Werner Herzog, like James Earl Jones before him, could
read the phone book and bring down the house.
— The Guardian
»Was hast du am 11. September gemacht!« Das fragt schönerweise in Russland niemand. Das könnte hier auch kein Mensch mehr beantworten. Stattdessen wird gefragt, gerade in den letzten Tagen: »Was hast du am 19. August gemacht!«
Für 1991, für den Tag des großen dilettantischen Putsches, weiß ich das nicht mehr, aber für 2011 schon noch. Der Freitag beginnt für mich damit, dass ich den aktuellen SPIEGEL zuende lese. Und neben der ganzen FAZ-Verherrlichung hier soll die SPIEGEL-Verherrlichung nicht zu kurz kommen. Was für ein Glück, jede Woche diese süffigen Storys dieses durch Enzensberger’sches Sperrfeuer gegangenen besten Magazins der Welt lesen zu dürfen. Zum Beispiel den bisher besten Verriss des neuen Woody-Allen-Mistfilms »Midnight in Paris«, geschrieben von Georg Diez.
Gerade als ich den SPIEGEL ausgelesen habe, klingelt es an der Wohnungstür. Ein junger Mann wirbt für die baldige Eröffnung eines Gemischtwarenladens »ganz in der Nähe« und möchte aus diesem Anlass ein deutsches Messerset (6.000 Rubel), irgendwelches Hydrogel (100 Rubel) sowie Medizinbälle verkaufen. Wie er die Kartons mit den schweren Bällen hier allein hochgetragen hat, ist mir schleierhaft. Ich zeige mich interessiert und frage, wie der Laden heißt und wo genau er eröffnen wird, aber diese Fragen dürfe er noch nicht beantworten.
Ich gehe dann wie eigentlich jeden Tag hinüber in die Nationalbibliothek, um ein bisschen andere Sachen zu lesen. Ich bin sehr euphorisch, denn die dienstälteste Bibliothekarin im Lenin-Lesesaal hat bei der Buchherausgabe heute mal gelächelt, dezidiert gelächelt. Zur Mittagszeit bin ich zum Essen verabredet und mache mich auf den Weg zu einem georgischen Restaurant gleich hinter der Kasaner Kathedrale.
Anwesend ist zum Beispiel der Literaturkritiker einer russischen Wirtschaftszeitung (»immer 3.000 Zeichen pro Artikel«). Vor ihm steht ein Salzfass, das irgendwann mit lauter Plötzlichkeit umkippt und tot auf dem Tisch liegt. Alle haben erschrocken hingesehen, trotzdem vermute ich, während ich eine große Portion Plov verspeise, dass verschüttetes Salz vielleicht doch kein international anerkanntes schlechtes Omen ist. Vielleicht ist es ja in Russland wieder mal genau umgekehrt, keine Ahnung, aber siehe das Sprichwort »Что для русского хорошо, для немца смерть.« Denn der Literaturkritiker stellt das Fass wieder hin und wirft es dann absichtlich noch einmal um, und noch einmal und noch einmal. Alle sehen ihm immer weniger erschrocken dabei zu, und er kichert nur in sich hinein und murmelt Unverständliches.
Nach weiteren anderthalb Stunden oder so in der Bibliothek treffe ich an einem der Deschurnaja-Schalter einen Althebraisten, mit dem ich ins Gespräch komme, das wir auf dem teilweise identischen Nachhauseweg fortsetzen. Auf der Lomonossowbrücke trennen sich die Wege, aber wir bleiben dort noch ein paar Minuten stehen und erzählen weiter, und während dieser paar Minuten vergrößert sich unsere Unterhaltung um sechs bis acht Teilnehmer, allesamt Bekannte, die man auf der Lomonossowbrücke irgendwie ständig trifft (there is something about this place). Und dort wird auch für irgendein Festival geworben, das am Abend in der ›Taiga‹ stattfinde, so einem neuen Art Space am Newaufer, Nähe Eremitage.
Dort kreuze ich dann ein paar Stunden später auf und treffe als erstes den Franzosen wieder, der mich vor ein paar Tagen gefragt hatte, ob sie Raskolnikow am Ende noch drankriegen. Inzwischen habe er seine Lektüre von »Schuld und Sühne« beendet, und zwar zornig beendet, denn der Epilog sei ja wohl das Allerhinterletzte, völlig unnötig, schlecht geschrieben, wahrscheinlich gar nicht von Dostojewski selber. Ich pflichte ihm bei usw., und kurze Zeit später schon unterhalten wir uns aus mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen über die Kathedrale von Auxerre.
Dann wird zur Filmvorführung gerufen, es gibt Kurzfilme zu Umweltthematiken, also okay, als erstes einen Film namens »Plastic Bag«. Das Leben einer Plastiktüte wird nacherzählt, sie gelangt via Supermarkt in einen Haushalt, wird irgendwann weggeworfen und vom Wind durch alle möglichen Weltgegenden getragen, ohne zu sterben. Soweit die Botschaft dieses kurzen Films.
Was mich aber erst irritiert, dann sofort in den Bann schlägt, ist: die Stimme von Werner Herzog! Dieses ewige eindringliche Raunen, dieses sehr gewählte Vokabular, dieser Wille zu einem Englisch mit dezidiert deutsch-deutschem Akzent. Nach den letzten Wochen russischer Totalinvasion meines Hirns ganz unerwartet das. Die Stimme von Werner Herzog erinnert mich an eine Million Dinge gleichzeitig. Unter anderem daran, dass ich in Leipzig mal einen Werner-Herzog-Imitations-Wettbewerb gewonnen habe, mehr als drei Jahre ist das jetzt her.
Nach knapp 20 Minuten Filmdauer trete ich benommen wieder ans Licht und höre irgendjemanden über Petersburger Leitungswasser diskutieren (siehe das Sprichwort von vorhin) und rede dann mit einem der Editoren der Werke Dmitrij Prigows über die genaue Anzahl der von ihm verfassten Gedichte, es waren ja zwischen 35.000 und 36.000, aber eine genaue Zahl würde hier natürlich weiterhelfen.
Kurz nach 23 Uhr höre ich jemanden in einer slowenisch-russisch-französischen Diskussionsrunde zum ersten Mal das Wort ›Foucault‹ aussprechen. Ich habe in den letzten Tagen damit begonnen, eine Liste zu führen, auf der ich für den jeweiligen Tag dessen Ersterwähnungsuhrzeit verzeichne. Hier die Übersicht mit den Erstnennungsuhrzeiten des Namens ›Foucault‹ bis Freitag (Liste wird fortgesetzt):
Mo: 17:15 Uhr
Di: 21:36 Uhr
Mi: 15:50 Uhr
Do: (keine Erwähnung)
Fr: 23:03 Uhr
Etc. etc. etc. Ein paar Orte und Leute später finde ich mich in einer Wohnung am Zagorodny Prospekt wieder, wo ein paar Leute (ich nicht) zum Beispiel den Film »The Raspberry Reich« schauen und die ganze Zeit heftig lachen, während im selben Zimmer jemand am Klavier Beethoven spielt. Bei der Flucht in einen anderen Bereich der Wohnung bemerke ich im Flur zwei Medizinbälle sowie ein noch unausgepacktes Hydrogel.
Gegen acht Uhr morgens gehe ich kurz nach Hause in die Galerie, um ein paar alte Zeitungen zu holen, die mir eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts gestern überlassen hat, und mache mich dann sofort wieder auf den Weg zur Metro, denn ich habe beschlossen, der Einladung eines Opernsängers und seiner Frau auf ihre Datscha am Suvanto-See südlich der Mannerheim-Linie zu folgen.
Ich fahre bis Devyatkino, wo ich in die Elektritschka Richtung Norden umsteige. Ich setze mich zwischen lauter dösende Russen und schlage die Zeitung auf und entdecke sehr ungläubig Schirrmachers ein paar Tage vorher erschienenen FAS-Großtext »Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat«, den ich dann sehr angelegentlich lese.