Archiv des Themenkreises ›Weltwoche‹


Noch mal »Thanatos«, Seite 311

Leipzig, 6. November 2011, 08:35 | von Paco

Alban Nikolai Herbst liest gerade extensiv Helmut Krausser, zur Vorbereitung auf sein Krausser-Hörstück, das am 1. Dezember vom WDR 3 gesendet werden wird. Am Mittwoch hat er den herrlichen Großroman »Thanatos« beendet und einen Tag davor, am 1. November 2011, hat er gegen 17:36 Uhr die magische Seite 311 passiert (in der Luchterhand-Originalausgabe), von der hier schon mal die Rede war. In ANHs Lektürebericht heißt es (Achtung, Spoiler!):

17.36 Uhr:
Jetzt, tatsächlich ist Fahrt in den Roman gekommen, der Umblätterer hatte recht; allerdings schon ein wenig vor der Seite 311. Jetzt läßt sich auch der Typ aushalten, weil er endlich etwas tut, auch wenn’s ein Mord ist. Interessanterweise spiegelt die Sprache genau das wieder, wird enorm flüssig, ja leuchtet, fast fiebrig mitunter. Also jetzt ist das toll. Ich merk’s daran, daß ich nicht dauernd nach anderem schaue, das zu tun wäre …

»Der Typ« meint die Hauptfigur, den sehr überambitionierten Germa­nisten Konrad Johanser (»Alles Wackenroder, oder was?«). – ANH hat das Buch jetzt übrigens zum zweiten Mal gelesen, beim ersten Mal, im Frühjahr 1996, hat er es für die »Weltwoche« rezensiert: »Anders als zehn Elftel aller gegenwärtigen Literatur wittert Kraussers ›Thanatos‹ dauerhaft nach.«

Der 1. Dezember 2012 wird ein Donnerstag sein, und 23:05 Uhr ist doch eine gute Zeit.
 


Frühstücksrituale

Konstanz, 24. Mai 2010, 22:29 | von Marcuccio

»Darf man als Frau verlangen, die Tageszeitung beim Frühstück vor dem männlichen Partner zu lesen?« Das fragt allen Ernstes neulich eine Leserin in der »Weltwoche« (Nr. 18/2010). Und Kurt W. Zimmermann geht für seine Antwort den historisch-diplomatischen Weg:

»Aus Männersicht ist schon mal positiv, dass frau die Frage überhaupt stellt. Hier schwingt das kollektive historische Bewusstsein nach, dass Zeitungslesen bis Ende des 19. Jahr­hunderts Männersache war.« (Der Zeitungsphilister grüßt!)

Witzig anachronistisch an dem Frage-Antwort-Spiel ist, dass erst gar keiner der Beteiligten erwähnt, dass moderne Zeitungen heute in der Regel aus mehreren, ressortspezifischen Lagen bestehen – »Büchern«, die man durchaus gleichzeitig lesen und sich also auch teilen kann. Man kennt das ja aus den Rama-Frühstücksfamilien: Vater Politik, Sohn Sport, Tochter Lokales, Mutter Kultur. Oder so ähnlich.

Bei der »Frankfurter Rundschau« geht das natürlich nicht, da gibt es diese getrennten Lagen nicht mehr, seit sie vor jetzt genau 3 Jahren auf Tabloid-Format umgestellt wurde. Die FR kann man also nur noch so zum Lesen teilen, wie sich Paco und Millek mal brüderlich den »Spiegel« geteilt haben, ritsch-ratsch, und das ist ja nicht das Schlechteste.


Das Feuilletonjahr 2009 beginnt

Zürich, 1. Januar 2009, 20:23 | von Paco

So. Die letzten Feuilletons des Jahres sind erschienen und durchgelesen, die Best-of-Feuilleton-Liste für 2008 wird letzten internen Streitereien unterworfen (Erscheinungsdatum: 1. bis 2. Januar-Woche).

Währenddessen beginnt das Feuilletonjahr 2009 mit der aktuellen »Weltwoche«, deren Nr. 1/2009 (1. 1. 2009) gerade von mir gelesen wurde, von hinten nach vorn:

Wolfram Knorr schreibt über die zweite Staffel von »Rome« (S. 62), die offenbar gerade auf DVD erschienen ist: »›Rom‹ ist eine kopernikanische Wende im Genre des Sandalen­films.« Na aber mindestens. Und außerdem beginnt gerade wieder ein Kopernikus-Jahr (Commentariolus, 1509), da kann man ruhig mal schön kopernikanisch formulieren.

Auf S. 60 hat es einen Text von Michael Klonovsky über den (Entschuldigung für das Tucholsky-Zitat:) »Verdi des kleinen Mannes«, also Puccini. Es geht wieder mal darum, dass »die Hohepriester der Zunft« ihn so gering schätzen, natürlich absolut ungerechtfertigtermaßen.

Schreibgast Ulf Poschardt rezensiert auf S. 57 den neuen Skoda Superb 2,0 TDI (Preis: 41.800 Franken). Außerdem gibt es auf S. 13 noch die Broder-Kolumne, diesmal geht es um Juristen (»Die Strafrechtspflege ist meiner Gesundheit bekömmlich.«).

Usw. usw. usw.


Paratext-Posse:
Ein Vorspann vor Gericht

Konstanz, 8. Mai 2008, 06:12 | von Marcuccio

Palma hatte in letzter Zeit eine besondere Mission: Sie war Beobachterin in einem Prozess, der außerhalb der Schweiz nicht halb so hohe Wellen geschlagen hat wie in den eidgenössischen Medien. Dabei hat die Sache, davon ist Palma überzeugt, »Brisanz und Relevanz für den ganzen Journalismus«.

Und darum ging’s: Ein »Weltwoche«-Journalist hatte sich wegen angeblich rassistischer Wortwahl vor Gericht zu verantworten. Das Kuriose: Dieser Journalist war für Teile seines Artikels angeklagt, die er nachweislich gar nicht geschrieben hatte.

Freie Journalisten kennen das Problem

Da liefern sie ihre sorgfältig erarbeiteten Reintexte ins Text-OP namens Redaktion ein und müssen wie unsere Testimonials Malte Welding oder Jürgen Dollase immer wieder feststellen, dass bestimmte Amputationen oder hässliche Operationsnarben einfach dazugehören: Hier ein wichtiger Satz, Halbsatz, Begriff rausredigiert, da Textsinn verändert, schlimmstenfalls entstellt! Wie viele Artikel auf diese Weise schon zum Krüppel gemacht wurden, hat die Journalistik bislang nicht eruiert, vielleicht sie sollte es mal tun.

Doch längst nicht nur wo durch die Redaktion gekürzt wird, sondern auch im umgekehrten Fall, also da, wo durch die so genannten Paratexte etwas zum Reintext hinzukommt, lauern Gefahren für das journalistische Gelingen. Es handelt sich zumeist um die Teile von Texten, an denen verschiedene Verfasser beteiligt sind und in der Hauptsache nicht unbedingt der Autor des Artikels selbst: Überschriften, Artikelvorspänne, Teaser, Zwischenüberschriften, herausgestellte Zitate, sonstige separate Hinweise usw.

Da kann es kleinere befremdliche Brüche geben, auf die der Umblätterer gelegentlich hinweist, aber eben auch presserechtlich richtig relevante Risiken und Nebenwirkungen. Von dem Fall, in dem solche Paratexte einen Journalisten bis vor den Kadi gebracht haben, berichtet nun Palma aus der Schweiz.

»Jäger, Räuber, Rätoromane. Die frechste Minderheit der Schweiz«

So hatte die »Weltwoche« auf ihrem Cover der Ausgabe 37/2006 getitelt, und im Heft gab es dann einen für Schweizer Konsens­verhältnisse ziemlich provokanten Artikel von Urs Paul Engeler, in dem der Autor zu dem Schluss kam: Rätoromanisch, offiziell immer noch die vierte Landessprache der Schweiz, sei bei nur mehr 34.000 verblie­benen Sprechern nichts anderes als hochsubventionierte staatliche Folklore.

Das war für die inneralpinen Restposten des Vulgärlateins sicher nicht nett, politisch ebenso wenig bequem, aber alles andere als rassistisch. Doch der Stein des Anstoßes lag anscheinend auch weniger im eigentlichen Artikel als in seinem Vorspann:

»Anachronistisch, kryptisch, erpresserisch, exotisch, fanatisch, neurotisch, räuberisch: Diese Worte fallen einem ein zu Rätoromanisch. Erfinderisch auch. Das sind die paar Schweizer, die diese Sprache sprechen, wenn es um Subventionen geht: um gigantische Subventionen.«

Vorspann mit Nachspiel

Für Palma ist der Lead »offenkundig satirisch«, und überhaupt: die terroni in ihrer Heimat müssten die gleichen Attribute über sich quasi nonstop in »La Padania« lesen … Grinsende Zustimmung meinerseits. Umgekehrt kann man sich natürlich schon fragen, wie hierzulande die Sorben darauf reagiert hätten, wenn sie in einem Leitmedium entsprechend angefeatured worden wären.

Ein rätoromanischer Verein jedenfalls sah darin lauter diskriminierende Attribute und reichte Beschwerde beim Schweizer Presserat ein. Die wurde abgelehnt, der Verein erstattete sodann Strafanzeige und hatte das Glück, auf einen Staatsanwalt zu treffen, der es mal grundsätzlich wissen wollte.

Angeklagt wegen mutmaßlichem Rassismus gegen die Rätoromanen wurde: Urs Paul Engeler. Der aber konnte, wie Palma aus dem »Tages-Anzeiger« vorliest, beim ersten Prozesstermin 2007 geltend machen, diesen Lead gar nicht verfasst zu haben:

»(…), die Produktionsabteilung der ›Weltwoche‹ habe die umstrittenen Passagen verfasst, und nicht er selber. Sein eigener Vorspann habe anders gelautet. Er wäre aber bereit, ›für das Gesamtkunstwerk‹ die Verantwortung zu übernehmen.

Dies gehe nicht, befand damals der zuständige Staatsanwalt. Es müssten die tatsächlichen Autoren zur Verantwortung gezogen werden.«

Dann war Engeler also plötzlich der falsche Angeklagte, versuche ich zu verstehen. Ja, und es war ziemlich peinlich für das Gericht, das erst während der Verhandlung festzustellen, meint Palma. Überhaupt: Wie wenig Ahnung vom Redaktionsalltag müsse man haben, um daraufhin die Verhandlung zu vertagen mit der Forderung, jetzt sollten »die tatsächlich Verantwortlichen für die inkriminierten Passagen« belangt werden?! Als ob jemand ein Register darüber führt, wer welchen Artikelvorspann und wer welche Bildlegende getextet hat!

Kennt die Schweiz kein »V.i.S.d.P.«?

Wieso stand eigentlich überhaupt Engeler und nicht die »Weltwoche« vor Gericht, will ich jetzt dann doch mal von meiner persönlichen Prozessbeobachterin wissen.

Na ja, so Palma: Das konnte die Hauptverhandlung nicht klären. Immer­hin wurde Engeler am 18. April freigesprochen. Ob der Artikelvorspann nun polemisch-provokant, rassistisch, diskriminierend oder was auch immer war, wurde erst gar nicht weiter verhandelt.

Jetzt prüfen die Untersuchungsbehörden wohl noch, ob und wie es weitergeht. Aber es ist doch schon verrückt: Da ist der Verfasser eines Artikels ist für Teile seines Artikels freigesprochen worden, die er gar nicht verfasst hat. Und die »Weltwoche« entzog sich ihrer Verant­wortung in der juristischen Paratext-Posse bislang anscheinend ganz.