Pontormo in Hannover

Hamburg, 27. Mai 2013, 17:00 | von Dique

Hannover war für mich bisher nur Umsteigepunkt, eine Gelegenheit für einen Verspätungskurzaufenthalt, nie direktes Ziel. Im Landesmuseum Hannover gab es jetzt aber bis Mitte Mai eine Pontormo-Ausstellung. Am letzten offiziellen Tag bin ich mit San Andreas dann doch mal von Hamburg aus per Bahn zielgerichtet nach Hannover gefahren.

Um mich ein bisschen aufzuputschen und richtig in Stimmung zu kommen, wollte ich mir gleich bei der Ankunft ein erfrischendes Red Bull kaufen. Die meisten Imbissstände und Bäckereien auf dem Bahnhof hatten aber leider keines im Programm und bei Rossmann gab es nur noch die Light-Version. Erst auf diesem komischen Boulevard vor dem Bahnhof, der in die Innenstadt von Hannover führen könnte, wurde ich in einem Zeitungsgeschäft fündig. Leider war die Dose nicht genug gekühlt und die Stimmung blieb aus.

Es war sehr heiß an dem Tag und ich trug ein für diese Witterung viel zu robustes Jackett. Ich behielt es natürlich trotzdem an und kam sehr ins Schwitzen. Die Stadt Hannover veranstaltete am selben Tag auch irgendeinen Stadtlauf. Auf dem Weg zum Museum kamen uns immer neue Massen von Läufern entgegen, die noch mehr schwitzten als ich.

Irgendwann erreichten wir einen großen Platz vor einem großen Gebäude, dem Rathaus oder dem Schloss der Stadt, ich weiß es nicht, denn ich war ziemlich gedankenverloren. Es dauerte ewig bis zum Museum, und diese quälenden Menschenmassen, das war mir einfach zu viel Hannover. Auf diesem Platz wurden Bratwürste und Crêpes gegessen, es wurde getrunken und von einer Bühne schallten Musik und Ansprachen, doch wir wollten nur schnell zu Pontormo ins Museum. Irgendwann kamen wir dann an einem Park vorbei, auf dessen Wiesen sich erschöpfte Sportler ausruhten, und dahinter sahen wir dann auch endlich das Landesmuseum.

Am Ticketschalter versuchte gerade ein älteres Pärchen empört die Tickets zurückzugeben und verlangte das Eintrittsgeld zurück. Oben werde gesungen und man könne sich nicht auf die Kunst konzentrieren, so ging die Argumentation. Wir waren gespannt. Oben angekommen, war dann tatsächlich ein Raum abgesperrt, in dem Proben oder ein Vorsingen stattfand. Da wurde immer mal wieder ein Musikstück angeschmeckt und wieder abgebrochen, feierlich gekleidete Jugendliche stürzten hinter einem Vorhang hervor und verschwanden durch eine Tür oder umgekehrt.

Uns fesselte dann aber schnell ein Ensemble von Tilman Riemenschneider, drei Figuren in tiefen Emotionen gefangen, bewegt, bedrückt und bemalt. Minimalistisch stehen sie auf einem breiten weißen Sockel nebeneinander vor einer weißen Wand. Die Lockenprachten sind prächtig konturiert, ebenso die Gewänder, die leise zu rascheln scheinen. Die schmalen Gesichter wirken etwas abwesend, aber warm und weich. Sie stellen alle anderen Skulpturen der Sammlung in den Schatten und alles heute Erlebte. Die verschwitzten Sportler sind vergessen. Und das Red Bull scheint in der Erinnerung auf die genau richtige Temperatur gekühlt gewesen zu sein.

Die Pontormo-Ausstellung ist dann nur um das Gemälde des verschraubt-glatzköpfig-fragmentarischen »Hieronymus« herum aufgebaut, der sowieso auch sonst im Landesmuseum hängt. Die Schau belästigt uns zum Glück mit nur wenigen weiteren Stücken und wir haben sie uns alle angeschaut!
 

100-Seiten-Bücher – Teil 69
Alfred Andersch: »Der Vater eines Mörders« (1980)

Berlin, 25. Mai 2013, 15:58 | von Josik

»Eine Schulgeschichte« verspricht der Untertitel, und trotz dieses furchtbaren Themas geht’s ulkig los: Gleich auf den ersten Seiten taucht nämlich der Klassenbeste auf und man fragt sich, ob Alfred Andersch sich hier einen grotesken Scherz erlaubt hat, denn dieser Primus heißt doch tatsächlich Werner Schröter. Der Name dieses Werner Schröter klingt wirklich haargenau so wie der Name des berühmten Regisseurs Werner Schroeter. Andersch und Schroeter waren ja halbe Zeitgenossen, und als Schriftsteller benennt man seine Figuren doch wohl nicht ohne Grund nach einem Promi? Das gleiche kann man sich übrigens auch bei Vladimir Nabokov fragen, der in »Ada« an zwei Stellen eine Figur namens Norbert von Miller herumgeistern lässt – hier ist der Name also ebenfalls so gut wie gar nicht verfremdet, denn womöglich ist diese Figur nach Norbert Miller benannt. Norbert Miller selbst wiederum publizierte auch unter diversen Pseudonymen, etwa unter dem Namen Roderich Fuëß. Ein prominenter Namensvetter ist Roderich Reifenrath, der ehemalige Chefredakteur der »Frankfurter Rundschau«, also just jener Zeitung, die den größten Feuilletonskandal des Jahres 1976 entfachte. Damals nämlich ließ Alfred Andersch dort sein Gedicht »artikel 3 (3)« abdrucken, mit den berühmten Versen: »dem geht der / arsch mit grundeis«.

Länge des Buches: ca. 134.000 Zeichen. – Ausgaben:

Alfred Andersch: Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte. Berlin; Weimar: Aufbau-Verlag 1981. S. 3–93 (= 91 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Massakerminiaturen (7)

Leipzig, 23. Mai 2013, 18:50 | von John Roxton

Der Vater war auf Urlaub gekommen und hatte uns Taschenmesser geschenkt. Am Tag darauf gingen wir hinaus, um der Mutter den großen Ameisenhaufen am Waldrand zu verbrennen. Der Vater hatte die schwarze Jacke ins Gras gelegt und stand im Unterhemd groß und hoch im Gegenlicht der Sommersonne, als er den Sprit aus einer Flasche über den Hügel aus Erde und Tannennadeln goss. Der Brandgeruch vermischte sich mit dem Duft des Waldes. Wir sollten achtgeben, dass das trockene Holz kein Feuer fängt und der Vater versprach ein Malzbier, wenn wir die Königin fangen.

*

Jedes Jahr am 23. Mai:

John Roxton: »Massakerminiaturen«

#1 (2007)#2 (2008)#3 (2009)#4 (2010)#5 (2011)
#6 (2012)#7 (2013) – #8 (2014)#9 (2015)#10 (2021)

Impossibile!

Rom, 20. Mai 2013, 23:22 | von Maltus

An der Via del Corso in Rom liegt der Nuovo Circolo degli Scacchi, ein Herrenclub, der – hätte es ihn damals schon gegeben – Johann Wolfgang komfortableren Unterschlupf geboten hätte als die Casa di Goethe direkt gegenüber. Vespa in der Nebenstraße geparkt, Krawatte umgebunden und rauf die Marmortreppe.

Gegründet wurde der Club von römischen Aristokraten, Geschäfts­leuten und Intellektuellen im Jahr 1872, logiert aber erst seit rund 20 Jahren im Palazzo Rondinini an der Via del Corso. Dort hätte Sig. Goethe zwar keiner schönen Römerin die Hexameter mit fingernder Hand auf den Rücken zählen können – es ist ein reiner Herrenclub. Als Kunstkenner und Antikeliebhaber wäre er aber auf seine Kosten gekommen, denn die Rondinini-Sippe plünderte im 17. und 18. Jahrhundert Roms Ruinen und putzte den Palast mit jeder Menge antikem Marmor auf. Angeblich soll sich hier das halbe Forum Romanum angesammelt haben, in Form von Friesen, Deckenputz und Marmorböden. Darin eingelegt findet man immer wieder steinerne Schwalben, das Symbol der Rondinini-Familie. Im Innenhof gibt es die einzige 6-Stunden-Uhr Roms, die Papst Pius IX. überlebt hat.

In der Bibliothek dann komme ich mit einem Herrn aus Pisa ins Gespräch, der sich nach dem Kindle erkundigt, das wir hier reingeschmuggelt haben. Eine halbe Stunde später sitzen wir an der Bar und trinken einen Mittagsmartini im Kreis von Personen, die aus einem Roman von Lampedusa stammen. Die Zeit steht still, alles scheint möglich. Nur eins nicht: der Gast, der in Jeans Einlass begehrt, erntet ein mitleidiges Stirnrunzeln des Portiers: »Impossibile!«
 

Kaffeehaus des Monats (Teil 75)

sine loco, 18. Mai 2013, 11:10 | von Paco

Wenn du mal richtig Zeitung lesen willst:

Café Wacker, Frankfurt-Bornheim (wie immer ein schlechtes Touri-Foto)

Frankfurt-Bornheim
Das Café Wacker in der Berger Straße.

(Ich weiß nicht mehr, worum es ging, jedenfalls waren wir im Café Wacker und tranken einen Lattino und irgendwer sagte dann den Satz: »Ja genau, das ist das beste Buch, das Thomas Mann nie geschrieben hat.« Etwa zehn Sekunden später trat ein Mann an unseren Tisch, einfach so, und fragte äußerst interessiert: »Entschuldigen Sie bitte, welches Buch hat Thomas Mann nie geschrieben?« Diese slighte Übergriffigkeit in Sachen Literatur scheint Schule gemacht zu haben, siehe Diques Ernst-Jünger-Erlebnis vor einiger Zeit in Hamburg, als ein ähnlicher Typ Mann vom Nebentisch aus interessiert-vorwurfsvoll fragte: »Ähm, was ist denn mit ›dem Arbeiter‹!« Unser Frager hat wenigstens noch ein »Entschuldigen Sie bitte« vorangestellt und daher antworteten wir auch sofort und dankten ihm höflich für sein Interesse an unserem Kaffeehausgeplauder.)
 

100-Seiten-Bücher – Teil 68
Thomas De Quincey: »Die letzten Tage des Immanuel Kant« (1827/1854)

Berlin, 17. Mai 2013, 00:50 | von Josik

Thomas De Quincey ist ja vor allem durch seine Opiumbeichte bekannt, aber eigentlich noch besser ist dieses Büchlein über die letzten Tage des Immanuel Kant. Man muss natürlich nicht alles glauben, was hier behauptet wird, aber es liest sich eben sehr angenehm. Zum Beispiel: »Kant schwitzte niemals«. Oder auch: »Wenn immer jemand vorzeitig starb, pflegte Kant zu sagen: ›Er hat vermutlich Bier getrunken.‹ Oder wenn ein anderer unpäßlich war, fragte er mit Sicherheit: ›Trinkt er etwa Bier?‹«

Warum Kant hier ein derart extremer Bierhass untergeschoben wird, ist nicht recht ersichtlich. Der deutschen Ausgabe dieses Buches ist im Anhang noch eine kleine Abhandlung »Über den Schädel Kants« beigefügt, mit sehr interessanten Aufnahmen von Kants Totenkopfschädel – von vorne, von hinten und im Profil. Von hinten sieht Kants Totenkopfschädel ein wenig aus wie eine unförmige Kartoffel. Aber heute ist es ja sowieso wissenschaftlich erwiesen, dass diese ganze Schädelforschung oder Totenkopfschädelforschung, in die das 19. Jahrhundert so vernarrt war, völliger Quatsch ist.

Länge des Buches: ca. 110.000 Zeichen (engl.). – Ausgaben:

Thomas De Quincey: Die letzten Tage des Immanuel Kant. Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Cornelia Langendorf. Mit Beiträgen von Fleur Jaeggy, Giorgio Manganelli und Albert Caraco sowie einem Anhang. München: Matthes & Seitz 1984.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 67
Carl Zuckmayer: »Henndorfer Pastorale« (1972)

Konstanz, 11. Mai 2013, 23:38 | von Mynaral

Was haben Frank Schirrmacher und Carl Zuckmayer gemeinsam? Richtig, den ausufernden Gebrauch von Gedankenstrichen. Während sie jedoch Schirrmacher in die Tiefen des Internets und der Finanzindustrie geleiten, folgen wir Zuckmayer nur in das Salzburger Hinterland, nach Henndorf am Wallersee. Es ist irgendwann Anfang der Siebzigerjahre und sehr, sehr heiß, »der heißeste Tag eines heißen Sommers«.

Vom Bürgermeister und anderen Honoratioren empfangen kommen Zuckmayer, seine Frau und eine gelöste Dorfgesellschaft an der Wiesmühl an, dem Wohnhaus, das die Familie 1938 Richtung Exil verlassen musste. Es folgen Spuk, Hochsommergewitter, Festlichkeit, Versöhnung und Erinnerung und damit das obligatorische Namedropping: Reinhardt, Werner Krauß, Jannings, Bruno Walter, Hauptmann, Zweig und Horváth gaben sich hier früher die Klinke in die Hand.

In dieser Zeit half Zuckmayer auch dem in Henndorf geborenen Schriftsteller Johannes Freumbichler dabei, mit seinem Bauernroman »Philomena Ellenhub« bei einem Wiener Verlag unterzukommen. Prompt gewann Freumbichler 1937 den Förderpreis zum Großen Österreichischen Staatspreis und kaufte sich vom Preisgeld »einen Winterüberzieher vom Schneidermeister Janka und ein menschenwürdiges Geschirr«, wie sein größter Bewunderer und Enkel später berichtet, der damals allerdings noch sechsjährige Thomas Bernhard.

Während sich in der Wiesmühl die oben genannten berühmten Besucher einfanden, hatte der kleine Thomas noch beseelt mit den beiden Töchtern des Hauses gespielt und bekam »als Höhepunkt, neben allem anderen«, heiße Schokolade mit Schlagobers zu trinken. Eines Tages trat dann der so weißhaarige wie »berühmteste Schriftsteller seiner Zeit« ins Vorhaus und fragte: »Wo kann man denn hier Toilette machen?« Den kleinen Thomas hat das »ungemein beeindruckt«.

Länge des Buches: ca. 104.000 Zeichen. – Ausgaben:

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. Zeichnungen von Clemens Holzmeister. Salzburg: Residenz Verlag 1972. S. 3–119 (= 117 Text­seiten, davon 10 Seiten mit Zeichnungen und 10 Leerseiten).

Carl Zuckmayer: Henndorfer Pastorale. In: Carl Zuckmayer. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Hrsg. von Knut Beck und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer. Band: Die Fastnachtsbeichte. Erzählungen 1938–1972. Frankfurt/M.: S. Fischer 1996. S. 311–362 (= 52 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 66
Pearl S. Buck: »Die Frau, die sich wandelt« (1937)

Berlin, 8. Mai 2013, 12:29 | von Josik

Als Doris Lessing im Jahr 2007 der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde, sagte sie: »I’m 88 years old and they can’t give the Nobel to someone who’s dead, so I think they were probably thinking they’d probably better give it to me now before I’ve popped off.« Als im Jahr 1938 beratschlagt wurde, wer mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet werden soll, war Hermann Hesse zum zweiten Mal nominiert. Abgesahnt hat ihn dann aber, im jugendlichen Alter von 46 Jahren, Pearl Sydenstricker Buck, die kein einziger Buchmacher überhaupt auf dem Zettel hatte und von der im Nobelpreiskomitee noch nie zuvor die Rede war. Dies führte dort zur Lex Pearl S. Buck, wonach fortan nie wieder jemand sofort bereits bei der Erstnominierung literaturnobelausgepreist werden darf.

Pearl S. Buck jedenfalls musste nun niemandem mehr etwas beweisen und konnte nach 1938 machen, was sie wollte. Deshalb hat sie dann auch den Hundertseiter »The Woman who was changed« geschrieben, ein Buch, das sämtliche Ingredienzien für einen Bestseller, Topseller und Longseller enthält und das unbedingt wieder neu aufgelegt werden sollte. Es muss ja nicht unbedingt unter dem ambitionierten Titel »Die Frau, die sich wandelt« sein. Die aus dem Fernsehen bekannte Schriftstellerin Christine Westermann gab einem ihrer Romane den etwas eingängigeren Titel: »Baby, wann heiratest du mich?« Lustigerweise ist dieser Christine-Westermann-Titel auch schon die komplette Inhaltsangabe des beliebten Buckbuchs.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Pearl S. Buck: Die Frau, die sich wandelt. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anke Schmidt. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1989. S. 5–107 (= 103 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 65
Peter Bichsel: »Cherubin Hammer und Cherubin Hammer« (1999)

Berlin, 4. Mai 2013, 18:08 | von Josik

In Peter Bichsels »Cherubin Hammer und Cherubin Hammer« geht es (wie der Name schon sagt oder wie die Namen schon sagen) um die Geschichte von Cherubin Hammer und um die Geschichte von Cherubin Hammer. Obwohl es sich um einen erzählerischen Text handelt (»den zweitlängsten Erzähltext des Autors«), ist er mit insgesamt 54 Fuß­noten durchsetzt, die aber nicht weiter stören.

In Fußnote 2, in Fußnote 41 und in Fußnote 53 ist vom Zürcher »Tages Anzeiger« die Rede, im Volksmund auch ›Tagi‹ genannt. In Fußnote 2 und in Fußnote 53 ist sogar, noch präziser, von der Seite 14 des »Tages Anzeiger« die Rede. Wäre darüber hinaus auch noch in Fußnote 41 von der Seite 14 des »Tages Anzeiger« die Rede, so könnte man glatt sagen, dass in diesem Buch nicht nur der »Tages Anzeiger« als solcher, sondern eben die Seite 14 des »Tages Anzeiger« ein Leitmotiv ist.

Als Cherubin Hammer dann gefragt wird, wie er denn dazu gekommen sei, zu sagen, dass auf Seite 14 des »Tages Anzeigers« etwas stehe, das unbedingt gelesen werden solle, antwortet er (in Fußnote 2): »Ich habe es nicht verstanden, da habe ich mir gedacht, es könnte etwas für dich sein.«

Irgendwie kam mir das alles sehr wunderlich vor, deshalb bin ich neulich, am Karfreitag, extra zum Hauptbahnhof gefahren in der Absicht, den »Tages Anzeiger« käuflich zu erwerben und dann mal nachzukucken, ob die Seite 14 denn wirklich so schwer verständlich ist? Dummerweise war der »Tages Anzeiger« aber schon ausverkauft bzw. an der Kasse konnten sie mir auch gar nicht sagen, ob er denn an normalen Tagen (Nichtfeiertagen) erhältlich ist.

Ersatzhalber bin ich jetzt wenigstens auf die Homepage des »Tages Anzeiger« gegangen und habe mir die Startseite komplett durchgelesen und, ja!, tatsächlich!, es gibt dort ein (1) Wort, das nicht auf Anhieb verständlich ist: »Schnitzelbank-Opfer«.

Länge des Buches: ca. 138.000 Zeichen. – Ausgaben:

Peter Bichsel: Cherubin Hammer und Cherubin Hammer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999. S. 5–109 (= 105 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 64
Paul Watzlawick: »Anleitung zum Unglücklichsein« (1983)

Leipzig, 3. Mai 2013, 00:20 | von Paco

Mein Exemplar kommt aus dem Antiquariat und schon auf Seite 7 ist ein Wort angestrichen: »altruistischen«. Neben der Zeile steht dann ein krakeliges Fragezeichen. Auf den nächsten Seiten geht das so weiter, per Bleistiftstrich und Fragezeichen sind folgende weitere Einzelwörter angemarkert: »Upanischaden«, »Aphorismus«, »sublimes«, »eminent«, »Insinuation«. Das letztgenannte Wort steht auf Seite 25. Offenbar war der unbekannte Vorbesitzer des Buches dann so unglücklich über Watzlawicks abundierenden Fremdwortgebrauch, dass er gar nicht weitergelesen hat.

Das Ganze erinnerte mich an Adornos berühmten Aufsatz »Wörter aus der Fremde«, der so beginnt: »Zum ersten Male seit meiner Jugend haben mich Protestbriefe wegen des angeblich übertriebenen Gebrauchs von Fremdwörtern nach der Radiosendung der Kleinen Proust-Kommentare erreicht. Ich sah das Gesprochene daraufhin durch und fand gar keinen besonderen Aufwand an Fremdwörtern darin«. Im Folgenden verteidigt Adorno dann seine Benutzung der Fremdwörter »suspendiert«, »Disparatheit«, »designiert«, »ratifizieren«, »imagines«, »Soirée«, »Sexus«, »society-Leute«, »kontingent«, »Spontaneität« und »Authentizität«.

Von Watzlawick gibt es keine solche Rechtfertigung, er hat sich an keiner Stelle dafür entschuldigt, dass er statt »Sinnspruch« »Aphorismus«, statt »fein« »sublim« oder statt »herausragend« »eminent« geschrieben hat. Ein Best- und Longseller ist sein Buch trotzdem geworden, zuletzt wurde es sogar noch verfilmt. Adornos »Kleine Proust-Kommentare« und sein Fremdwörter-Essay wurden hingegen nur im Radio übertragen.

Länge des Buches: ca. 118.000 Zeichen. – Ausgaben:

Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper, 31. Auflage 1990. S. 9–128 (= 120 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)