»24h Berlin« – Logdatei
Paris, 21. September 2009, 13:15 | von Paco»24h Berlin«, gedreht am 5. September 2008, zwischen 6 Uhr früh und 6 Uhr früh (Umbl berichtete). Gesendet genau ein Jahr danach (ARTE, rbb). Das nicht hineingeschnittene Material der 80 Kamerateams, über 700 Stunden, geht an die Deutsche Kinemathek. Insgesamt ein leicht größenwahnsinniges, am Ende trotzdem irgendwie gelungenes Projekt, das in 80 Jahren sicher KultTM sein wird, so wie heute der Amateurfilm »Menschen am Sonntag«.
Ein allerdings schlimmes Makel dieser 24 Filmstunden sind die seifigen Off-Texte, die manchmal schwer auszuhalten sind. Wer spricht da, wer klotzt da seine ewigen Weisheiten raus? Die Texte sind ein sehr oft missglückter Mix aus Lexikonbrei, ambitionierter Lakonie, T-Shirt-Parole, steriler Pointe und einer Prise »leider kein Einzelfall«. Beispiele folgen in den hier geloggten Passagen:
Guttenberg nach dem Interview über die McCain-Nominierung: »Hat der Starbucks schon offen, ey!« (6:12)
Thomas de Maizière (am Telefon): »Und Afghanistan-Konzept is okay?« (7:39)
Information zur halben Stunde: Jeden Tag sterben in Berlin 84 Menschen (9:30).
Daniel Barenboim mit einer Havanna im Auto auf dem Weg zur Staatsoper, zitiert Churchill über den Sport (10:02).
Ständig taucht Oliver Gehrs in den Zwischentiteln auf, ein Porträt mit Motorradhelm, er wird aber leider nicht als Protagonist gefeaturt.
Werner Sonne bereitet im ARD-Hauptstadtstudio einen Nachruf auf Helmut Schmidt vor, 10:43.
Diese ewige Infodrescherei: In Berlin leben 3,4 Mio. Menschen bei 6 Mio. Ratten (11:00).
Der France-2-Korrespondent versucht Erich/Eric/Erisch (Honecker) richtig auszusprechen (11:14), er will sich dessen Atombunker ansehen, der demnächst versiegelt wird.
Die Kammerjäger stoßen bei der Suche nach einem Geruchsherd auf einen Erhängten im Heizungsraum, kurzer Schreck um 12:06.
Off-Text zum Weghören: »Über Berlin kamen der Döner Kebab und die Currywurst nach Deutschland. Wie jedes Nahrungsmittel werden sie zu Brei zerkaut und wandern durch die Speiseröhre hinab in den Magen.« (12:37)
»Im wuuunderschööönen Monat Maiii, …« – Barenboim am Piano, Villazón singt, 13:35.
Off-Text: »Im Zug finden über 300 Menschen Platz. Jeder von ihnen ist zusammengesetzt aus 65 Prozent Sauerstoff, 18 Prozent Kohlenstoff, 10 Prozent Wasserstoff, 3 Prozent Stickstoff, 1,5 Prozent Kalzium und einem Prozent Phosphor. Über den Sitz der Seele und ihre Zusammensetzung ist nichts bekannt.« (14:23) Äh, aha?
Leslie Bomba im Callcenter, zum x-ten Mal: »Ham‘ Sie schon mal über ’ne Zahnzusatzversicherung nachgedacht?« (15:36)
Beim Schamanen (16:33): »Element Erde im Norden, ich bitte dich um Unterstützung bei dieser Reinigung.« – »Die Ausbildung zum Schamanen kostete ihn 250 Euro im Monat.« (16:44)
Galerie Eigen+Art, 16:56, neue Werke von Uwe Kowski werden ausgestellt.
18:22 beim Holocaust-Denkmal, 18:24 Speed Dating in Charlottenburg, 18:30 landet in Tegel »das erste Flugzeug direkt aus Peking«, 18:59 Abendgebet des heroinsüchtigen Mario Krüger.
Raunender Off-Text, anlässlich der Ruinen des Palastes der Republik: »Geschichte steht nicht still. Sie ist ein blutiges Spiel. Wem sie einst wohlgesonnen war, den lässt sie heute fallen.« (20:08) Tendenziell ein T-Shirt-Text ambitionierter Abiturienten.
Weitere Off-Text-Banalität: »Die Presse berichtet über den amerikanischen Wahlkampf. John McCain oder Barack Obama. Beide hoffen auf den Sieg, aber nur einer wird gewinnen.«
Sehr geil, wie die Callcenterin Leslia Bomba erzählt, dass sie mal 5 Stunden mit ihrem Freund (genau:) telefoniert hat, bis er dann endlich ihr Freund wurde (21:24).
Regionalzeitungsprosa aus dem Off: »21:36 Uhr, in 24 Minuten wird das Pergamonmuseum geschlossen, dann geht das Licht aus über den Schätzen des Altertums.«
Die Galerie Eigen+Art schließt (21:45), alle gehen essen.
Um 21:59 kommt endlich heraus, warum der Tegel-Protagonist lebenslänglich einsitzt: Er hat eine Bekannte erwürgt (die Herauszögerung dieser Info über mehrere Stunden ist eines der wenigen dramaturgischen Elemente).
Die Sufis im Wedding schaukeln sich in Trance, 22:58. Gloria Viagra ist fast fertig verwandelt für seinen Auftritt, 22:59. »Jeder siebte Berliner ist dem gleichen Geschlecht zugeneigt.« (23:35) Der Taxifahrer nimmt einen Bundeswehrkoch mit, 00:10. Aus dem Off wird Goethes »Ein Gleiches« zitiert, um 00:23, warum auch immer, irgendwelches Vanitas-Zeugs halt, darauf ist ja das ganze Projekt getrimmt.
Paul van Dyk spricht über Sushi, 00:42. PvD viel angenehmer, sympathischer, klüger als Ricardo Villalobos.
Um 01:00 ein Spezial von Rosa von Praunheim, bis 01:06. Prank Call bei der Telefonseelsorgerin, 02:11. Ali Haydar und seine Kumpels streichen schon die Segel, um 3 ist er zu Hause. Ziemliche Material-Durststrecke, minutenlange Schreie aus einem Geburtszimmer, langatmige Straßenszenen.
Um 05:42 wird es schon wieder hell. Eigen+Art-Lybke nimmt um 05:49 den Zug zurück nach Leipzig.
In der letzten Stunde werden sonst vor allem die ausführlichen Credits gebracht, dürfte einer der längsten Abspänne der Filmgeschichte sein, also wenigstens noch ein Superlativ.
(Alle hier weggelassenen Sachen stehen in der Kritik von Christiane Peitz, Tagesspiegel vom 2. 9. 2009.)
Am 21. September 2009 um 13:26 Uhr
Ich stimme in allem uneingeschränkt zu, und verneige mich auf der Eben der ersten Ableitung sofort vor dem Satz “Abendgebet des heroinsüchtigen Mario Krüger”.
Am 21. September 2009 um 13:30 Uhr
Ach so, kein Wort über Kai Dieckmann? Sehr schön und völlig eklig zugleich nämlich, wie er unseren sonst so ausgebufften Dokumentarfilmer Andres Veiel zurückgefilmt und –interviewt hat mit seinem Mobiltelefon, und wie dieser sich sofort als Schulbub in meiner Wahrnehmung wiederfand.
Am 21. September 2009 um 13:40 Uhr
diekmann ganz ok, aber andres veiel kam dabei wirklich eher mittelungut rüber, ›schulbub‹ trifft es erst mal ganz gut. keine ahnung, was das für die internationale veiel-rezeption zu bedeuten hat.