und erst das »Laienbeitragswesen«!), fragt man sich schon, ob es nicht unverschämt und mindestens mal wieder ein Kündigungsgrund für das F-Zeitungsabo ist, wenn einem der Spiral-Blogwart (haha) dann auch noch diese Blogging-Definition diktiert:

»Leute also, die im Internet zu allem Beliebigen beliebig was zu sagen haben«. Und dass die »Internet-Ergüsse« auch noch »aus Ostblockländern« kommen, ist ja wirklich billigste Kaltkriegsrhetorik gegen die Blogosphäre.

Gibt es denn wirklich niemanden, der das anderswo im Feuilleton nicht noch ein bisschen besser könnte? So eine Schauspiel-Saisonvorschau, meine ich? Und wo bleiben Stücke-Rankings, Bühnen-Charts, tabellarische Aufbereitungen von Theater-Trends, wie sie in anderen Feuilletonsparten längst gang und gäbe sind? Die Literaturkritik macht Buchtipps, Bestseller- und Bestenlisten, die Filmkritik kennt die besten Filme der Woche, der Saison, aller Zeiten. Sogar die Kunstkritik sortiert sich zur Grand Tour 2007. Warum nur klinkt sich die Theaterberichterstattung nicht in die Listen-Formate ein und wartet stattdessen, bis »G.St.« auch den letzten Leser vergrault hat?


Rezensenten, die sich den Spiralblock teilen

Konstanz, 1. Juni 2007, 18:47 | von Marcuccio

Vgl. die heutigen Resümees zu Luc Bondys Burgtheater-Inszenierung »König Lear« bei

Barbara Villiger-Heilig (NZZ): »Kann Theater mehr?«

und

Gerhard Stadelmaier (FAZ): »Mehr eigentlich muss Theater gar nicht können. Jubel.«

Das Monitoring wird fortgesetzt.