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Der Silvestertaucher:
Zwischen den Jahren in den Feuilletons

Konstanz, 3. Januar 2008, 18:26 | von Marcuccio

Hatte ich mich eben noch geärgert, die Weihnachts-FAS samt Sibylle Bergs Artikel über St. Moritz beim Snowboarden ebenda verpasst zu haben, konnte ich nach der Beinahe-Begegnung mit Putin auf der Piste und Ahmadinejacket in der Loipe nur feststellen: Das war noch längst nicht die ganze Bescherung, im Gegenteil. Und deshalb ein kleiner Rückblick auf allerlei Feuilleton-Bräuche zum Jahreswechsel.

Malen nach Zahlen bei den Perlentauchers

Es war schon ein historischer Augenblick, als am 29. 12. die erste Perlentaucher-Presseschau mit Gemälde ans Netz ging. Ob sich der Perlentaucher für diese Aktion vom »Holy Family Set« (FAS vom 2. 12.) inspirieren ließ? Ob Thierry Chervel dieses eventuell sogar eigenhändig ausgemalt und eingesandt hat, um ein FAS-Jahresabo 2008 zu gewinnen und (unserem Pilotprojekt folgend) endlich den Sonntagstaucher zu starten? Wir können nur spekulieren und warten gespannt, was wird.

Bleigießen mit der S-Zeitung

Eher Konventionelles, nämlich eine bewährte Mischung aus Rückblick und Ausblick boten die »zehn Ideen, die uns bleiben« in der S-Zeitung vom 29. 12.: »Monopol« und »Monocle« wählten München zur City of the Year, der Klimawandel forderte ebenso seinen Tribut wie Damien Hirst sein Stück vom Diamantenschädel … Am Ende hätten wir uns das ziemlich genau so gedacht, aber na gut, wenn solche Trends auch nur einigermaßen repräsentativ sein sollen, bleiben sie für uns Halbwelt-Junkies notgedrungen im Rahmen des Erwarteten. Typisch nur, dass die S-Zeitung dann mal wieder übers Ziel hinausschießt und aus ihren zehn Ideen online gleich redundante 19 Vignetten macht – wieder eine ihrer berüchtigten »unsinnigen Klickstrecken«.

Chinaböller im »Spiegel«

Was man da mit der Silvester-Ausgabe als »KulturSpiegel« für Januar frei Haus bekam, war wirklich ein Rohrkrepierer: 16 Seiten Statements, »warum Künstler Olympia so lieben« – nein danke. Nachdem schon die gelben Spione so peinlich waren, muss man auf echte neue »Spiegel«-Kracher aus dem Reich der Mitte wohl weiterhin warten. Derweil lese ich doch lieber nochmal Ulrich Fichtners unvergessene Reportage über Shenzen: »Die Stadt der Mädchen« (6/2005).

Sündenablass bei der F-Zeitung

Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern: Am 28. 12. verpuffte die Meldung, dass der Tod eines Kritikers jetzt verjährt und Martin Walser Ein liebender Mann ist, der ab Februar in der F-Zeitung vorabgedruckt wird. Am 31. 12. folgte als Schirrmacher-Chefsache ein ganzes Schreibschulden-Register, in dem die Feuilletonredaktion Altlasten in eigener Sache abtrug. Und Gerhard Stadelmaier scheint in diesem Zusammenhang bekennen zu wollen: Verantwortlich für den sprichwörtlichen Tort eines Kritikers muss gar nicht immer ein Spiralblock, es kann auch der eigene Fingerknöchel sein.

Limonaden-Countdown im Deutschlandfunk

31. 12., 23:05 Uhr: Gepflegte Unterhaltung prickelt über den Äther, wenn sich zur letzten Radiostunde des Jahres die drei »Büchermarkt«-Redakteure Hajo Steinert, Hubert Winkels und Denis Scheck zusammensetzen, um bei einem Glas Limonade das literarische 2007 Revue passieren zu lassen. In munterer Silvesterlaune plaudert Denis Scheck dann auch schon mal ein Betriebsgeheimnis aus, so etwa ab Minute 4:27: »Also, ich darf der Wahrheit Ehre geben. Ich habe ganz sicher keine Limonade vor mir stehen.«

0:00 Uhr in der FAS: »Endlich Gegenwart!«

Das Jahresend-Spezial der FAS war eine exzellente Zündung, auf die Tel-Aviv-Koinzidenz hat Cobalt ja schon verwiesen. Ich ergänze an dieser Stelle weitere ungeahnte Korrespondenzen zwischen dem Umblätterer und der FAS (Fusionsgerüchte dementieren wir indes entschieden):

Johanna Adorján hat also auch eine Tagesschau-Tante, und um die herum entfaltet sie den herrlichen Beitrag »Mensch und Maschine: Moderne Kommunikation« (S. 29). Ein astreiner Epilog auf die Rituale einer letzten Generation ohne Google, Handy usw. Ganz nebenbei erweitert sich hiermit auch das von Paco ins Leben gerufene Rubrum Software & Erinnerung um die nicht unbedeutende Dimension der Hardware (Stichwort Wählscheibe).

Auf derselben Seite, links neben Adorján, serviert uns Nils Minkmar »Mensch und Margarine: Kapitalismus als Passion«. Ein schöner Review zum Lekr-Markt an der Ecke Hufeland-/Bötzowstraße in Berlin und nach dem (verpatzten) Auftakt durch Alexander Marguier das, wie ich meine, erste wahre Supermarkt-Feuilleton.

Das war sie denn auch schon fast, die feuilletonistische Bescherung zum Jahreswechsel. Folgt nur noch ein schöner Brauch: Unsere Bekanntgabe der Best of 2007.


Kommt jetzt Krauses Klartext-TV?

Konstanz, 29. November 2007, 16:50 | von Marcuccio

Viele haben drauf gewartet, letzten Samstag war es soweit: Tilman Krause (KA-Fragebogen) verkündete das Ende seiner Kolumne nach sieben Jahren.

Vielleicht zeigt der Niedergang des Klartext-Krause aber auch einfach nur die Transformation eines Genres an: Über Krauses weitere Karrierepläne als Videoblogger mochte die FAS letzten Sonntag zumindest schon mal randspaltenmäßig (S. 25) spekulieren.

Und dem Umblätterer wurde jetzt – sensationell – das schon drei Jahre alte Drehbuch für die erste Folge von »Krauses Klartext-TV« in die Hände gespielt:

Ina Hartwig:
Zuerst möchte ich Tilman Krause gerne widersprechen. Dieses Beschwören des Bildungsbürgertums, lieber Tilman, bringt uns gar nichts meiner Meinung nach. Tust du das nicht letztlich nur für dich selbst?

Tilman Krause:
Das tue ich für meine Leser!

Ina Hartwig:
Weil es deinen Lesern gefällt, wenn du es beschwörst!

Tilman Krause:
Natürlich! Das ist ja auch ihr gutes Recht. Ich arbeite nicht für eine linke Zeitung, sondern für eine bürgerliche. Das wäre ja noch schöner, wenn ich an den Interessen des Publikums vorbeischreiben würde, das tun schließlich schon genug andere Kollegen!

(Leipzig, am 24. März 2004, Podiumsdiskussion auf dem Symposium der Deutschen Literaturkonferenz zum Thema »Literaturkritik in der Krise?« Zitiert nach: Gunther Nickel: Kaufen! Statt lesen! Literaturkritik in der Krise? Göttingen: Wallstein 2005, S. 42 f.)


»Ganzkörperliteraturkritik«

Konstanz, 24. November 2007, 06:40 | von Marcuccio

Noch eine Abfallmeldung für alle: Da brachte das jahresendzeitliche Ausmisten alter »Park Avenues« (2005 ahnte man ja noch nichts von »Vanity Fair«) doch tatsächlich noch zutage, wie Willi Winkler aussieht: Es war die »PA«-Nullnummer vom Juli 2005, die auf S. 32 exakt dieses Foto abdruckte.

Das war natürlich nicht die einzige optische Erscheinung dieser Tage. Denn wenn zum Thema ›Autorenfoto‹ im weitesten Sinne auch die Sparte ›bewegtes Bild‹ gehören darf, dann war 2007 auch deshalb ein Jahr des Autorenfotos, weil es, dank WatchBerlin, erstes offizielles Watch-your-Feuilleton-Jahr wurde und gleich eine ganze Reihe von Leuten auf den PC-Schirm brachte, die man sich im GEZ-Fernsehen nur wünschen kann.

Volker Weidermanns Sendung »Book.Book« steht vielleicht exemplarisch für eine vlogmäßige Verlebendigung der Szene, an die noch vor einem Jahr kaum zu denken war. Ausgerechnet Weidermann, dem die FR mal das Schmäh-Label »Ganzkörperliteraturkritik« anheftete, macht jetzt unter demselben Motto ein richtig gutes Programm: Er läuft und sitzt und trifft, er begutachtet und besucht – und bietet das beste Feuilleton in bewegten Bildern seit Denis Schecks Rolltreppen-Performance der frühen »Druckfrisch«-Jahre.


Das Autorenfoto-Pingpong

Konstanz, 21. November 2007, 21:02 | von Marcuccio

Es ist Palmas Artikel des Jahres: ein Beitrag, der das Autorenfotojahr 2007 ihrer Meinung nach überhaupt erst einläutete, ein Gespräch aus der guten, alten »Zeit« (Nr. 4/2007), das im Neujahrskater des noch frischen Feuilletonjahres 2007 leicht übersehen worden sein könnte.

Da trafen sich mit Ursula März und Claudia Schmölders (»Hitlers Gesicht«) zwei ausgewiesene Feuilletonfrauen, breiteten stapelweise Verlagskataloge vor sich aus und unterhielten sich einfach mal über Autorenfotos, zum Beispiel über Peter Handke (hier Suhrkamp-PDF öffnen und auf S. 3 das Foto checken):

»Er ist im Profil zu sehen, ganz wichtig. Das ist schon georgemäßig.«

»Aber es gibt doch Dutzende Schriftsteller, die im Profil fotografiert wurden.«

»Ja, aber George wollte aussehen wie Dante. Die frühe Ikonografie von Fürsten war eine Profilikonografie […].«

Fast schon ein Autorenfoto-Pingpong, wie das auf Augenhöhe hin und her ging. Der Witz der ganzen Sache war, dass die Damen März und Schmölders in Wahrheit eine Art »Was bin ich?« mit Autorenfotos spielten:

»Auf welchem Bahnhof kommen wir denn mit diesem Foto an?« 

»Außerordentlich attraktiv, jung, leicht geöffneter Mund, mit Rückenlicht fotografiert, so dass die langen Haare besser zur Geltung kommt [sic!]. Undefinierbar zwischen Film und public life. […] Auf alle Fälle […] ein absoluter Ausweis des visuellen Zeitalters. Die Botschaft dieses Fotos lautet: Komm in meine Lesung. Lern mich leibhaftig kennen. Und das ist für die Literatur schon ein problematischer Aspekt. […] Die Botschaft des Bildes ist rein biologisch und kosmetisch. Das hat mit Text gar nichts zu tun.«

»… aber eben ganz viel mit Paratext«, flötet mir Palma, fast schon erregt, ins Ohr. Indes sinniere ich noch, wo & wann ich Marisha Pessl eigentlich zum ersten Mal ›begegnet‹ bin. Ich glaube, es war irgendwann im Frühling in der FAS: der wunderbare (wieder mal ein wunderbarer) Artikel von Johanna Adorján, der einerseits total auf Homestory machte und andererseits vermittelte, dass die literarische und visuelle Makellosigkeit dieser jungen Autorin der Gattung »American Streber« (Georg Diez) irgendwo auch ein Gefängnis sein muss.

Doch zurück zum »Zeit«-Gespräch, das eigentlich ein Wahnsinn war: Zum ersten Mal im deutschen Feuilleton (sagt Palma) wurde ein literarischer Bücherfrühling ausschließlich anhand der Optik seiner Autorinnen und Autoren besprochen. 

Und Palma hat Recht:

Ein solches Unterfangen, angesiedelt irgendwo zwischen Lavater und »Bunte«-Stylecheck, gehört hier schon allein deshalb nominiert, weil es ganz unmerklich eine Schallmauer durchbrach. Wo die Kritik heutzutage Debütantinnen fast schon prophylaktisch auf Fräuleinwunder-Fakes testet und auch so manches Debüt der männlichen Kollegen als Mogelpackung entlarvt, war ein klärendes Gespräch halt einfach mal überfällig. Hier wurde, als Plauderthema getarnt, ein Phänomen besprochen, ein latentes Dauerthema der letzten und nächsten Jahre, für das man noch gar keinen richtigen Namen hat.

Jedenfalls ist sich Palma ziemlich sicher: Für irgendjemanden da draußen war es bestimmt auch eine echte Steilvorlage, aus der früher oder später endlich das noch immer nicht geschriebene Standardwerk über das Autorenfoto enstehen kann. Palma wörtlich: »Mehr Zuspiel kann und mag man vom Feuilleton doch gar nicht erwarten.«


Das Jahr des Autorenfotos 2007

Konstanz, 20. November 2007, 18:58 | von Marcuccio

… geht mit Riesenschritten zu Ende und Palma meinte, wir müssen hier doch noch mal sagen, warum 2007 überhaupt ein Jahr des Autorenfotos ist:

Doch etwa nicht, weil Isolde Ohlbaum am 24. Oktober 60 wurde? Wir erinnern uns: Das ist die diensthabende deutsche Autorenporträt-Fotografin, die man allein schon deshalb kennen muss, weil ihre Arbeit für den deutschen Literaturbetrieb wohl niemals wieder so gewürdigt werden kann wie durch unseren Autorenfoto-Alleskönner Christian Kracht:

»Ich stelle meinem Verlag grundsätzlich nur Urlaubsfotos zur Verfügung. da sieht man gut aus, ist schlank, braun gebrannt. Und das kann Isolde Ohlbaum nicht leisten, wenn sie Schriftsteller mit Füllfederhalter im Mund vor dem Bücherregal fotografiert.«

Wir lasen es seinerzeit in der »Zeit« und rahmten es sofort fürs Umblätterer-All-Time-Archiv.

Ansonsten war 2007 vor allem deshalb ein Jahr des Autorenfotos, weil sich das Feuilleton seit langem überhaupt mal wieder auf ein Sujet besann, das für Palma »immer noch viel zu wenig auf der Tagesordnung der Kritik« ist. Es war die wunderbare »Suada« in der Buchmessen-FAS (S. 43), die daran erinnerte, dass

»[…] Schriftsteller Bücher schreiben und nicht als Fotomodell arbeiten; und es ist, mit der Rezeptionstheorie gesprochen, leider das Problem im Auge des Betrachters, dass immer mehr Verlage das andersrum sehen: kleines Buch, großer Kopf. Alleine die Programmhinweise aus dem geschätzten Hanser-Verlag sehen inzwischen erschreckender aus als Lavaters physiognomische Verbrechersammlung

Und weil es Volker Weidermann, dem mutmaßlichen Verfasser dieser Suada, ernst war, legte er etwas weiter hinten (S. 56) gleich noch »ein paar Worte zu den Autoren« bzw. den »Autorengesichtern« nach:

»Immer mehr Verlage werben mit immer größeren Fotos von Schriftstellern, die aussehen, als hätten sie keine Ahnung gehabt, dass an diesem Tag der Fotograf vorbeischauen würde. Erstaunte Gesichter mit abstehenden Haaren. Hände, die eben noch nach Kinn tasten, – ist es noch da? –, wie schön, dann kann ich mich ja daran festhalten. Das ist nicht gut.«

Bestimmt nicht, denn das wäre ja wieder ganz der Füllfederhalter vor dem Bücherregal (s. o.). Deshalb schnell weiter mit Weidermann:

»Für manche Bücher, die meisten, ehrlich gesagt, wäre es besser, man wüsste nicht, wie die Autoren aussehen. Für Autorinnen gilt das natürlich im gleichen Maße.«

Namen nannte Weidermann hier wohlweislich keine. Palma, klar, wüsste jetzt natürlich ganz viele. Erst mal aber findet sie: »Diese Suada, das war die astreine Paratext-Kritik

Und die sei bei dem ganzen Pimp-my-Book-Bohei der Autorenfotos dringlicher denn je. Deswegen will Palma ja auch unbedingt noch ihr »Autorenfoto-Pingpong« in mein Consortium einschleusen. Sie sagt übrigens wirklich immer »dein« Feuilleton-Consortium. Autorenfoto-Pingpong? Ich bin ja mal gespannt.


Das Gründungsdokument des deutschen Supermarkt-Feuilletons

Konstanz, 13. November 2007, 10:41 | von Marcuccio

Große Freude, als sich mit Alexander Marguier aus dem Gesellschafts-Ressort der FAS endlich mal jemand der deutschen Supermarkt-Misere annahm (»Restlos bedient«, FAS vom 9. 9., S. 57). Ist das jetzt vielleicht das Gründungsdokument des deutschen Supermarkt-Feuilletons, fragte ich mich, denn schon der erste Satz des Artikels sprach mir aus der Seele:

»Merkt das eigentlich keiner oder stört sich nur niemand daran?«

Und weiter:

»Nein, Lebensmittel einzukaufen, das macht in Deutschland oft überhaupt keinen Spaß – erst recht nicht, wenn man weiß, wie es anderswo zugeht.«

Anderswo, das ist für Marguier vor allem Fronkreisch mit seinen fußballfeldgroßen Hypermarchés à la Carrefour & Co. Und fast meint man die Diagnose herauszulesen, die Deutschen hätten zu kleine Supermärkte und zu wenige auf der grünen Wiese.

Egal, Marguier rankt Deutschland auf das Supermarkt-Niveau der Ukraine und denkt bei seinen Verbesserungsvorschlägen grundsätzlich schon in die richtige Richtung: Wo Waren ansprechender präsentiert werden, geben die Leute auch gerne mehr Geld für Lebensmittel aus, und das tun die Deutschen ja am wenigsten von allen Europäern. Soweit, so bekannt.

Nur, dass Marguier dann wirklich dieser Sprühkühlungsmär aufsitzt, setzt seine Supermarkt-Bonität schlagartig zurück auf Null. Denn gerade diese Nebelmaschine, die den Kunden taufrisches Gemüse simulieren soll, tropft doch die knackigsten Salatköpfe regelmäßig bis zur verlässlichen Innenfäule voll.

Sprühkühlungsanlagen sind deshalb, außer dass sie den Verkauf ankurbeln, ebenso gaga wie die irgendwie immer an Ferkelaufzuchtlaternen erinnernden Spotlights, die die Auslage in der bedienten Wursttheke weggrillen.

»Ich weiß, wovon ich spreche«, würde Denis Scheck an dieser Stelle sagen, und ich sage: Wer …

– in Grenznähe zu Swiss Quality »Migros« und »Coop« sozialisiert,

– in Lehr- und Wanderjahren von Leipziger »Spar«-Läden und Römischen »Standa«-Supermercati (von, nun ja, Berlusconi) kontaminiert

– und schließlich vom Tiroler »M-Preis« affiziert wurde,

… der glaubt eben irgendwann an die architektonische, ästhetische und hygienische Überlegenheit der Alpen-Supermärkte (vom Sortiment mal ganz zu schweigen).

Möglicherweise hängt der kultivierte alpennahe Supermarkt-Hochmut aber auch mit der gleichgearteten Wirtshausfrage zusammen, die Michel de Montaigne schon 1580 zugunsten der nördlichen Schweiz, Süddeutschlands und Tirols entschieden hat. Den wunderbaren Hinweis darauf lieferte letzthin Erwin Seitz in seiner Phänomenologie des gemeinen Gasthauses (Beisl, Beizli) in der F-Zeitung vom 20. 10. (Bilder und Zeiten, S. Z 3).

Gastro-Feuilleton ist eben super. Es braucht noch nicht einmal eine Gemüse-Befeuchtung und liest sich schon lecker.


»Autogeographie«

Konstanz, 12. November 2007, 16:05 | von Marcuccio

P. S. Ich bin Landkarten-Hardliner. Erdkunde zählte schon zu meinen Lieblingsfächern, als sie noch Heimat- und Sachkunde und nicht Google Earth hieß. Ich bin auch der Meinung, dass alle Nerv-Navis dieser Welt das bisschen Restgeografie, das wir in unseren Köpfen noch haben, zerstören.

Und natürlich, niemand will zurück zum Schmalkunde-Lehrer der Marke »Geo & Sport«. Aber wirklich verwunderlich, nein beängstigend war schon, dass Missing Montenegro niemandem auffiel, noch nicht mal den Kollegen vom Tagesschau-Blog.

Dabei waren doch gerade erst positive Anzeichen einer Re-Geografisierung unseres Kulturkreises zu spüren:

»Die Zeit« erfand mit ihrer Deutschlandkarte eines der innovativsten Formate des Jahres, die FR postete zur Einführung ihres neuen Formats eine Weltkarte des Tabloids, und der frauenlose deutsche Osten hätte wohl längst nicht so schöne Pointen abbekommen, wäre die Lila-Landkreis-Optik nicht überall präsent gewesen.

Schönes Erdkunde-Feuilleton war auch, als Claudius Seidl, bester Feuilleton- und Reise-Ressortleiter seiner Zunft, diese ganzen Burma-Birma-Myanmar-Toponyme der Nachrichtensprache aufspießte (FAS vom 30. 9., S. V 1). Und last but not least gab es da noch diese Thomas-Cook-FAS vom 23. 9., in der Jonas Siehoff (S. 71-73) eine Lanze für die Geografie als solche brach.

Nur die Karten-Redaktion der Tagesschau übte sich in ihrer »Autogeographie«. War das nicht eigentlich das Genre, das gerade in der F-Zeitung vorabgedruckt wird?


Missing Montenegro: Der Karten-GAU der Tagesschau

Konstanz, 11. November 2007, 20:35 | von Marcuccio

»Geografische Verwirrung« mailte mir der Perlentaucher im Subject seines Feuilleton-Newsletters vom Freitag – und ich musste sofort an den 14. Oktober denken. An diesem Tag war ich nämlich zum Tagesschau-Gucken bei meiner Tante im Taunus. Es kommt nicht oft vor, dass ich bei meiner Taunus-Tante zum Tagesschau-Gucken bin, aber wenn, dann immer gern.

Dazu muss man vielleicht wissen: Ich bin ein gebranntes Kind der Leipziger Sprecherziehung, und meine Tante ist Wortradio-Hörerin alter Schule. Aus dem Off ihres Landscape-Fernsehsessels lässt sie sich immer verlässlich, köstlich, despektierlich über die mangelhaften Sprechqualitäten im heutigen »Bildfunk« aus, namentlich die Tagesschau-Sprecher der jungen Generation. Tantchens Gnade findet einzig und allein Marc Bator.

Am 14. Oktober sprach aber nicht Marc Bator die 20-Uhr. Es war Jan Hofer, und er tat es als Chefsprecher soweit fehlerfrei. Doch dann passierte es: On air war gerade die Meldung, dass die serbische Regierung sich weiter gegen die EU-Pläne eines unabhängigen Kosovo sperre, da kam es zum kartografischen Super-GAU:

Die Serbien-Karte neben Jan Hofer zeigte zwar, korrekt, kein unabhängiges Kosovo, aber sie zeigte – Lapsus Maximus – eben auch kein unabhängiges Montenegro, sondern ein Großserbien, das sich bis ans adriatische Meer erstreckt.

Wahh! Aus lauter Scham für diesen Erdkäs rutschten meine Tante und ich fast aus den Sesseln, aber die Legende wies es wirklich aus: »Serbien« und nicht etwa wenigstens noch »Serbien & Montenegro« oder »Ex-Jugoslawien« oder so. Oder war das am Ende gar ein historischer Moment: Die öffentlich-rechtliche Annexion Montenegros zur Primetime, und live im ersten deutschen Fernsehen, haha.

Wie viele Redakteure arbeiten bei ARD-aktuell? 90? Hallo Deutschland, so können, dürfen deine »GEZGebührengelder« nicht vor die Hunde gehen.


+++ Unsere Exzellenz-Initiative zeigt Erfolge +++

Konstanz, 10. November 2007, 16:01 | von Marcuccio

Hatte der Umblätterer, ehrlichstes Consortium für die Transparenz der Exzellenz im deutschen Feuilleton, diesen Herbst möglicherweise ein paar Wünsche frei? Es gibt da ein paar handfeste Indizien:

1. Die Farbfolge im FAS-Feuilleton. Nach Stefan George in Sektenguru-Grau (FAS vom 8. 7.) und Oswald Spengler vor Abendland-Untergeher-Rot (FAS vom 19. 8.) kam es nun doch noch, wie von Dique gewünscht, zu Gómez Dávila und dem Feuilletonaufmacher in Grün. Zwar nicht in direkter Kombination, aber doch in ziemlich zeitnaher Abfolge: Kaum war Dávila undercover in der Buchmessen-FAS aufgetaucht (nämlich in Volker Weidermanns (?) »Suada« unter dem Strich), da folgte in der FAS vom 21. 10. der unübersehbare Hinweis, dass der globale Klimawandel die Halbwelt erreicht hat:

»Grüner wird’s nicht«

… titelte der Aufmacher, und mittendrin in einer grasgrün ausfransenden Zeitungsseite stand Ian McEwan in einem giftgrünen Hemd. Das Interview über grüne Moral in der Literatur gab dann naturgemäß (hehe) nicht mehr her, als wir seit Gudrun Pausewang (»Die Wolke«) auch schon wussten:

»Man kann einem Roman mit zu viel moralischer Intention alles Leben austreiben, jede Geschichte wird unter dieser Last kollabieren.«

2. Unangekündigtes Spoiling in Buchrezensionen, von Paco neulich noch im Gegenlicht der so ganz anderen Praxis bei den Serienjunkiez betrachtet, scheint seit dem 23. 10. erstmals auf dem Rückzug. Da las man in der F-Zeitung doch tatsächlich und buchbezogen: »(Achtung, Spoiler.)« Notabene: in der F-Zeitung, deren Fraktur-Freunde alter Schule womöglich noch nicht einmal wissen, was Spoiling überhaupt ist. Gefreut haben dürfte sich in jedem Fall unser Mitleser Dumbledore, gab sein Outing auf allen Kanälen doch überhaupt erst den Anlass.

3. Mit unserem Motto (Feuilleton fordern und fördern und dabei ackern wie ein Maulwurf) bleiben wir »dran!sparent«, wie sms schreiben würde. Und trotzdem sind die paar Sekunden Umblätterer bei Matussek natürlich kein Vergleich zu einem Migros-Kulturprozent-Award. Complimenti dazu, und weitere Erfolge unserer Exzellenzinitiative in der Themen-Subsparte ›Supermarkt‹ demnächst wieder hier.


Der Matussek hinter dem Matussek

Konstanz, 8. September 2007, 10:36 | von Marcuccio

Erst mal finde ich: Wo die »Spiegel«-Woche sich dem Ende zuneigt, sollten wir hier noch ein Zeichen setzen und die von der Bio-Welle überschwemmte, eigentliche Titelstory (»Romantik ist der erste Pop«) nominieren!

Und dann, Paco, Feuilletonator: Deine Sympathiemomente für Matti Matussek teile ich absolut! Er wird ja in Medienkreisen gern zur Hassfigur stilisiert, ich glaube auch Gehrs hat ihn als geistigen Urheber von Rebecca Casatis Second-Life-Story schon mal weggewischt – so nach dem Motto: Der steht sowieso für alles Seichte beim »Spiegel«.

Und genau das stimmt so nicht: Wie er Safranskis Romantik-Studie für den gemeinen »Spiegel«-Leser mit den Koordinaten des Pop nacherzählt (die Leutragasse von Jena als historischer Vorläufer der Kommune 1, Novalis als schwarzer Prinz des Pop usw.), das hat alles Hand und Fuß und Wert.

Wobei, und das werden die Matussek-Kritiker ihm natürlich wieder vorwerfen, nicht ganz rauskommt, ob das im Einzelfall jeweils Safranski- oder Matussek-Gedanken sind. Aber egal, mit all dem, und auch mit dem Matussek-Safranski-Interview (die besten Sätze hier noch mal per »sms«) war das doch eine wunderbare Romantik-Woche im deutschen Feuilleton.

Bei all dem muss ich zugeben: Traditionell bin (war?) ich kein Matussek-Möger. Aber man kann Matussek hinter dem Matussek bei rebell.tv als Sympathieoffensive begreifen. Allein der .ch-Tonfall von sms grundiert einfach mal eine grundsympathische Gesprächssituation und versetzt Matussek in eine schöne Plauderlaune mit interessanten Aussagen.

Insofern ist dieses »fideo« fast schon ein kleines landmark event meiner bisherigen Matussek-Rezeption. Schön auch, wie der »Rebell« den Matussek mit seinen eigenen Klischees konfrontiert (»Man munkelt, der unbeliebteste ›Spiegel‹-Mitarbeiter seien Sie« usw.) und wie dann erst mal prompt die Macho-Szene mit der Sekreteuse kommt.

Und interessant last but not least, wie es im »Spiegel«-Hochhaus zugeht: Dass die Dokumentation da ganz unten sitzt, passt irgendwie in mein Bild von der Augstein/Aust-Festung.