Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 3):
»Mordad« (1995)

Berlin, 10. April 2013, 09:30 | von Montúfar

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 57)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Ich musste die Erzählung »Mordad« (1995) von Ulla Berkéwicz im Stehen lesen. Ich hatte den ganzen Tag in der Kippenberger-Ausstellung verbracht und missglückte Kreuze und vieles andere mehr angestaunt. Dabei hatte ich die Unwirtlichkeit des Bodens im Hamburger Bahnhof völlig unterschätzt und mir furchtbare Rückenschmerzen zugezogen. Das tat dem Buch aber keinen Abbruch. Zwar kommt in ihm kein Maler vor, sondern nur ein Bildhauer, aber diese Transferleistung konnte ich als Leser problemlos erbringen.

Dieser Bildhauer nun ist Teil einer schrecklichen Nachbarschaft in einem Hamburger Villenviertel. Die Erzählerin gerät durch Zufall in diese Gegend, eigentlich kommt sie aus Berlin, möchte aber in Hamburg ihre Schreibblockade überwinden. Sie bemerkt schnell, dass ihre Nachbarn sich untereinander nicht ausstehen können, teilweise sogar gegeneinander Prozesse führen, in die die Erzählerin erst als Angeklagte und dann als Zeugin hineingezogen wird. Das, eine widerspenstige Gartentüre und eine Nachbarin, die die ganze Nacht über Liszts »Csárdás Macabre« spielt (ein wirklich nerviges Stück), tragen nicht gerade zur Überwindung der Schreibblockade bei.

Die Erzählerin befürchtet, dass »der Zweifel […] vielleicht Stürmergestalt annehmen und meinen Schreibplan mit einem Freistoß aus dem Feld kicken würde, so daß ich den eigenen dünnen Faden endgültig loslassen und meine leere Spule zurückrollen müßte in den festen Rahmen geliehener Geschichten« (S. 23). Es ist schier atemberaubend, wie die schreibgehemmte Erzählerin hier die Bildlichkeit von Fußball und Nähen ineinanderfließen lässt und so die Trennung der Geschlechterstereotype ins Wanken bringt. Was inzwischen im Literaturbetrieb für knallige Medienaufmerksamkeit herhalten musste, ist hier schon Literatur geworden.

Um sich aus diesem stofflichen Abseits zu befreien, holt sich die Erzählerin – ohne es zuzugeben – Hilfe bei einem anderen großen 100-Seiten-Autor. Wie Peter Handke im »Versuch über die Jukebox« sucht sie sich einen kleinen Schreibtisch an einem Fenster und spitzt ihre Stifte. Während aber Handke sie aus dem Fenster heraus spitzt und den davonfliegenden »Bleistiftgirlanden« hinterherschaut, bleibt der Verbleib der Spitzreste bei Berkéwicz offen. Dafür lagert sie ihre Stifte ordentlich in einem Wasserglas (S. 20), Handke hingegen »benützte seine Bleistifte auch zum Befestigen des Vorhangs in den Fensterritzen«.

Handke beendete seine Schreibblockade bekanntermaßen durch ausführliche Spaziergänge auf der kastilischen Hochebene rund um das Dorf Soria. Das geht Ulla Berkéwicz entschieden zu langsam. Sie schreibt gewissermaßen einen Handke für Eilige und lässt ihre Erzählerin durch den Hamburger Vorort fast ausschließlich rennen oder zumindest gehetzt gehen. Dadurch hat die Erzählerin plötzlich eine Einsicht in die Zeitstruktur des Schreibens, eine Einsicht, »daß da noch mehr läuft«:

»Der Stift in meiner Hand, als wollte er kritzeln, gedankenlos, wie manche das beim Denken tun, Gedankenkritzeleien, Unterkritzelungen von Genauigkeitsgedanken, fing an, über die leere rechte Seite meines Ringbuchs, die neben der linken, auf die ich das Wort Kun geschrieben hatte, eingeheftet war, eine Linie zu ziehen, von rechts nach links, mitten durch die Blattmitte durch, eine Zeitlinie, horizontal, so wie gewohnt, die ohne Knacks und Krümmung pfeilgeradeaus verlief, setzte zu einer zweiten Linie an, Blattmitte oben, zog die, rechtwinklig zu der ersten, als Gegenzeit nach unten Mitte durch, genauso pfeilgerade wie die erste, und eine dritte aus der linken Seitenecke unten, fuhr schräg nach oben in die rechte Ecke ab, und eine vierte schoß von oben links nach unten rechts, und alle vier trafen in der Blattmitte aufeinander, die Zeit, in der ich saß, auf meinem Stuhl, an meinem Brett, vor meinem Fenster, hinter dem es langsam dunkel wurde, mit meinen drei imaginären Zeiten, trafen sich am Blattpunkt, Schreibpunkt, am Punkt, wo man kapiert, daß man mit seiner Schreibzeit nicht auf die Zeit vor seinem Fenster angewiesen ist, daß da noch mehr läuft, noch viel mehr Mehr, am Punkt, wo die drei Aggregatzustände der gewohnten Zeit, in der man sitzt, auf seinem Stuhl, an seinem Brett, vor seinem Fenster, hinter dem es dunkler wird, mutieren in Vergangenwart und Gegenheit, in Zuheitwartkunft, Kunftzuwartheit, wos zündet, kracht, wo das Erzählen losgeht und sich hinwegschreibt über jede Zeit.« (S. 66f.)

Das ist wahrlich Literatur für die »Zuheitwartkunft«, für die »Kunftzuwartheit«, und die Erzählerin ist so berauscht davon, dass sie weiter hastet und sogar nur noch im Stehen isst. Zumindest so lange, bis eine große Julihitze einsetzt, die der Erzählung den Titel gibt, denn Mordad bezeichnet im persischen Kalender die sehr heiße Zeit vom 23. Juli bis zum 22. August. Da kommt es dann nämlich zum großen Showdown mit allen Nachbarn und der Erzählerin im Gartenhaus des Bildhauers.

Bis zum Juli konnte ich mit meinen Rückenschmerzen leider nicht warten, aber ich habe häufiger einmal im Stehen gegessen und bin regelmäßig joggen gegangen, und muss sagen: Für uns gewöhnlich so getriebene und beschleunigte Hamsterradfahrer wirkt diese Erzählung wirkliche Wunder.

Länge des Buches: ca. 125.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Mordad. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. S. 5–119 (= 115 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 2):
»Michel, sag ich« (1984)

Barcelona, 9. April 2013, 10:25 | von Dique

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 56)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Zwei Jahre nach ihrem Debuthit »Josef stirbt« folgte 1984 »Michel, sag ich«. Es ist ein kurzes Buch und erzählt in kurzen Sätzen kurze, apokalyptische Traumsplitter. Eine Frau vom Land geht in die Stadt (Frankfurt), um Michel zu suchen. Dort begegnen ihr Leere, Gewalt, Repression und Widerstand. Da es sich um Literatur handelt, erfährt man nie so recht, was die Ursache des ganzen Elends ist. Alles bleibt schemenhaft in Traumsequenzen stecken. Hätte Christa Wolf je eine Endzeit-Liebesgeschichte geschrieben, sie hätte so geklungen wie »Michel, sag ich« von Ulla Berkéwicz.

Aber nicht nur das macht diesen großzügig gesetzten und daher sehr kurzen Hundertseiter so bemerkenswert und so wertvoll. Nicht nur zeitlich muss man diese Dystopie aus den Achtzigern irgendwo zwischen Carl Amerys »Der Untergang der Stadt Passau« (1975) und Cormac McCarthys »The Road« (2006) ansiedeln. Neben dem Inhalt begeistern natürlich auch die Kürze und die Dynamik des Buches, was in einem sehr flotten Lesetempo resultiert. Dadurch lässt sich die Lektüre gut auf ca. zweimal Frühstücken verteilen. Das Frühstück sollte aber einigermaßen karg sein, damit es auch gut zur Stimmung passt.

Länge des Buches: ca. 75.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Michel, sag ich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984. S. 5–100 (= 96 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Tag 1):
»Josef stirbt« (1982)

Berlin, 8. April 2013, 09:55 | von Josik

(= 100-Seiten-Bücher – Teil 55)

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(Vorwort zur Festwoche hier. Inhaltsübersicht hier.)

Am 4. September 1982 erscheint Ulla Berkéwiczs Debut »Josef stirbt«. Danach geht es Schlag auf Schlag. Drei Tage nachdem der Bundestag für Helmut Kohl als Bundeskanzler gemisstrauensvotet hat, taucht der Name Ulla Berkéwicz zum ersten Mal im »Spiegel« auf – ihr literarischer Einstand wird über vier riesenlange Spalten hinweg in einer einzigartigen und unvergleichlichen Jubelarie abgefeiert. Natürlich zu Recht, denn wenn man die Erzählung »Josef stirbt« heute noch einmal zur Hand nimmt, ist man einfach baff, wie frisch, wie unverbraucht, wie zeitlos der damalige Jugendslang auch heute noch klingt. So sagt die Ich-Erzählerin einmal: »Ich ziehe mir am Automaten drei Nuts« (S. 20). Sich ganze drei Nuts auf einmal zu ziehen, was ist da los! Darüber hinaus sind dann auch noch zwei kleine literaturhistorische Scherze in den Text eingebaut, es tauchen nämlich »der blonde Sohn, der Egbert« (S. 25) sowie »der blonde Sohn, der Egbert« (S. 114) auf.

Die Titelfigur in »Josef stirbt« war bis ins sehr hohe Alter hinein von recht robuster Konstitution, denn erst »mit 88«, so erfahren wir, »kam der erste Schnupfen« (S. 13). Darüber hätte Friedrich Theodor Vischer, der sogenannte V-Fischer, wahrscheinlich eine Hohnlache aufgeschlagen, hatte er doch seit jeher mit dem Schnupfen zu kämpfen und sich in seiner 600-seitigen Novelle »Auch Einer«, die quasi ausschließlich vom Schnupfen handelt, darüber beschwert, dass, wer Schnupfen hat, trotzdem nicht als berechtigt gilt, krank zu sein. Ein Happy End gibt es in Ulla Berkéwiczs Debut natürlich nicht, und spoilern kann man hier schlechterdings auch nichts, wenn man verrät, worauf’s dann halt doch irgendwann hinausläuft: wenig überraschend, stirbt Josef.

Länge des Buches: ca. 108.000 Zeichen. – Ausgaben:

Ulla Berkéwicz: Josef stirbt. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982.

Ulla Berkéwicz: Josef stirbt. Erzählung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985. S. 5–115 (= 111 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Die große Ulla-Berkéwicz-Festwoche (Vorwort)

Berlin, 7. April 2013, 10:00 | von Josik

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Ulla Berkéwicz ist die klassische Hundertseiterautorin der Gegenwart. Grund genug also, dass wir eine Woche lang jeden Tag – ab morgen – einem ihrer Hundertseiter eine kleine Betrachtung widmen. Nicht bunt durcheinander, nicht nach Lust und Laune, sondern streng chronologisch geordnet – um auf diese Weise einen außerordentlichen schriftstellerischen Entwicklungsgang nachzeichnen zu können.

In dem 2010 erschienenen Werk »Überlebnis« heißt es: »Und jetzt, nach elf Büchern manchmal, in der Nacht manchmal, ist mir bang, was aus den Wortfiguren, was aus den Welten, die ich für sie entworfen habe, wohl geworden ist.« (S. 27) Ja, was ist aus ihnen wohl geworden? Dieser Frage gehen wir nach. Manche dieser inzwischen sogar schon mehr als elf Bücher unter- bzw. überschreiten die Hundertseitergrenze zwar, aber es bleiben immer noch genug Werke für eine ganze Ulla-Berkéwicz-Festwoche übrig.

Was wir während dieser Festwoche leider nicht mit würdigen können, sind Ulla Berkéwiczs Übersetzungen. Nach Angaben der Deutschen Nationalbibliothek lautet Ulla Berkéwiczs Pseudonym Johannes Fein. Eine Information zu diesem Pseudonym hat Ulla Berkéwicz offenbar an die Autorin der Studie »Clarissas Krambude – Autoren erzählen von ihren Pseudonymen« weiterleiten lassen: »Frau Unseld-Berkéwicz möchte die Geschichte ihres Pseudonyms Johannes Fein nicht preisgeben, wenn, dann wird sie sie eines Tages selbst aufschreiben, schrieb mir 2006 ihre Assistenz Frau Christina Striewski.« (S. 241)

Tatsächlich ist die Geschichte des Pseudonyms Johannes Fein bisher bloß in Umrissen bekannt. Fest steht aber, dass dieses Pseudonym eine eigene Biografie hat. Im Feuilleton des Hamburger Abendblatts vom 7./8. August 1976 wurde auf Seite 23 über die Inszenierung von Shakespeares »Sturm« am Schauspielhaus unter der Regie von Wilfried Minks berichtet. »In einem Gespräch mit Minks erhielt das Hamburger Abendblatt erste Einblicke in die Arbeit des Regisseurs und Bühnenbildners«, so heißt es in diesem Artikel aus der Feder von Eberhard von Wiese.

Und weiter: »Es wird keine ›hausgemachte‹ Übersetzung wie bei ›Othello‹ geben. Das klingt verheißungsvoll. Minks: ›Unsere Übersetzung stammt von dem Ost-Berliner Schriftsteller Johannes Fein. Ich halte sie für geglückt. Sie kommt dem englischen Original sehr nahe. Sie ist modern, ohne modernistisch zu sein. Die Schlegel-Tieck-Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert liegen uns doch zu fern.‹« Der Regisseur Wilfried Minks, der hier Johannes Fein, den Übersetzer des ›Sturms‹, als einen Ost-Berliner Schriftsteller ausgibt, ist natürlich niemand anderer als Ulla Berkéwiczs erster Ehemann, und man kann die ausgeklügelte Maskerade dieses Pseudonyms sowie die eigens erfundene Herkunft nur bewundern: Johannes Fein ein Ost-Berliner!

Nur noch antiquarisch angeboten wird eine 1977 im Münchner Drei Masken Verlag erschienene Ausgabe des »Mittsommernachtstraums«, wieder übersetzt von einem Johannes Fein. Und auch eine der vielen Übersetzungen von John Millington Synges Drama »The Playboy of the Western World« scheint von einem Johannes Fein zu stammen. Um all dies aber wird es in den kommenden Tagen, wie gesagt, nicht gehen, denn es wäre ja auch äußerst ermüdend, wollte man tagelang einfach nur irgendwelche Fakten aneinanderreihen. Vielmehr wenden wir uns der Literatur zu und widmen uns Ulla Berkéwiczs Hundertseiter­autorenschaft. Wenn Der Umblätterer einen Wunsch äußern dürfte, so wäre es der, dass Ulla Berkéwicz noch einen Hundertseiter über die Geschichte ihres Pseudonyms Johannes Fein verfasst.

Dass jeder ihrer bisher erschienenen Hundertseiter, die wir hier vorstellen und der literarisch interessierten Öffentlichkeit nachdrücklich ans Herz legen möchten, tatsächlich ein ausgesprochen feiner Hundertseiter ist, wird sich an jedem der kommenden sieben Tage ohnehin zur Genüge erweisen. Der Sinn der großen Ulla-Berkéwicz-Festwoche ist es also, das Publikum für Ulla Berkéwiczs Hundertseitenwerke zu gewinnen. Morgen geht’s los.
 

100-Seiten-Bücher – Teil 54
Elfriede Gerstl: »Spielräume« (1977)

Berlin, 6. April 2013, 11:25 | von Josik

Das Buch »Spielräume« wird hie und da als Elfriede Gerstls ›einziger Roman‹ bezeichnet, dabei trägt es in Wirklichkeit gar keine Gattungs­bezeichnung, sondern ist einfach nur eines der wunderbarsten Bücher, die jemals geschrieben wurden. Es ist schwer, sich für ein charakteristisches Zitat aus diesem Buch zu entscheiden, weil man im Grunde jeden einzelnen Satz zitieren müsste, es ist ein Wunderwerk an Lakonie.

Ganz besonders herrlich aber fand ich diesen Satz, den man sich als Lebensmaxime zu eigen machen sollte: »ich halte nichts von Problemen«. Als ich ziemlich genau in der Mitte der Seite 25 diesen tollen Satz gelesen habe: »ich halte nichts von Problemen«, fiel mir wieder eine Stelle aus einem Interview ein, das Peter Scholl-Latour im November 2001 der Zeitschrift KONKRET gegeben hat. Da sagt Scholli: »Wenn ein souveräner palästinensischer Staat gegründet wird, wäre Israel existentiell bedroht.« Darauf fragt ihn die KONKI: »Und wie würden Sie das Problem lösen?« Scholli sagt lakonisch: »Gar nicht.« Die KONKI fragt irritiert: »Warum?« Und Scholli stellt die sehr berechtigte Gegenfrage: »Sie meinen auch, daß man alle Probleme lösen muß?«

Wer sich eingehender mit Elfriede Gerstl beschäftigen möchte, dem sei übrigens noch Herbert J. Wimmers Arbeit »In Schwebe halten – Spielräume von Elfriede Gerstl« nahegebracht. Dort ist in Faksimile z. B. ein Brief abgedruckt, den Walter Hasenclever 1963 an Elfriede Gerstl geschrieben hat, und in diesem Brief heißt es: »Falls Sie am Flughafen Tempelhof ankommen, könnten wir uns am Eingang zum Gepäckabholeplatz treffen; wir würden daran kenntlich sein, daß wir die ›Hundejahre‹ von Günter Grass sichtbar tragen.« Die »Hundejahre« von Grass als Erkennungszeichen – ist das nicht komisch!

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Elfriede Gerstl: Spielräume. Linz: Ed. Neue Texte 1977.

Elfriede Gerstl: Spielräume. Mit einem Nachwort von Heimrad Bäcker. Neuauflage. Graz; Wien: Literaturverlag Droschl 1993.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

100-Seiten-Bücher – Teil 53
Édouard Dujardin: »Geschnittener Lorbeer« (1887)

Paris, 5. April 2013, 01:20 | von Niwoabyl

Das Wagnerjahr wollte ich nicht verstreichen lassen, ohne einmal an Édouard Dujardin erinnert zu haben, den Gründer der französischen »Revue wagnérienne«. Interessanterweise betitelte der vergessene Symbolist seinen epochalen Hundertseiter nicht »Winterstürme wichen dem Wonnemond« oder so, sondern »Les Lauriers sont coupés«, nach dem zweiten Vers des berühmten alten französischen Kreisliedes »Nous n’irons plus au bois«, nicht weniger ohrwurmhaft, dafür aber einen Deut pessimistischer. Über die eigentliche Bedeutung dieses Titels lässt sich prächtig spekulieren, selbst Petrarca wird dazu bemüht, was man ein bisschen weit hergeholt finden darf. Eigentlich soll das Liedlein, heute noch französischer Pausenhofhit, die Gründung der ersten Versailler Bordelle kommemoriert haben, und im Buch geht es ja auch um käufliche Liebe.

Erzählt wird ein Abend im Leben eines »Studenten«, der gleich anfangs gesteht, dass er sich nicht sonderlich um Jura kümmert. Da er im Paris des Fin de siècle lebt, bleiben ihm freilich drei ausgesuchte Betätigungsfelder: die oberflächlichen Gespräche mit Künstlerfreunden, das einsame Essen in deprimierenden Cafés (man fühlt sich an Huysmans‘ großartigen »À vau-l’eau« erinnert) und schließlich das Theater, will sagen: das abendliche Warten auf Schauspielerinnen, mit denen sich eventuell Liebschaften anfangen lassen.

Amüsant ist vor allem die wilde Stilmischung, ein wirkliches Fin-de-siècle-Potpourri, von derben, »authentischen« Ausfällen über komische Szenen zum entfesseltesten symbolistischen Gefasel. Der Auftakt zum Beispiel möchte gern so etwas sein wie ein Prosa gewordenes »Rheingold«-Vorspiel, mit einer Erzählstimme, die aus dem Nichts entsteht und sich allmählich in den Abend hineinmaterialisiert. Und nach nur ein paar Seiten schon will der Besitzer besagter Stimme im Café eine Frau durch gezieltes Billettzustecken anbaggern. Dann freilich verzichtet er darauf und macht sich ihr erst dadurch bemerkbar, dass er sorgfältig sein Billett zu kauen beginnt. So schnell verlässt man hier Bayreuth zugunsten der Vaudeville-Bühne.

Obwohl die Erzählung das erste bekannte Beispiel eines buchlangen inneren Monologs sein soll – so will es die Literaturgeschichte –, fühlte ich mich eben eher an die vielen komischen Monologe erinnert, die damals Furore machten, etwa an Georges Courtelines »Théodore cherche des allumettes«. Darin tappt die beschwipste Hauptfigur eine halbe Stunde auf der Suche nach Streichhölzern im Dunkeln, somit allerhand Kataströphchen verursachend, die er zur Freude des Publikums laut kommentiert. Das ist immer noch sehr lustig, und so was Hochkomisches hätte Dujardin wahrscheinlich auch drauf gehabt. Wäre er nur nicht Mallarmé-Freund gewesen.

Länge des Buches: ca. 146.000 Zeichen (frz.). – Ausgaben:

Édouard Dujardin: Geschnittener Lorbeer. Roman. Aus d. Franz. von Günter Herburger. Köln; Berlin: Kiepenheuer u. Witsch 1966.

Edouard Dujardin: Die Lorbeerbäume sind geschnitten. Dt. von Irene Riesen. Nachwort von Fritz Senn. Zürich: Haffmans 1984.

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)

Velázquez

Madrid, 3. April 2013, 22:43 | von Dique

Ich bin drei Tage in Madrid und nehme als erstes Infobit mit, dass es im Louvre keinen einzigen Velázquez gibt. Und das, wo doch in Orléans, in Rouen und selbst in São Paulo einer hängt. Aber der Louvre, das Museum mit der z. B. auch höchsten Leonardo-Dichte, hat einfach keinen. Ich nehme das also zur Kenntnis, während wir durch den Prado laufen, wo es wiederum so vor Velázquessen wimmelt, dass man es kaum aushält. Man kann sich kein Bild wirklich anschauen, weil gleich daneben das nächste Spitzenstück hängt.

Velázquez ist natürlich auch ein schöner Name, vielleicht reden wir auch deshalb so viel von ihm, um immer wieder Velázquez sagen zu können. Mir gefällt eigentlich die Malerei von Ribera viel besser, auch wenn der natürlich rein technisch gesehen keineswegs besser ist, aber der Name hat natürlich gegen Velázquez keinen Klang.

Irgendwann reden wir dann doch noch über was anderes, leider ist das neue Thema der frühe Rubens, und zu Rubens muss ich mich immer ziemlich zwingen. Zu allem Übel läuft auch gerade eine große van-Dyck-Ausstellung, Rubens-Schüler bekanntlich, und diese Ausstellung laufen wir noch schnell Stück um Stück ab, nach jeder Ecke hoffe ich auf ein Ende, aber für eine lange Zeit schließt sich ganz verwinkelt immer direkt der nächste Raum an.

Es dauert etwas, bis wir endlich in die Dauerausstellung gelangen, in der wir dann leider auch gleich auf die Venezianer stoßen. Tizian ist ja immer herrlich und hier hängt auch das Wahnsinns-Reiterportrait von Karl V. auf dem Mühlberg, das beste aller Reitergemälde, noch besser als die Philipp-IV.-Reiterportraits von Velázquez. Aber wir stoßen zuerst auf den venezianischen Schrecken von Veronese und Tintoretto. Irgendwann ist der auch vorbei, aber dann müssen wir leider schon los, weil wir noch zur Vorbesichtigung bei Ansorena wollen. Dort gibt es neben zwei van Dycks im Freiverkauf auch einen sehr, sehr guten Meister von Frankfurt. Der steht im Obergeschoss einfach so auf einem klassizistischen Stuhl rum, ebenfalls im Freiverkauf zum stattlichen Preis.

Dann gehen wir endlich was essen und bestellen Percebes. Denn ein Paar am Fenster hat diese ungewöhnlichen Dinger auf dem Teller liegen, und wir fragen aus Neugier nach. Die Dame, die auf jeden Fall einem Rubensgemälde entstiegen ist und nun nach einem harten Tag an den Wänden des Prado hier ihren Feierabend begeht, sagt uns, dass es sich eben um Percebes handele, was wir akustisch erst nach einigen Nachfragen verstehen.

Die Percebes sind so länglich und krustig und sehen aus wie Schildkrötenfüße, man dreht sie auf und isst das salzige, rosa Innere, die Konsistenz liegt zwischen Muschel und Calamares. Ich texte einer einheimischen Freundin, doch die Antwort erreicht mich erst am nächsten Morgen: »Percebes are some kind of seafood. They are disgusting und expensive. Don’t order them.« Mittlerweile wissen wir, dass es sich um sogenannte Entenmuscheln handelt. Sie sind expensive und disgusting und ich werde sie nicht noch einmal bestellen.
 

Die Racine-Charts

Paris, 2. April 2013, 19:55 | von Niwoabyl

Die 12 Stücke von Racine, objektiv geordnet nach Qualität:

1. Andromaque (1667)
Ohne Worte, das Stück der Stücke!

2. Les Plaideurs (1668)
Die mit Abstand lustigste Komödie des 17. Jahrhunderts!

3. Britannicus (1669)
Action pur!

4. Bérénice (1670)
« Hélas ! »

5. Mithridate (1672)
Kennt kein Mensch und hat daher auch niemand gelesen, deshalb.

6. Phèdre (1677)
Gehört eigentlich in die Top-3, wird aber eh schon zu viel gelobt.

7. La Thébaïde (1664)
Jugendstück Nr. 1, keine Erinnerung mehr daran, außer dass es irgendwie okay gut war.

8. Alexandre le Grand (1665)
Jugendstück Nr. 2, dito.

9. Bajazet (1672)
Eigentlich langweilig, aber die hinter der Bühne wartenden Henker sind großartig. Wenn Bajazet die Bühne verlässt, ist er tot.

10. Esther (1689)
Alttestamentliche Tragödie 1, unlesbar.

11. Athalie (1691)
Alttestamentliche Tragödie 2, dito.

12. Iphigénie (1674)
Ein Happy End, unfassbar, so was geht doch nicht, trotz Euripides!

 

100-Seiten-Bücher – Teil 52
Joseph Brodsky: »Ufer der Verlorenen« (1989)

Leipzig, 31. März 2013, 16:05 | von Paco

Brodsky war seit 1972 jeden Winter für ein paar Tage oder Wochen in Venedig und hat deshalb 17 Jahre später dieses schöne kleine Pamphlet darüber veröffentlicht. Es erschien 1989 zunächst in italienischer Übersetzung unter dem ursprünglichen Titel »Fondamenta degli incurabili«, das englische Original dann in erweiterter Form als »Watermark«. Es liegt nun die Vermutung nahe, dass Brodsky dieses Buch geschrieben hat, um weitere Touristen davon abzuhalten, in seine Winterresidenzstadt zu reisen. Immerhin war er damals schon Nobelpreisträger, seinen Worten wird also einiges Gewicht beigemessen worden sein.

Brodsky selbst ist jedenfalls der beste aller Touris, was er auch unumwunden zugibt. Angewidert ereifert er sich über andere und vor allem deutsche Pauschalreisende und macht seine Leser ebenfalls zu Touristen, die sich wiederum über Brodsky aufregen sollen. Denn er mag zum Beispiel Wagner und Tschaikowski nicht, was provozierend unoriginell ist, und außerdem rechnet er auf wohlfeile Weise mit Ezra Pound ab. Zusammen mit Susan Sontag besucht er dessen Witwe, die ihnen den Gefallen tut, die Machenschaften ihres verstorbenen Mannes unaufgefordert mit einer elend langen Rechtfertigungsrede zu verteidigen. Brodskys Bericht von diesem Besuch wirkt so unangenehm gerecht wie damals Michael Moores Visite beim armen NRA-Maskottchen Charlton Heston, aber wie gesagt, das ist sicher genau so auch beabsichtigt.

Insgesamt hat der Venedigveteran für den Band 48 Kurztexte versammelt, lose verbundene Impressionen mit poetischem Mehrwert, wobei das jetzt unbedingt positiv gemeint ist. Denn wer literarische Beschreibungen des Geruchs von gefrorenem Seetang liebt, muss dieses Buch unbedingt lesen.

Länge des Buches: > 115.000 Zeichen. – Ausgaben:

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. München; Wien: Hanser 1991.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Mit Photographien von Peter-Andreas Hassiepen. München; Wien: Hanser 2001.

Joseph Brodsky: Ufer der Verlorenen. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2002. S. 5–94 (= 90 Textseiten).

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100-Seiten-Bücher – Teil 51
Eduard Mörike: »Mozart auf der Reise nach Prag« (1855)

Berlin, 28. März 2013, 15:53 | von Josik

Diese gewitzte und raffiniert gebaute Novelle gehört zu Mörikes Knüllern. Wer den originellen Wolfgang Amadeus Mozart und seine bezaubernde Gattin Constanze noch nicht ins Herz geschlossen hat, wird dies spätestens nach der Lektüre dieses herzerfrischenden Werkes tun. Was man einem Schwaben wie Mörike vielleicht nicht vorwerfen kann, was man ihm letztlich dann aber vielleicht doch vorwerfen muss, ist allerdings, dass er Wolfgangs bzw. Constanzes Dialekt nicht authentisch wiedergegeben hat, sondern eben nur so, wie ein Schwabe sich vorstellt, dass Österreicher reden.

Da ist dann statt von einem ›Backhendl‹ absurderweise von einem »Backhähnl« (S. 11) die Rede, später in anderem Zusammenhang noch von einem »Wäldel« (S. 13), und man sagt sogar: »Ja, gelten S‘, Freundin«. In diesem niedlichen Tonfall geht es immer weiter. Mit einem Wort: Mörike lässt die Mozarts wie Volldeppen klingen. Zum Beispiel das Personal bei Ludwig Ganghofer drückt sich ganz ähnlich aus: »Ja, Fräuln! Aber den Vater muß ich verentschuldigen, daß er heut nix anders hat als bloß a Bröserl Butter und a Töpferl Milli. Morgen bring ich schon werden was. Gelten S‘, ich därf morgen wiederkommen?«

Saukomisch aber ist es dann, wie Mörike im Text das Liedchen »Giovinette, che fatte all’amore« zitiert und in einer Fußnote die Stelle »La la la!« wie folgt ins Deutsche übersetzt: »Tra la la!« (S. 53) Als Vea Kaiser übrigens neulich ihren Roman »Blasmusikpop« publiziert hat, ist es auch Sigrid Löffler sauer aufgestoßen, dass der dort dargebotene »Kunst-Dialekt […] für Kenner des Österreichischen […] eher nach Wiener Unterschicht-Jargon als nach alpenländischer Mundart klingt«, und Frau Löffler verweist auch noch mal eindringlich auf das Faktum, dass man in Österreich nicht ›Hackfleisch‹ sagt, sondern ›Faschiertes‹.

Länge des Buches: ca. 128.000 Zeichen. – Ausgaben:

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Eine Novelle. Mit Illustrationen von Hugo Steiner-Prag und einem Nachwort von Traude Dienel. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1979. S. 7–107 (= 101 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. Mit 12 Illustrationen von Karin Rauhut. Rudolstadt: Greifenverlag, 4. Auflage 1984. S. 3–88 (= 86 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Novelle. Stuttgart: Reclam 1987. S. 1–75 (= 75 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. [Originalfassung Stuttgart und Augsburg 1856 in der Reihe »Bibliothek der Erstausgaben«.] Hrsg. von Joseph Kiermeier-Debre. München: dtv 1997. S. 5–88 (= 84 Textseiten).

Eduard Mörike: Mozart auf der Reise nach Prag. Mit einem Nachwort von Hugo Rokyta. Prag: Vitalis Verlag, 2. Auflage 2003. S. 5–101 (= 97 Textseiten).

(Einführung ins 100-Seiten-Projekt hier. Übersicht über alle Bände hier.)